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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Zur socialen Frage.

lieben Gedankenaustausch. Zum erstenmale erhoben sich die Arbeiter zum Be¬
wußtsein eines besonder" Standes mit besondern Leiden, besondern Ansprüchen
und Interessen, und es ward populär und einträglich, Schriftsteller im Dienste
der Arbeiter zu sein. Und heute sind sie nicht mehr ein bloßer Stand, sie sind
eine mächtige Partei, welche den Staat und die Gesellschaft bedroht.

Dies ist der Erfolg von dreißig oder fünfzig Jahren. Wie wird es nach
weiter" fünfzig Jahre" stehen?! Den" erst den A"fa"g jener Wirkungen habe"
wir vor ?lügen, welche die Eisenbahnen, der Telegraph, die Entwicklung der
Post und der Tagespresse i" de" Gemüther" der Mensche" hervorgebracht
habe".

Auch ein blödes Auge wird erkennen, wie verschieden die Lage unsrer heu¬
tige" Gesellschaft ist von derjenige", i" welcher sich das römische Reich im An¬
fange unsrer Zeitrechnung befunden hat. Auch damals ging die Welt einer
ungeheuren Umwälzmig e"tgegen, aber diese war anfangs nicht social, son¬
dern religiös und international, bis die jngendkräftigen germanische" Völker
endlich a"es ein neues System der Gesellschaft, das feudale, ius Lebe" ein-
führten.

Wir Modernen aber stehen unmittelbar auf den: Kampfplatze, welche" die
Verfassung der Gesellschaft bildet, und es scheint, daß wir keine andre Wahl
haben als zwischen Evolution, die heilt und aufbaut, und Revolution, welche
zerstört. Die Evolution aber ist nur möglich, wenn ihre Nothwendigkeit recht¬
zeitig erkannt wird, "ut solange die zerstörende" .Kräfte der Revolution noch nicht
übermächtig geworden sind. Heute noch ist es Zeit; unser Staatsorganismus
ist gesund und kraftvoll genug, um die Soeialdemvkmtie niederzuhalten. Wenn
aber die Erkenntniß der eignen Lage und das Bewußtsein der numerischen Kraft,
wie es heute der städtische und industrielle Arbeiter besitzt, auch auf die länd¬
lichen Arbeiter übergegangen sein wird, wenn die verderblichen Wirkungen des
ceutralisirendeu Großeapitals auch die untern Bürgerklassen ins Lager der So-
cialisten getrieben haben wird, dann wird diese Partei so gewaltig sein, daß für
eine heilsame Evolution kein Raum mehr bleibt.

Es ist demnach keines der geringste" Verdienste des Reichskanzlers, daß
er die sociale Frage ans die Tagesordnung unsrer gesetzgebenden Körperschaften
gesetzt hat, und wenn auch seine positivem Vorschläge den ernstesten Bedenken
unterliege" mögen, so wird doch keine Macht mehr imstande sein, diese Frage
wieder von der Tagesordnung abzusetzen. Das mögen die Parteien bedenken!
Nicht darum handelt es sich, welche Theorie die richtige sei. Jede Theorie geht
von Voraussetzungen aus, deren Richtigkeit nicht bewiesen werden kann. Die
Menge liebt es zwar, aus einem plausibler Vordersatze eine Reihe von Folgen
abzuleiten. Allein sie übersieht, daß ein Begriff kein Ding ist und daß der
wirkliche Staat, die bestehende Gesellschaft nicht mir das Product unzähliger
Zufälligkeiten siud, sondern auch von solchen Zufälligkeiten abhänge". Wer Staat


Zur socialen Frage.

lieben Gedankenaustausch. Zum erstenmale erhoben sich die Arbeiter zum Be¬
wußtsein eines besonder» Standes mit besondern Leiden, besondern Ansprüchen
und Interessen, und es ward populär und einträglich, Schriftsteller im Dienste
der Arbeiter zu sein. Und heute sind sie nicht mehr ein bloßer Stand, sie sind
eine mächtige Partei, welche den Staat und die Gesellschaft bedroht.

Dies ist der Erfolg von dreißig oder fünfzig Jahren. Wie wird es nach
weiter» fünfzig Jahre» stehen?! Den» erst den A»fa»g jener Wirkungen habe»
wir vor ?lügen, welche die Eisenbahnen, der Telegraph, die Entwicklung der
Post und der Tagespresse i» de» Gemüther» der Mensche» hervorgebracht
habe».

Auch ein blödes Auge wird erkennen, wie verschieden die Lage unsrer heu¬
tige» Gesellschaft ist von derjenige», i» welcher sich das römische Reich im An¬
fange unsrer Zeitrechnung befunden hat. Auch damals ging die Welt einer
ungeheuren Umwälzmig e»tgegen, aber diese war anfangs nicht social, son¬
dern religiös und international, bis die jngendkräftigen germanische» Völker
endlich a»es ein neues System der Gesellschaft, das feudale, ius Lebe» ein-
führten.

