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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Zola und der Naturalismus auf dem Theater,

fallen zu können, wenn er die Studien von einem Individuum auf das andre
oder die an verschiednen Individuen über eiuen Seelenzustand, eine Leidenschaft,
eine Krankheit gemachten Erfahrungen auf ein einziges überträgt? Es ist min¬
destens eine Selbsttäuschung, wenn Zola erklärt, die naturalistische Dichtung
werde und könne nichts als die lautere Naturwahrheit geben, die Phantasie und
Subjectivitüt des Dichters könne und werde völlig davon ausgeschlossen bleiben.
Es ist mindestens eine Selbsttäuschung, wenn er der Naturwahrheit, die, was
die Erscheinung betrifft, immer nur eine relative und subjective Bedeutung haben
kann, einen absoluten und rein objectiven Werth beimißt -- eine Selbsttäuschung,
die aber für andre zur Täuschung werden und umsomehr einen Schwindel
erzeugen kann, als sie dein Mißbrauch außerordentlich ausgesetzt ist. Oder ist
es kein Mißbrauch der Kunst, wenn sie sich's vorzugsweise zur Aufgabe macht,
nur das menschliche Elend, die menschliche Schmach, die menschliche Verworfen¬
heit in ihrer ganzen Blöße aufzudecken und hierdurch die Phantasie unsrer Jugend,
unsrer Frauen vergiftet? Wohl rühmt sie sich eines moralischen Zwecks damit,
ich aber glaube, daß es die Menschheit nicht fördern heißt, sie mit dem Laster
und der Schmach also vertraut zu machen. Diesem Spiegel des Lebens gegen¬
über wird sich mich der schon gesunkene noch für leidlich tugendhaft halten und
in seiner leichtfertigen Moral noch bestärkt werden, umsomehr, als, wie schon
Aristoteles zeigte, das Häßliche in der Abbildung einen Theil des Widerlicher,
Ekelhaften verliert, das es in Wirklichkeit hat. und die künstlerische Geschick-
lichkeit ihm sogar noch einen unheimlichen Reiz zu verleihen vermag. Die Kunst
würde auf diese Weise ihres vornehmsten Zweckes verloren gehen, die Phantasie
des Menschen, diese in allem Guten und Bösen so gewaltige Macht, die unserm
Willen zwar nicht völlig, aber doch seinem unmittelbaren Einfluß entzogen ist,
zu entwickeln, zu läutern und zu veredeln.

Haben wir darum den Naturalismus, die Lehre Zolas, ganz und unbe¬
dingt zu verwerfen? Ich glcinbe das nicht. Es liegt ihr gleichwohl eine, wenn
auch nur beschränkte Wahrheit zu Grunde. Sie ist nicht nur die Consequenz
der materialistischen Weltansicht, nicht bloß eine ästhetische Verirrung, sie ist
auch zugleich die natürliche Reaction, welche durch die Lüge, den hohlen Con¬
ventionalismus, die sinnlose Mechanik, die eitle Prunksucht, der die Bühne in
den letzten Zeiten immer mehr verfallen ist, herausgefordert worden ist. Gewiß,
die Wahrheit thut dieser letztern in mehr als einem Sinne noth, aber nicht nur
die Wahrheit der Natur und der Wirklichkeit, obschon man diese in der That
mit weit größerer Sorgfalt studiren und mit noch ungleich größerem Fleiß und
größerer Gewissenhaftigkeit nachahmen sollte, sondern die Wahrheit der Ideale.
Wenn den Naturalisten wirklich, wie Zola träumt, die Bühne der Zukunft ge¬
hört, so ist niemand mehr als diejenigen schuld, die sich heute auf ihr für
Idealisten ausgeben. Es sind nicht die Ideale Schillers, Goethes und Shake¬
speares, es sind keine wahren, lebendigen Ideale, von denen die meisten von


Zola und der Naturalismus auf dem Theater,

fallen zu können, wenn er die Studien von einem Individuum auf das andre
oder die an verschiednen Individuen über eiuen Seelenzustand, eine Leidenschaft,
eine Krankheit gemachten Erfahrungen auf ein einziges überträgt? Es ist min¬
destens eine Selbsttäuschung, wenn Zola erklärt, die naturalistische Dichtung
werde und könne nichts als die lautere Naturwahrheit geben, die Phantasie und
Subjectivitüt des Dichters könne und werde völlig davon ausgeschlossen bleiben.
Es ist mindestens eine Selbsttäuschung, wenn er der Naturwahrheit, die, was
die Erscheinung betrifft, immer nur eine relative und subjective Bedeutung haben
kann, einen absoluten und rein objectiven Werth beimißt — eine Selbsttäuschung,
die aber für andre zur Täuschung werden und umsomehr einen Schwindel
erzeugen kann, als sie dein Mißbrauch außerordentlich ausgesetzt ist. Oder ist
es kein Mißbrauch der Kunst, wenn sie sich's vorzugsweise zur Aufgabe macht,
nur das menschliche Elend, die menschliche Schmach, die menschliche Verworfen¬
heit in ihrer ganzen Blöße aufzudecken und hierdurch die Phantasie unsrer Jugend,
unsrer Frauen vergiftet? Wohl rühmt sie sich eines moralischen Zwecks damit,
ich aber glaube, daß es die Menschheit nicht fördern heißt, sie mit dem Laster
und der Schmach also vertraut zu machen. Diesem Spiegel des Lebens gegen¬
über wird sich mich der schon gesunkene noch für leidlich tugendhaft halten und
in seiner leichtfertigen Moral noch bestärkt werden, umsomehr, als, wie schon
Aristoteles zeigte, das Häßliche in der Abbildung einen Theil des Widerlicher,
Ekelhaften verliert, das es in Wirklichkeit hat. und die künstlerische Geschick-
lichkeit ihm sogar noch einen unheimlichen Reiz zu verleihen vermag. Die Kunst
würde auf diese Weise ihres vornehmsten Zweckes verloren gehen, die Phantasie
des Menschen, diese in allem Guten und Bösen so gewaltige Macht, die unserm
Willen zwar nicht völlig, aber doch seinem unmittelbaren Einfluß entzogen ist,
zu entwickeln, zu läutern und zu veredeln.

