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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Zwei lHolivre-Biographien.

land ein eigner Tempel der Verehrung erbaut worden, so daß um die vier
wichtigsten modernen Literatnrvölker in dieser Weise bei uns bedacht sind. Glück¬
licherweise hat auch das "Moliere-Museum," das man anfänglich nach seinem
Begründer ebensogut hätte "Schweitzer-Museum" nennen können, mit der Zeit
eine vollständige kleine Gemeinde von "Molisristen", wie der torminu8 tvollnious
lautet, um sich versammelt und dadurch einen weniger individuellen Charakter
erhalten. Ob aber der ganze Ban in dem Maße berechtigt und dauerversprecheud
ist wie bei den andern drei genannten Größen, ist trotzdem fraglich. Man kann
Molivre nicht ohne weiteres neben Goethe, Shakespeare, Dante stellen. An
deren Universalität, und das ist das ausschlaggebende, reicht er, obwohl er ein
sehr großer Dichter ist, nicht heran. Mit Recht nennt ihn Lotheißen den na¬
tionalsten Dichter Frankreichs, aber schon deshalb, weil er dies ist, ist er nicht
von universaler Größe. Der nationalste französische Dichter ist er aber in
seiner Eigenschaft als Komödicndichtcr, und das erklärt wiederum, warum seine
Bedeutung für die gestimmte Geistesentwicklung unsrer Cultur nicht von so weit¬
tragender Natur ist; denn die Komödie ist immer mehr der Ausdruck eines ein¬
zelnen zeitlich und räumlich begrenzten Ringens, das Spiegelbild nationaler,
socialer, individueller, so nicht wiederkehrender Verhältnisse, als die Darstellung
großer, die Menschheit bewegender Fragen von allgemeiner Giltigkeit; die letztere
Aufgabe fällt der Tragödie zu. So kommt es, daß Moliöre, der, obwohl Corneille
ihm mit einem Beispiele schon vorausging, doch als Begründer der noch heute
in Geltung stehenden Sitten- und Charalterkvmödie anzusehen ist und daher
mit Recht der Vater des modernen Lustspiels genannt werden kann, doch auf
die deutsche Literatur nicht annähernd einen solchen Einfluß wie Shakespeare
ausgeübt hat, daß er, während er noch heute in der (ZoirMiv ^rsutzsiss eine
Hanptsänle des stehenden Repertoires ist, auf der deutschen Bühne nur mit ein¬
zelnen seiner hervorragenderen und ernsteren Stücke, wie dein "Geizigen," dem "Tar-
tüffe," dem "Misanthropen," und auch mit diesen nur äußerst selten erscheint.

Kein Wunder, daß Deutschland bisher noch keine umfassende Lebens-
beschreibung des großen Dichters hervorgebracht hatte. Neuerdings aber sind
in kurzem Zeiträume hintereinander gleich zwei erschienen, eine von Lotheißen*),
den wir eben nannten, die andre von Mahrcnhvltz^), beide unabhängig von
einander und in ihrer ünßern Erscheinung wie ihrem innern Wesen nach grund¬
verschieden. Lotheißen, der schou durch eine "Geschichte der französischen Literatur
im 17. Jahrhundert," vo" der bisher zwei Bände erschienen sind, sich aufs
vortheilhafteste bekannt gemacht hat, bietet in einem schön ausgestattete" Bande




*) Molivre, Sein Lebe" und seine Werke von Ferdinand Lolhcißen. Frank--
furt n.M., Litcmrische Anstalt (Nullen Ä Loening), 1880. XII u. 418 S. Mit dein Portrait
des Dichters in Kupfer gestochen.
**) Molivres Leben und Werke vom Standpunkt der heutigen Forschung von R.
MahrcnhotP, Heilbron", Verlag von Gebr. Henninger, 1881. VII u. "98 S,
Zwei lHolivre-Biographien.

land ein eigner Tempel der Verehrung erbaut worden, so daß um die vier
wichtigsten modernen Literatnrvölker in dieser Weise bei uns bedacht sind. Glück¬
licherweise hat auch das „Moliere-Museum," das man anfänglich nach seinem
Begründer ebensogut hätte „Schweitzer-Museum" nennen können, mit der Zeit
eine vollständige kleine Gemeinde von „Molisristen", wie der torminu8 tvollnious
lautet, um sich versammelt und dadurch einen weniger individuellen Charakter
erhalten. Ob aber der ganze Ban in dem Maße berechtigt und dauerversprecheud
ist wie bei den andern drei genannten Größen, ist trotzdem fraglich. Man kann
Molivre nicht ohne weiteres neben Goethe, Shakespeare, Dante stellen. An
deren Universalität, und das ist das ausschlaggebende, reicht er, obwohl er ein
sehr großer Dichter ist, nicht heran. Mit Recht nennt ihn Lotheißen den na¬
tionalsten Dichter Frankreichs, aber schon deshalb, weil er dies ist, ist er nicht
von universaler Größe. Der nationalste französische Dichter ist er aber in
seiner Eigenschaft als Komödicndichtcr, und das erklärt wiederum, warum seine
Bedeutung für die gestimmte Geistesentwicklung unsrer Cultur nicht von so weit¬
tragender Natur ist; denn die Komödie ist immer mehr der Ausdruck eines ein¬
zelnen zeitlich und räumlich begrenzten Ringens, das Spiegelbild nationaler,
socialer, individueller, so nicht wiederkehrender Verhältnisse, als die Darstellung
großer, die Menschheit bewegender Fragen von allgemeiner Giltigkeit; die letztere
Aufgabe fällt der Tragödie zu. So kommt es, daß Moliöre, der, obwohl Corneille
ihm mit einem Beispiele schon vorausging, doch als Begründer der noch heute
in Geltung stehenden Sitten- und Charalterkvmödie anzusehen ist und daher
mit Recht der Vater des modernen Lustspiels genannt werden kann, doch auf
die deutsche Literatur nicht annähernd einen solchen Einfluß wie Shakespeare
ausgeübt hat, daß er, während er noch heute in der (ZoirMiv ^rsutzsiss eine
Hanptsänle des stehenden Repertoires ist, auf der deutschen Bühne nur mit ein¬
zelnen seiner hervorragenderen und ernsteren Stücke, wie dein „Geizigen," dem „Tar-
tüffe," dem „Misanthropen," und auch mit diesen nur äußerst selten erscheint.