Wir Modernen aber stehen unmittelbar auf den: Kampfplatze, welche» die
Verfassung der Gesellschaft bildet, und es scheint, daß wir keine andre Wahl
haben als zwischen Evolution, die heilt und aufbaut, und Revolution, welche
zerstört. Die Evolution aber ist nur möglich, wenn ihre Nothwendigkeit recht¬
zeitig erkannt wird, »ut solange die zerstörende» .Kräfte der Revolution noch nicht
übermächtig geworden sind. Heute noch ist es Zeit; unser Staatsorganismus
ist gesund und kraftvoll genug, um die Soeialdemvkmtie niederzuhalten. Wenn
aber die Erkenntniß der eignen Lage und das Bewußtsein der numerischen Kraft,
wie es heute der städtische und industrielle Arbeiter besitzt, auch auf die länd¬
lichen Arbeiter übergegangen sein wird, wenn die verderblichen Wirkungen des
ceutralisirendeu Großeapitals auch die untern Bürgerklassen ins Lager der So-
cialisten getrieben haben wird, dann wird diese Partei so gewaltig sein, daß für
eine heilsame Evolution kein Raum mehr bleibt.

Es ist demnach keines der geringste» Verdienste des Reichskanzlers, daß
er die sociale Frage ans die Tagesordnung unsrer gesetzgebenden Körperschaften
gesetzt hat, und wenn auch seine positivem Vorschläge den ernstesten Bedenken
unterliege» mögen, so wird doch keine Macht mehr imstande sein, diese Frage
wieder von der Tagesordnung abzusetzen. Das mögen die Parteien bedenken!
Nicht darum handelt es sich, welche Theorie die richtige sei. Jede Theorie geht
von Voraussetzungen aus, deren Richtigkeit nicht bewiesen werden kann. Die
Menge liebt es zwar, aus einem plausibler Vordersatze eine Reihe von Folgen
abzuleiten. Allein sie übersieht, daß ein Begriff kein Ding ist und daß der
wirkliche Staat, die bestehende Gesellschaft nicht mir das Product unzähliger
Zufälligkeiten siud, sondern auch von solchen Zufälligkeiten abhänge». Wer Staat


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[0458] Zur socialen Frage. lieben Gedankenaustausch. Zum erstenmale erhoben sich die Arbeiter zum Be¬ wußtsein eines besonder» Standes mit besondern Leiden, besondern Ansprüchen und Interessen, und es ward populär und einträglich, Schriftsteller im Dienste der Arbeiter zu sein. Und heute sind sie nicht mehr ein bloßer Stand, sie sind eine mächtige Partei, welche den Staat und die Gesellschaft bedroht. Dies ist der Erfolg von dreißig oder fünfzig Jahren. Wie wird es nach weiter» fünfzig Jahre» stehen?! Den» erst den A»fa»g jener Wirkungen habe» wir vor ?lügen, welche die Eisenbahnen, der Telegraph, die Entwicklung der Post und der Tagespresse i» de» Gemüther» der Mensche» hervorgebracht habe». Auch ein blödes Auge wird erkennen, wie verschieden die Lage unsrer heu¬ tige» Gesellschaft ist von derjenige», i» welcher sich das römische Reich im An¬ fange unsrer Zeitrechnung befunden hat. Auch damals ging die Welt einer ungeheuren Umwälzmig e»tgegen, aber diese war anfangs nicht social, son¬ dern religiös und international, bis die jngendkräftigen germanische» Völker endlich a»es ein neues System der Gesellschaft, das feudale, ius Lebe» ein- führten. Wir Modernen aber stehen unmittelbar auf den: Kampfplatze, welche» die Verfassung der Gesellschaft bildet, und es scheint, daß wir keine andre Wahl haben als zwischen Evolution, die heilt und aufbaut, und Revolution, welche zerstört. Die Evolution aber ist nur möglich, wenn ihre Nothwendigkeit recht¬ zeitig erkannt wird, »ut solange die zerstörende» .Kräfte der Revolution noch nicht übermächtig geworden sind. Heute noch ist es Zeit; unser Staatsorganismus ist gesund und kraftvoll genug, um die Soeialdemvkmtie niederzuhalten. Wenn aber die Erkenntniß der eignen Lage und das Bewußtsein der numerischen Kraft, wie es heute der städtische und industrielle Arbeiter besitzt, auch auf die länd¬ lichen Arbeiter übergegangen sein wird, wenn die verderblichen Wirkungen des ceutralisirendeu Großeapitals auch die untern Bürgerklassen ins Lager der So- cialisten getrieben haben wird, dann wird diese Partei so gewaltig sein, daß für eine heilsame Evolution kein Raum mehr bleibt. Es ist demnach keines der geringste» Verdienste des Reichskanzlers, daß er die sociale Frage ans die Tagesordnung unsrer gesetzgebenden Körperschaften gesetzt hat, und wenn auch seine positivem Vorschläge den ernstesten Bedenken unterliege» mögen, so wird doch keine Macht mehr imstande sein, diese Frage wieder von der Tagesordnung abzusetzen. Das mögen die Parteien bedenken! Nicht darum handelt es sich, welche Theorie die richtige sei. Jede Theorie geht von Voraussetzungen aus, deren Richtigkeit nicht bewiesen werden kann. Die Menge liebt es zwar, aus einem plausibler Vordersatze eine Reihe von Folgen abzuleiten. Allein sie übersieht, daß ein Begriff kein Ding ist und daß der wirkliche Staat, die bestehende Gesellschaft nicht mir das Product unzähliger Zufälligkeiten siud, sondern auch von solchen Zufälligkeiten abhänge». Wer Staat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/458>, abgerufen am 15.05.2024.