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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Die Aanzlerkrifis.

Dazu kommen aber noch andre Umstände. Die Konservativen beider Gruppen
und das Centrum sind bis jetzt keineswegs in allen ihren Mitgliedern derartig
unter einen Hut zu bringen, daß sie zusammen sür positive Schöpfungen
der Gesetzgebung zu verwenden wären. Die mit Hilfe des Centrums erfolgte Wahl
eines Conservativen zum ersten Präsidenten des Reichstags und die des zweiten
beweisen nichts dagegen. Grundsätzlich und dauernd mit dem Centrum zusammen¬
gehen würden schwerlich viel mehr als 50 Konservative, und das gäbe eine
Coalition von nur 160 Abgeordneten, denen ungefähr ebenso viele Mitglieder
der drei liberalen Fractionen des Reichstags gegenüberstehen würden. Weder
die eine dieser beiden großen Hälften der Majorität noch die andre ist in allen
oder auch nur in den wesentlichsten Punkten einer und derselben Meinung. Auch das
Centrum ist nur in den kirchenpolitischen Fragen vollkommen einig. In Betreff
der concreten Vorlagen der Legislation würde es sich vermuthlich ebenso spalten
wie in der letzten Session. Namentlich würde die große Mehrheit der Klerikalen
wahrscheinlich sich gegen den sogenannten Staatssocialismus des Kanzlers und
gegen das Tabaksmonopol aussprechen, sür die auch ein Theil der Conservativen
schwerlich zu gewinnen sein würde. So erscheint aber der Plan, durch Zu¬
geständnisse an das Centrum, die bis jetzt versagt wurden, eine klerikal-conser-
vative Coalition zur Durchsetzung der Reformvorschläge der Regierung zu schaffen,
in doppelter Beziehung bis auf weiteres aussichtslos.

Nach dieser Lage der Dinge legten sich in den letzten Tagen gemäßigt
liberale Politiker die nächste Zukunft folgendermaßen zurecht. Für seine socialen
Reformen in ihrer bisherigen Gestalt und für das Tabaksmonopol stehen dem
Kanzler im günstigsten Falle nicht mehr als etwa 70 Stimmen zur Verfügung,
und er weiß das und hofft auf keine Verständigung mehr mit den Ultramon¬
tanen, die ihm nach dieser Richtung hin freie Bahn machen könnte. Er wird
daher eine solche Verständigung nicht versuchen. "Für langsame und vorsichtige
Einführung seiner socialen Pläne unter Aufgebung des Tabaksmonopols und
der Staatszuschüsse aber hat der Kanzler heute bereits eine große Mehrheit
aus Conservativen, Freieonservativen, Ceutrumsleuten, Nativnalliberaleu und
Secessionisten, also nahezu aus dem ganzen Hause. . . . Für den dritten noch
möglichen Fall, daß zunächst äußerlich ein Stillstand eintreten wird, während
dessen die socialen Refvrmplcine neuerdings studirt und in vielen Dingen ab¬
geändert werden müssen, steht eine Zeit rein geschäftsmäßiger Sessionen bevor.
Und da werden es bei den einzelnen Fragen des Budgets und der innern
Verwaltung fast durchweg die Liberalen mit den Conservativen sein, die gegen
das Centrum und die Extremen für die Regierung im nationalen Geiste stimmen
werden. Das ist die Lage im neuen Reichstage. Wie steht ihr um der
Reichskanzler gegenüber? Ohne gewillt zu sein, und ohne von den vernünf¬
tigen und gemäßigten Politikern bei unsrer seltsamen innern Lage überhaupt
dazu gedrängt oder auch nur ermuntert zu werden, im gewöhnlichen Schablonen-


Die Aanzlerkrifis.

Dazu kommen aber noch andre Umstände. Die Konservativen beider Gruppen
und das Centrum sind bis jetzt keineswegs in allen ihren Mitgliedern derartig
unter einen Hut zu bringen, daß sie zusammen sür positive Schöpfungen
der Gesetzgebung zu verwenden wären. Die mit Hilfe des Centrums erfolgte Wahl
eines Conservativen zum ersten Präsidenten des Reichstags und die des zweiten
beweisen nichts dagegen. Grundsätzlich und dauernd mit dem Centrum zusammen¬
gehen würden schwerlich viel mehr als 50 Konservative, und das gäbe eine
Coalition von nur 160 Abgeordneten, denen ungefähr ebenso viele Mitglieder
der drei liberalen Fractionen des Reichstags gegenüberstehen würden. Weder
die eine dieser beiden großen Hälften der Majorität noch die andre ist in allen
oder auch nur in den wesentlichsten Punkten einer und derselben Meinung. Auch das
Centrum ist nur in den kirchenpolitischen Fragen vollkommen einig. In Betreff
der concreten Vorlagen der Legislation würde es sich vermuthlich ebenso spalten
wie in der letzten Session. Namentlich würde die große Mehrheit der Klerikalen
wahrscheinlich sich gegen den sogenannten Staatssocialismus des Kanzlers und
gegen das Tabaksmonopol aussprechen, sür die auch ein Theil der Conservativen
schwerlich zu gewinnen sein würde. So erscheint aber der Plan, durch Zu¬
geständnisse an das Centrum, die bis jetzt versagt wurden, eine klerikal-conser-
vative Coalition zur Durchsetzung der Reformvorschläge der Regierung zu schaffen,
in doppelter Beziehung bis auf weiteres aussichtslos.