Kein Wunder, daß Deutschland bisher noch keine umfassende Lebens-
beschreibung des großen Dichters hervorgebracht hatte. Neuerdings aber sind
in kurzem Zeiträume hintereinander gleich zwei erschienen, eine von Lotheißen*),
den wir eben nannten, die andre von Mahrcnhvltz^), beide unabhängig von
einander und in ihrer ünßern Erscheinung wie ihrem innern Wesen nach grund¬
verschieden. Lotheißen, der schou durch eine „Geschichte der französischen Literatur
im 17. Jahrhundert," vo» der bisher zwei Bände erschienen sind, sich aufs
vortheilhafteste bekannt gemacht hat, bietet in einem schön ausgestattete» Bande




*) Molivre, Sein Lebe» und seine Werke von Ferdinand Lolhcißen. Frank--
furt n.M., Litcmrische Anstalt (Nullen Ä Loening), 1880. XII u. 418 S. Mit dein Portrait
des Dichters in Kupfer gestochen.
**) Molivres Leben und Werke vom Standpunkt der heutigen Forschung von R.
MahrcnhotP, Heilbron», Verlag von Gebr. Henninger, 1881. VII u. »98 S,
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[0466] Zwei lHolivre-Biographien. land ein eigner Tempel der Verehrung erbaut worden, so daß um die vier wichtigsten modernen Literatnrvölker in dieser Weise bei uns bedacht sind. Glück¬ licherweise hat auch das „Moliere-Museum," das man anfänglich nach seinem Begründer ebensogut hätte „Schweitzer-Museum" nennen können, mit der Zeit eine vollständige kleine Gemeinde von „Molisristen", wie der torminu8 tvollnious lautet, um sich versammelt und dadurch einen weniger individuellen Charakter erhalten. Ob aber der ganze Ban in dem Maße berechtigt und dauerversprecheud ist wie bei den andern drei genannten Größen, ist trotzdem fraglich. Man kann Molivre nicht ohne weiteres neben Goethe, Shakespeare, Dante stellen. An deren Universalität, und das ist das ausschlaggebende, reicht er, obwohl er ein sehr großer Dichter ist, nicht heran. Mit Recht nennt ihn Lotheißen den na¬ tionalsten Dichter Frankreichs, aber schon deshalb, weil er dies ist, ist er nicht von universaler Größe. Der nationalste französische Dichter ist er aber in seiner Eigenschaft als Komödicndichtcr, und das erklärt wiederum, warum seine Bedeutung für die gestimmte Geistesentwicklung unsrer Cultur nicht von so weit¬ tragender Natur ist; denn die Komödie ist immer mehr der Ausdruck eines ein¬ zelnen zeitlich und räumlich begrenzten Ringens, das Spiegelbild nationaler, socialer, individueller, so nicht wiederkehrender Verhältnisse, als die Darstellung großer, die Menschheit bewegender Fragen von allgemeiner Giltigkeit; die letztere Aufgabe fällt der Tragödie zu. So kommt es, daß Moliöre, der, obwohl Corneille ihm mit einem Beispiele schon vorausging, doch als Begründer der noch heute in Geltung stehenden Sitten- und Charalterkvmödie anzusehen ist und daher mit Recht der Vater des modernen Lustspiels genannt werden kann, doch auf die deutsche Literatur nicht annähernd einen solchen Einfluß wie Shakespeare ausgeübt hat, daß er, während er noch heute in der (ZoirMiv ^rsutzsiss eine Hanptsänle des stehenden Repertoires ist, auf der deutschen Bühne nur mit ein¬ zelnen seiner hervorragenderen und ernsteren Stücke, wie dein „Geizigen," dem „Tar- tüffe," dem „Misanthropen," und auch mit diesen nur äußerst selten erscheint. Kein Wunder, daß Deutschland bisher noch keine umfassende Lebens- beschreibung des großen Dichters hervorgebracht hatte. Neuerdings aber sind in kurzem Zeiträume hintereinander gleich zwei erschienen, eine von Lotheißen*), den wir eben nannten, die andre von Mahrcnhvltz^), beide unabhängig von einander und in ihrer ünßern Erscheinung wie ihrem innern Wesen nach grund¬ verschieden. Lotheißen, der schou durch eine „Geschichte der französischen Literatur im 17. Jahrhundert," vo» der bisher zwei Bände erschienen sind, sich aufs vortheilhafteste bekannt gemacht hat, bietet in einem schön ausgestattete» Bande *) Molivre, Sein Lebe» und seine Werke von Ferdinand Lolhcißen. Frank-- furt n.M., Litcmrische Anstalt (Nullen Ä Loening), 1880. XII u. 418 S. Mit dein Portrait des Dichters in Kupfer gestochen. **) Molivres Leben und Werke vom Standpunkt der heutigen Forschung von R. MahrcnhotP, Heilbron», Verlag von Gebr. Henninger, 1881. VII u. »98 S,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/466>, abgerufen am 14.05.2024.