Haben wir darum den Naturalismus, die Lehre Zolas, ganz und unbe¬
dingt zu verwerfen? Ich glcinbe das nicht. Es liegt ihr gleichwohl eine, wenn
auch nur beschränkte Wahrheit zu Grunde. Sie ist nicht nur die Consequenz
der materialistischen Weltansicht, nicht bloß eine ästhetische Verirrung, sie ist
auch zugleich die natürliche Reaction, welche durch die Lüge, den hohlen Con¬
ventionalismus, die sinnlose Mechanik, die eitle Prunksucht, der die Bühne in
den letzten Zeiten immer mehr verfallen ist, herausgefordert worden ist. Gewiß,
die Wahrheit thut dieser letztern in mehr als einem Sinne noth, aber nicht nur
die Wahrheit der Natur und der Wirklichkeit, obschon man diese in der That
mit weit größerer Sorgfalt studiren und mit noch ungleich größerem Fleiß und
größerer Gewissenhaftigkeit nachahmen sollte, sondern die Wahrheit der Ideale.
Wenn den Naturalisten wirklich, wie Zola träumt, die Bühne der Zukunft ge¬
hört, so ist niemand mehr als diejenigen schuld, die sich heute auf ihr für
Idealisten ausgeben. Es sind nicht die Ideale Schillers, Goethes und Shake¬
speares, es sind keine wahren, lebendigen Ideale, von denen die meisten von


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[0327] Zola und der Naturalismus auf dem Theater, fallen zu können, wenn er die Studien von einem Individuum auf das andre oder die an verschiednen Individuen über eiuen Seelenzustand, eine Leidenschaft, eine Krankheit gemachten Erfahrungen auf ein einziges überträgt? Es ist min¬ destens eine Selbsttäuschung, wenn Zola erklärt, die naturalistische Dichtung werde und könne nichts als die lautere Naturwahrheit geben, die Phantasie und Subjectivitüt des Dichters könne und werde völlig davon ausgeschlossen bleiben. Es ist mindestens eine Selbsttäuschung, wenn er der Naturwahrheit, die, was die Erscheinung betrifft, immer nur eine relative und subjective Bedeutung haben kann, einen absoluten und rein objectiven Werth beimißt — eine Selbsttäuschung, die aber für andre zur Täuschung werden und umsomehr einen Schwindel erzeugen kann, als sie dein Mißbrauch außerordentlich ausgesetzt ist. Oder ist es kein Mißbrauch der Kunst, wenn sie sich's vorzugsweise zur Aufgabe macht, nur das menschliche Elend, die menschliche Schmach, die menschliche Verworfen¬ heit in ihrer ganzen Blöße aufzudecken und hierdurch die Phantasie unsrer Jugend, unsrer Frauen vergiftet? Wohl rühmt sie sich eines moralischen Zwecks damit, ich aber glaube, daß es die Menschheit nicht fördern heißt, sie mit dem Laster und der Schmach also vertraut zu machen. Diesem Spiegel des Lebens gegen¬ über wird sich mich der schon gesunkene noch für leidlich tugendhaft halten und in seiner leichtfertigen Moral noch bestärkt werden, umsomehr, als, wie schon Aristoteles zeigte, das Häßliche in der Abbildung einen Theil des Widerlicher, Ekelhaften verliert, das es in Wirklichkeit hat. und die künstlerische Geschick- lichkeit ihm sogar noch einen unheimlichen Reiz zu verleihen vermag. Die Kunst würde auf diese Weise ihres vornehmsten Zweckes verloren gehen, die Phantasie des Menschen, diese in allem Guten und Bösen so gewaltige Macht, die unserm Willen zwar nicht völlig, aber doch seinem unmittelbaren Einfluß entzogen ist, zu entwickeln, zu läutern und zu veredeln. Haben wir darum den Naturalismus, die Lehre Zolas, ganz und unbe¬ dingt zu verwerfen? Ich glcinbe das nicht. Es liegt ihr gleichwohl eine, wenn auch nur beschränkte Wahrheit zu Grunde. Sie ist nicht nur die Consequenz der materialistischen Weltansicht, nicht bloß eine ästhetische Verirrung, sie ist auch zugleich die natürliche Reaction, welche durch die Lüge, den hohlen Con¬ ventionalismus, die sinnlose Mechanik, die eitle Prunksucht, der die Bühne in den letzten Zeiten immer mehr verfallen ist, herausgefordert worden ist. Gewiß, die Wahrheit thut dieser letztern in mehr als einem Sinne noth, aber nicht nur die Wahrheit der Natur und der Wirklichkeit, obschon man diese in der That mit weit größerer Sorgfalt studiren und mit noch ungleich größerem Fleiß und größerer Gewissenhaftigkeit nachahmen sollte, sondern die Wahrheit der Ideale. Wenn den Naturalisten wirklich, wie Zola träumt, die Bühne der Zukunft ge¬ hört, so ist niemand mehr als diejenigen schuld, die sich heute auf ihr für Idealisten ausgeben. Es sind nicht die Ideale Schillers, Goethes und Shake¬ speares, es sind keine wahren, lebendigen Ideale, von denen die meisten von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/327>, abgerufen am 14.05.2024.