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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Zwei Molivre-Biographie".

Streiche eines Sccipin den moralischen Maßstab an dieselben anzulegen ver¬
gaßen.

Die Einwürfe Rousseaus gegen ernstere Dichtungen Moliöres, wie den
"Geizigen" und den "Misanthropen," gehen von einem so falschen Standpunkte
und einer so einseitig verkehrten Auffassung der dramatischen Dichtung aus, daß
es heutzutage unnöthig ist, sie zu widerlegen. Wenn je ein Bühnendichter sitt¬
lich reinigend gewirkt hat, so ist es Molisre gewesen. Mit Recht läßt er aller¬
dings jede den Eindruck des reinen Kunstwerkes störende moralische Tendenz
zurücktreten; nur indem er getreu nach dem Leben zeichnet und so seiner Zeit
den Spiegel vorhält, übt er seine Wirkung aus. So kämpfte er gegen alles
Falsche, Unwahre, Gemachte; bei allen Ständen und in allen Gestalten verfolgt
er es mit unerbittlicher Consequenz und Strenge, in dein beschränkten Philister
des Bürgerstandes wie in dem aufgeblasenen adlichen Gecken, in dem gelehrten
Pedanten wie in dem meineidiger hochgeborenen None, in dem frommen Heuchler,
in dem unwissenden und hochmüthigen Charlatan, in der affectirter und empfind¬
samen Frau, überall giebt er es mit der vollen Kraft seiner Komik dem Ge¬
lächter preis. So lernen wir aus seineu Stücken die französische Gesellschaft
der damaligen Zeit in ihrer ganzen Mannichfaltigkeit genau kennen, und das
Studium andrer Quellen bestätigt uns die getreue Schärfe und, im besten Sinne
des Wortes, realistische Wahrheit seiner Zeichnung. Selbst in der uns als die
allerschlimmste Caricatur anmuthenden, unsterblich lächerlich gemachten Charla-
tanerie der damaligen Aerzte, wie sie dem deutschen Publicum zum mindesten
aus dem "Eingebildeten Kranken" erinnerlich sein wird, giebt uns Moliöre nur
ein genaues Abbild der Wirklichkeit. Dabei sind seine Figuren -- und darin
zeigt er sich als genialer Dichter von wahrhaft dramatischer Begabung --, ob¬
wohl sie typischer Natur und als solche von allgemeiner Bedeutung sind, doch
zugleich von so ausgeprägter Individualität, von so fast porträtähnlicher Cha¬
rakteristik, daß man sich nicht wundern darf, wenn seine Zeitgenossen sich nach
den Originalen umsahen und sie auch vielfach gefunden zu haben glaubten. Daß
Moliöre sich in den dadurch getroffenen Kreisen viele Feindschaften zuziehen
mußte, ist begreiflich genug; die literarischen Streitigkeiten, die sich an verschieone
seiner Stücke anschließen, hängen damit zusammen.

Gleich die?röoiöus68 riclivulss riefen eine ganze Reihe von Schriften über
wahres und falsches Preeiösenthum hervor. Man hatte dasselbe zwar schon
früher öfter angegriffen, aber nie mit diesem allgemeinen Erfolg und einer so
durchschlagenden, die Opposition herausfordernden Wirkung. Moliöre hat in
diesem einaetigen Stücke jene im gesellschaftlichen Leben wie in der Literatur
in gewissen Kreisen sich breit machende zierliche Manier verspottet, die, ein paar
Decennien zuvor in berechtigter Reaction gegen eingerissene Verwilderung ent¬
standen, zuletzt in die widerlichste Unnatur ausgeartet war. War man doch
schließlich dahin gelangt, das Essen nicht mehr für wohlanständig in Gesellschaft


Grenzbvwl IV. 1831. 64
Zwei Molivre-Biographie».

Streiche eines Sccipin den moralischen Maßstab an dieselben anzulegen ver¬
gaßen.

Die Einwürfe Rousseaus gegen ernstere Dichtungen Moliöres, wie den
„Geizigen" und den „Misanthropen," gehen von einem so falschen Standpunkte
und einer so einseitig verkehrten Auffassung der dramatischen Dichtung aus, daß
es heutzutage unnöthig ist, sie zu widerlegen. Wenn je ein Bühnendichter sitt¬
lich reinigend gewirkt hat, so ist es Molisre gewesen. Mit Recht läßt er aller¬
dings jede den Eindruck des reinen Kunstwerkes störende moralische Tendenz
zurücktreten; nur indem er getreu nach dem Leben zeichnet und so seiner Zeit
den Spiegel vorhält, übt er seine Wirkung aus. So kämpfte er gegen alles
Falsche, Unwahre, Gemachte; bei allen Ständen und in allen Gestalten verfolgt
er es mit unerbittlicher Consequenz und Strenge, in dein beschränkten Philister
des Bürgerstandes wie in dem aufgeblasenen adlichen Gecken, in dem gelehrten
Pedanten wie in dem meineidiger hochgeborenen None, in dem frommen Heuchler,
in dem unwissenden und hochmüthigen Charlatan, in der affectirter und empfind¬
samen Frau, überall giebt er es mit der vollen Kraft seiner Komik dem Ge¬
lächter preis. So lernen wir aus seineu Stücken die französische Gesellschaft
der damaligen Zeit in ihrer ganzen Mannichfaltigkeit genau kennen, und das
Studium andrer Quellen bestätigt uns die getreue Schärfe und, im besten Sinne
des Wortes, realistische Wahrheit seiner Zeichnung. Selbst in der uns als die
allerschlimmste Caricatur anmuthenden, unsterblich lächerlich gemachten Charla-
tanerie der damaligen Aerzte, wie sie dem deutschen Publicum zum mindesten
aus dem „Eingebildeten Kranken" erinnerlich sein wird, giebt uns Moliöre nur
ein genaues Abbild der Wirklichkeit. Dabei sind seine Figuren — und darin
zeigt er sich als genialer Dichter von wahrhaft dramatischer Begabung —, ob¬
wohl sie typischer Natur und als solche von allgemeiner Bedeutung sind, doch
zugleich von so ausgeprägter Individualität, von so fast porträtähnlicher Cha¬
rakteristik, daß man sich nicht wundern darf, wenn seine Zeitgenossen sich nach
den Originalen umsahen und sie auch vielfach gefunden zu haben glaubten. Daß
Moliöre sich in den dadurch getroffenen Kreisen viele Feindschaften zuziehen
mußte, ist begreiflich genug; die literarischen Streitigkeiten, die sich an verschieone
seiner Stücke anschließen, hängen damit zusammen.

Gleich die?röoiöus68 riclivulss riefen eine ganze Reihe von Schriften über
wahres und falsches Preeiösenthum hervor. Man hatte dasselbe zwar schon
früher öfter angegriffen, aber nie mit diesem allgemeinen Erfolg und einer so
durchschlagenden, die Opposition herausfordernden Wirkung. Moliöre hat in
diesem einaetigen Stücke jene im gesellschaftlichen Leben wie in der Literatur
in gewissen Kreisen sich breit machende zierliche Manier verspottet, die, ein paar
Decennien zuvor in berechtigter Reaction gegen eingerissene Verwilderung ent¬
standen, zuletzt in die widerlichste Unnatur ausgeartet war. War man doch
schließlich dahin gelangt, das Essen nicht mehr für wohlanständig in Gesellschaft


Grenzbvwl IV. 1831. 64
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/507>, abgerufen am 14.05.2024.