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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Lprisches in Shakespeare.

zweck seiner Schrift bezeichnet, dein Dichter, der nach einem Ausspruche Schillers
sich selbst so schwer fassen lasse, so selten oder nie selbst Rede stehe, in die ver¬
borgensten Falten seines Herzens zu sehen, was mir in dem lyrischen Theile
seiner Dichtungen möglich sei, so werden sich hierzu seine Dramen noch immer
mit größerer Sicherheit als seine übrigen Werke, ja selbst als seine Sonette,
darbieten, da er nur in ihnen ganz frei aus seinem Innersten schrieb, wem? auch
nicht zu dem Zwecke, sich selbst unmittelbar darzustellen.

Es ist zwar gewiß, daß Shakespeare in seiner eignen Zeit lange fast mehr
als episch-lyrischer, denn als dramatischer Dichter geschätzt wurde. Dies hing
jedoch mit den Anschauungen des damals noch von den Gelehrten beherrschten
Geschmacks zusammen, welche uur die gelehrte, vom Alterthum oder der Re-
naissance beeinflußte Dichtung als solche anerkannten, den für die nationale
Volksbühne, in deren Geist und Geschmack dichtenden ?1^-vri^tre aber, ein so
großer Dichter er immer auch sein mochte, meist davon ausschlossen.

Mit Recht bezeichnet Stencrwald Shakespeare als einen durch die Schule
des Romanischen hindurch gegangenen germanischen Dichter. Auch mag es zu¬
treffen, wenn er behauptet, daß dieser Weg zu seinein Heile von ihm genommen,
daß "dem mächtigen Zuge dieses Genius nach Freiheit und Ungebundenheit in
der strengen Gesetzmäßigkeit der Form ein heilsames Gegengewicht geboten, und
indem so die Formgesetze zum Zuchtmeister des wahren Künstlers in ihm wurden,
so zur Freiheit auch noch das Maß gesellt worden sei." Nur wolle man dies
nicht in dem Sinne verstehen, als ob Shakespeare sich früher zum romanischen
Dichter ausgebildet habe, als der germanische in ihm sich entwickelt hatte, und
dieser nur ganz allmählich sich von den Fesseln des erstem befreit habe.

Zwar werden die offenbar nach romanischen Vorbildern geschriebenen
Dichtungen "Venus und Adonis" und "Lucrezia" zu deu Jugendwcrkeu
Shakespeares gezählt, so wie die noch am meisten unter classischem und italie¬
nischem Einflüsse geschriebenen Lustspiele "Verlorne Liebesmüh," "Die Komödie
der Irrungen" und "Die beiden Edelleute von Verona" Wohl ebenfalls zu den
frühern der uns von ihm bekannt gewordenen Dramen gehören. Bezeichnet er
doch in der Widmung an den Grafen Southampto" "Venus und Adonis" sogar
selbst als los llrst llsir ol' Iris invention, womit freilich uoch uicht gesagt zu
sein braucht, daß es die erste Dichtung sei, die er geschrieben, sondern vielleicht
nur die erste, welche der Ehre der Veröffentlichung durch deu Druck und der
noch größeren theilhaftig wurde, einem Manne von der ausgezeichneten Lebens¬
stellung des Grafen gewidmet werden zu dürfen. Denn mehr als wahrscheinlich
ist es doch, daß "Titus Andronicus" und "Heinrich VI.," die sich so ganz an
die Muster der alten Volksbühne anlehnen, früher als all die genannten
Dichtungen entstanden sind; daß "Romeo und Julia," welches sich in Stil und
Ausdruck schon so eng an die Werke der Blüthezeit des Dichters anschließt, in
welchem aber gleichwohl der Einfluß der italienischen Renaissance noch sehr


Grenzboten IV. 1881. 82
Lprisches in Shakespeare.

zweck seiner Schrift bezeichnet, dein Dichter, der nach einem Ausspruche Schillers
sich selbst so schwer fassen lasse, so selten oder nie selbst Rede stehe, in die ver¬
borgensten Falten seines Herzens zu sehen, was mir in dem lyrischen Theile
seiner Dichtungen möglich sei, so werden sich hierzu seine Dramen noch immer
mit größerer Sicherheit als seine übrigen Werke, ja selbst als seine Sonette,
darbieten, da er nur in ihnen ganz frei aus seinem Innersten schrieb, wem? auch
nicht zu dem Zwecke, sich selbst unmittelbar darzustellen.

Es ist zwar gewiß, daß Shakespeare in seiner eignen Zeit lange fast mehr
als episch-lyrischer, denn als dramatischer Dichter geschätzt wurde. Dies hing
jedoch mit den Anschauungen des damals noch von den Gelehrten beherrschten
Geschmacks zusammen, welche uur die gelehrte, vom Alterthum oder der Re-
naissance beeinflußte Dichtung als solche anerkannten, den für die nationale
Volksbühne, in deren Geist und Geschmack dichtenden ?1^-vri^tre aber, ein so
großer Dichter er immer auch sein mochte, meist davon ausschlossen.

Mit Recht bezeichnet Stencrwald Shakespeare als einen durch die Schule
des Romanischen hindurch gegangenen germanischen Dichter. Auch mag es zu¬
treffen, wenn er behauptet, daß dieser Weg zu seinein Heile von ihm genommen,
daß „dem mächtigen Zuge dieses Genius nach Freiheit und Ungebundenheit in
der strengen Gesetzmäßigkeit der Form ein heilsames Gegengewicht geboten, und
indem so die Formgesetze zum Zuchtmeister des wahren Künstlers in ihm wurden,
so zur Freiheit auch noch das Maß gesellt worden sei." Nur wolle man dies
nicht in dem Sinne verstehen, als ob Shakespeare sich früher zum romanischen
Dichter ausgebildet habe, als der germanische in ihm sich entwickelt hatte, und
dieser nur ganz allmählich sich von den Fesseln des erstem befreit habe.