Nach dieser Lage der Dinge legten sich in den letzten Tagen gemäßigt
liberale Politiker die nächste Zukunft folgendermaßen zurecht. Für seine socialen
Reformen in ihrer bisherigen Gestalt und für das Tabaksmonopol stehen dem
Kanzler im günstigsten Falle nicht mehr als etwa 70 Stimmen zur Verfügung,
und er weiß das und hofft auf keine Verständigung mehr mit den Ultramon¬
tanen, die ihm nach dieser Richtung hin freie Bahn machen könnte. Er wird
daher eine solche Verständigung nicht versuchen. „Für langsame und vorsichtige
Einführung seiner socialen Pläne unter Aufgebung des Tabaksmonopols und
der Staatszuschüsse aber hat der Kanzler heute bereits eine große Mehrheit
aus Conservativen, Freieonservativen, Ceutrumsleuten, Nativnalliberaleu und
Secessionisten, also nahezu aus dem ganzen Hause. . . . Für den dritten noch
möglichen Fall, daß zunächst äußerlich ein Stillstand eintreten wird, während
dessen die socialen Refvrmplcine neuerdings studirt und in vielen Dingen ab¬
geändert werden müssen, steht eine Zeit rein geschäftsmäßiger Sessionen bevor.
Und da werden es bei den einzelnen Fragen des Budgets und der innern
Verwaltung fast durchweg die Liberalen mit den Conservativen sein, die gegen
das Centrum und die Extremen für die Regierung im nationalen Geiste stimmen
werden. Das ist die Lage im neuen Reichstage. Wie steht ihr um der
Reichskanzler gegenüber? Ohne gewillt zu sein, und ohne von den vernünf¬
tigen und gemäßigten Politikern bei unsrer seltsamen innern Lage überhaupt
dazu gedrängt oder auch nur ermuntert zu werden, im gewöhnlichen Schablonen-


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[0348] Die Aanzlerkrifis. Dazu kommen aber noch andre Umstände. Die Konservativen beider Gruppen und das Centrum sind bis jetzt keineswegs in allen ihren Mitgliedern derartig unter einen Hut zu bringen, daß sie zusammen sür positive Schöpfungen der Gesetzgebung zu verwenden wären. Die mit Hilfe des Centrums erfolgte Wahl eines Conservativen zum ersten Präsidenten des Reichstags und die des zweiten beweisen nichts dagegen. Grundsätzlich und dauernd mit dem Centrum zusammen¬ gehen würden schwerlich viel mehr als 50 Konservative, und das gäbe eine Coalition von nur 160 Abgeordneten, denen ungefähr ebenso viele Mitglieder der drei liberalen Fractionen des Reichstags gegenüberstehen würden. Weder die eine dieser beiden großen Hälften der Majorität noch die andre ist in allen oder auch nur in den wesentlichsten Punkten einer und derselben Meinung. Auch das Centrum ist nur in den kirchenpolitischen Fragen vollkommen einig. In Betreff der concreten Vorlagen der Legislation würde es sich vermuthlich ebenso spalten wie in der letzten Session. Namentlich würde die große Mehrheit der Klerikalen wahrscheinlich sich gegen den sogenannten Staatssocialismus des Kanzlers und gegen das Tabaksmonopol aussprechen, sür die auch ein Theil der Conservativen schwerlich zu gewinnen sein würde. So erscheint aber der Plan, durch Zu¬ geständnisse an das Centrum, die bis jetzt versagt wurden, eine klerikal-conser- vative Coalition zur Durchsetzung der Reformvorschläge der Regierung zu schaffen, in doppelter Beziehung bis auf weiteres aussichtslos. Nach dieser Lage der Dinge legten sich in den letzten Tagen gemäßigt liberale Politiker die nächste Zukunft folgendermaßen zurecht. Für seine socialen Reformen in ihrer bisherigen Gestalt und für das Tabaksmonopol stehen dem Kanzler im günstigsten Falle nicht mehr als etwa 70 Stimmen zur Verfügung, und er weiß das und hofft auf keine Verständigung mehr mit den Ultramon¬ tanen, die ihm nach dieser Richtung hin freie Bahn machen könnte. Er wird daher eine solche Verständigung nicht versuchen. „Für langsame und vorsichtige Einführung seiner socialen Pläne unter Aufgebung des Tabaksmonopols und der Staatszuschüsse aber hat der Kanzler heute bereits eine große Mehrheit aus Conservativen, Freieonservativen, Ceutrumsleuten, Nativnalliberaleu und Secessionisten, also nahezu aus dem ganzen Hause. . . . Für den dritten noch möglichen Fall, daß zunächst äußerlich ein Stillstand eintreten wird, während dessen die socialen Refvrmplcine neuerdings studirt und in vielen Dingen ab¬ geändert werden müssen, steht eine Zeit rein geschäftsmäßiger Sessionen bevor. Und da werden es bei den einzelnen Fragen des Budgets und der innern Verwaltung fast durchweg die Liberalen mit den Conservativen sein, die gegen das Centrum und die Extremen für die Regierung im nationalen Geiste stimmen werden. Das ist die Lage im neuen Reichstage. Wie steht ihr um der Reichskanzler gegenüber? Ohne gewillt zu sein, und ohne von den vernünf¬ tigen und gemäßigten Politikern bei unsrer seltsamen innern Lage überhaupt dazu gedrängt oder auch nur ermuntert zu werden, im gewöhnlichen Schablonen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/348>, abgerufen am 14.05.2024.