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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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nothwendig und vorausgesetzt sei. Freilich muß es sofort auffallen, daß ein
eifriger Anhänger der exacten Beobachtung und der wissenschaftlichen Analyse
wie er, der beide zur Grundlage der ganzen Poesie machen will, so blind gegen
die tiefen und charakteristischen Unterschiede der verschiedenen Hauptdichtungs¬
formen sein kann. Er wird doch nicht läugnen wollen, daß es zur Poesie über¬
haupt einer besondern und zwar einer andern Begabung als zu den verschiednen
übrigen Künsten bedarf. Ein bloßer Blick auf die Geschichte hätte ihn aber
auch noch lehren können, daß die Fähigkeiten zur lyrischen, epischen oder dra¬
matischen Poesie uicht immer in gleicher Stärke mit der allgemeinen poetischen
Begabung der einzelnen Dichter verbunden sind. Auch übertreibt er jedenfalls
die von ihm behauptete herrschende Meinung von der Abgeschlossenheit der Ein¬
richtung des Theaters und ist auch hier blind gegen die Berechtigung bestimmter
aus dem Begriff der Bühne und des Dramas abzuleitenden Forderungen.
Andrerseits aber hat er vollkommen Recht, gegen den Mißbrauch, welchen das
Theater und die Kritik von dem Begriffe des Bühnengemäßen macht, mit Ent¬
schiedenheit aufzutreten. Es läßt sich leicht nachweisen, daß man unter den so¬
genannten Bühnentalenten meist solche Dichter versteht, die nicht nur jeder tiefern
poetischen Anlage und Auffassung bar sind, sondern auch meist eine sehr ge¬
ringe Einsicht in das Wesen des Dramatischen und seiner Forderungen ver¬
rathen und die dramatische Production mit der größten Leichtfertigkeit als eine
bloße theatralische Speculation betreiben. Im Grunde versteht man unter dem
Bühnentalente nichts als die Fähigkeit und das Verständniß, die Täuschungen
der Bühne routinirt zu benutzen, um, nicht immer auf feine, sondern oft auf
sehr plumpe Weise, eine gewisse Anziehungskraft auf die Menge auszuüben. Man
geht dabei, wie es scheint, von der irrigen Meinung ans, daß, weil die Bühne
es immer nur mit der Darstellung eines Scheins zu thun hat, ihre Kunst auch
nur auf Täuschung beruhe und in dieser bestehe. Will aber die Kunst wirklich
täuschen? Sie will durch die Sinne auf den Geist wirken, indem sie etwas
Geistiges zur sinnlichen Anschauung bringt, daher sie sich auch nur an die beiden
geistigen Sinne, Gesicht und Gehör, wenden soll und wenden kann. Selbst noch
von den indirecten Wirkungen auf die übrigen Sinne soll sie soviel als möglich
absehen, jedenfalls aber müssen sie den directen Wirkungen auf den Geist überall
untergeordnet bleiben. Dies bedingt schon allein, daß, wenn es die Kunst auch
uicht aus andern Gründen zu thun gehalten wäre, sie von der Darstellung der
vollen Wirklichkeit in bestimmter Weise absehen muß. Sie macht hierbei nicht
aus der Noth eine Tugend, sondern die Noth oder Nöthigung erleichtert ihr
nur hier die Tugend. Auf der Verschiedenheit jener Abstraction von der Wirk¬
lichkeit beruht die Verschiedenheit der Künste und ihrer Wirkungen sogar wesentlich
mit, und der geringere Grad dieser Abstraction giebt keiner einen höhern Rang.
Der Realität des Gegenstandes gegenüber handelt es sich bei der künstlerischen
Darstellung derselben also wirklich immer mehr oder weniger nur um den Schein.


'Zola und der Naturalismus auf dem Theater.

nothwendig und vorausgesetzt sei. Freilich muß es sofort auffallen, daß ein
eifriger Anhänger der exacten Beobachtung und der wissenschaftlichen Analyse
wie er, der beide zur Grundlage der ganzen Poesie machen will, so blind gegen
die tiefen und charakteristischen Unterschiede der verschiedenen Hauptdichtungs¬
formen sein kann. Er wird doch nicht läugnen wollen, daß es zur Poesie über¬
haupt einer besondern und zwar einer andern Begabung als zu den verschiednen
übrigen Künsten bedarf. Ein bloßer Blick auf die Geschichte hätte ihn aber
auch noch lehren können, daß die Fähigkeiten zur lyrischen, epischen oder dra¬
matischen Poesie uicht immer in gleicher Stärke mit der allgemeinen poetischen
Begabung der einzelnen Dichter verbunden sind. Auch übertreibt er jedenfalls
die von ihm behauptete herrschende Meinung von der Abgeschlossenheit der Ein¬
richtung des Theaters und ist auch hier blind gegen die Berechtigung bestimmter
aus dem Begriff der Bühne und des Dramas abzuleitenden Forderungen.
Andrerseits aber hat er vollkommen Recht, gegen den Mißbrauch, welchen das
Theater und die Kritik von dem Begriffe des Bühnengemäßen macht, mit Ent¬
schiedenheit aufzutreten. Es läßt sich leicht nachweisen, daß man unter den so¬
genannten Bühnentalenten meist solche Dichter versteht, die nicht nur jeder tiefern
poetischen Anlage und Auffassung bar sind, sondern auch meist eine sehr ge¬
ringe Einsicht in das Wesen des Dramatischen und seiner Forderungen ver¬
rathen und die dramatische Production mit der größten Leichtfertigkeit als eine
bloße theatralische Speculation betreiben. Im Grunde versteht man unter dem
Bühnentalente nichts als die Fähigkeit und das Verständniß, die Täuschungen
der Bühne routinirt zu benutzen, um, nicht immer auf feine, sondern oft auf
sehr plumpe Weise, eine gewisse Anziehungskraft auf die Menge auszuüben. Man
geht dabei, wie es scheint, von der irrigen Meinung ans, daß, weil die Bühne
es immer nur mit der Darstellung eines Scheins zu thun hat, ihre Kunst auch
nur auf Täuschung beruhe und in dieser bestehe. Will aber die Kunst wirklich
täuschen? Sie will durch die Sinne auf den Geist wirken, indem sie etwas
Geistiges zur sinnlichen Anschauung bringt, daher sie sich auch nur an die beiden
geistigen Sinne, Gesicht und Gehör, wenden soll und wenden kann. Selbst noch
von den indirecten Wirkungen auf die übrigen Sinne soll sie soviel als möglich
absehen, jedenfalls aber müssen sie den directen Wirkungen auf den Geist überall
untergeordnet bleiben. Dies bedingt schon allein, daß, wenn es die Kunst auch
uicht aus andern Gründen zu thun gehalten wäre, sie von der Darstellung der
vollen Wirklichkeit in bestimmter Weise absehen muß. Sie macht hierbei nicht
aus der Noth eine Tugend, sondern die Noth oder Nöthigung erleichtert ihr
nur hier die Tugend. Auf der Verschiedenheit jener Abstraction von der Wirk¬
lichkeit beruht die Verschiedenheit der Künste und ihrer Wirkungen sogar wesentlich
mit, und der geringere Grad dieser Abstraction giebt keiner einen höhern Rang.
Der Realität des Gegenstandes gegenüber handelt es sich bei der künstlerischen
Darstellung derselben also wirklich immer mehr oder weniger nur um den Schein.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/297>, abgerufen am 14.05.2024.