Zwar werden die offenbar nach romanischen Vorbildern geschriebenen
Dichtungen „Venus und Adonis" und „Lucrezia" zu deu Jugendwcrkeu
Shakespeares gezählt, so wie die noch am meisten unter classischem und italie¬
nischem Einflüsse geschriebenen Lustspiele „Verlorne Liebesmüh," „Die Komödie
der Irrungen" und „Die beiden Edelleute von Verona" Wohl ebenfalls zu den
frühern der uns von ihm bekannt gewordenen Dramen gehören. Bezeichnet er
doch in der Widmung an den Grafen Southampto» „Venus und Adonis" sogar
selbst als los llrst llsir ol' Iris invention, womit freilich uoch uicht gesagt zu
sein braucht, daß es die erste Dichtung sei, die er geschrieben, sondern vielleicht
nur die erste, welche der Ehre der Veröffentlichung durch deu Druck und der
noch größeren theilhaftig wurde, einem Manne von der ausgezeichneten Lebens¬
stellung des Grafen gewidmet werden zu dürfen. Denn mehr als wahrscheinlich
ist es doch, daß „Titus Andronicus" und „Heinrich VI.," die sich so ganz an
die Muster der alten Volksbühne anlehnen, früher als all die genannten
Dichtungen entstanden sind; daß „Romeo und Julia," welches sich in Stil und
Ausdruck schon so eng an die Werke der Blüthezeit des Dichters anschließt, in
welchem aber gleichwohl der Einfluß der italienischen Renaissance noch sehr


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[0251] Lprisches in Shakespeare. zweck seiner Schrift bezeichnet, dein Dichter, der nach einem Ausspruche Schillers sich selbst so schwer fassen lasse, so selten oder nie selbst Rede stehe, in die ver¬ borgensten Falten seines Herzens zu sehen, was mir in dem lyrischen Theile seiner Dichtungen möglich sei, so werden sich hierzu seine Dramen noch immer mit größerer Sicherheit als seine übrigen Werke, ja selbst als seine Sonette, darbieten, da er nur in ihnen ganz frei aus seinem Innersten schrieb, wem? auch nicht zu dem Zwecke, sich selbst unmittelbar darzustellen. Es ist zwar gewiß, daß Shakespeare in seiner eignen Zeit lange fast mehr als episch-lyrischer, denn als dramatischer Dichter geschätzt wurde. Dies hing jedoch mit den Anschauungen des damals noch von den Gelehrten beherrschten Geschmacks zusammen, welche uur die gelehrte, vom Alterthum oder der Re- naissance beeinflußte Dichtung als solche anerkannten, den für die nationale Volksbühne, in deren Geist und Geschmack dichtenden ?1^-vri^tre aber, ein so großer Dichter er immer auch sein mochte, meist davon ausschlossen. Mit Recht bezeichnet Stencrwald Shakespeare als einen durch die Schule des Romanischen hindurch gegangenen germanischen Dichter. Auch mag es zu¬ treffen, wenn er behauptet, daß dieser Weg zu seinein Heile von ihm genommen, daß „dem mächtigen Zuge dieses Genius nach Freiheit und Ungebundenheit in der strengen Gesetzmäßigkeit der Form ein heilsames Gegengewicht geboten, und indem so die Formgesetze zum Zuchtmeister des wahren Künstlers in ihm wurden, so zur Freiheit auch noch das Maß gesellt worden sei." Nur wolle man dies nicht in dem Sinne verstehen, als ob Shakespeare sich früher zum romanischen Dichter ausgebildet habe, als der germanische in ihm sich entwickelt hatte, und dieser nur ganz allmählich sich von den Fesseln des erstem befreit habe. Zwar werden die offenbar nach romanischen Vorbildern geschriebenen Dichtungen „Venus und Adonis" und „Lucrezia" zu deu Jugendwcrkeu Shakespeares gezählt, so wie die noch am meisten unter classischem und italie¬ nischem Einflüsse geschriebenen Lustspiele „Verlorne Liebesmüh," „Die Komödie der Irrungen" und „Die beiden Edelleute von Verona" Wohl ebenfalls zu den frühern der uns von ihm bekannt gewordenen Dramen gehören. Bezeichnet er doch in der Widmung an den Grafen Southampto» „Venus und Adonis" sogar selbst als los llrst llsir ol' Iris invention, womit freilich uoch uicht gesagt zu sein braucht, daß es die erste Dichtung sei, die er geschrieben, sondern vielleicht nur die erste, welche der Ehre der Veröffentlichung durch deu Druck und der noch größeren theilhaftig wurde, einem Manne von der ausgezeichneten Lebens¬ stellung des Grafen gewidmet werden zu dürfen. Denn mehr als wahrscheinlich ist es doch, daß „Titus Andronicus" und „Heinrich VI.," die sich so ganz an die Muster der alten Volksbühne anlehnen, früher als all die genannten Dichtungen entstanden sind; daß „Romeo und Julia," welches sich in Stil und Ausdruck schon so eng an die Werke der Blüthezeit des Dichters anschließt, in welchem aber gleichwohl der Einfluß der italienischen Renaissance noch sehr Grenzboten IV. 1881. 82

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/251>, abgerufen am 13.05.2024.