Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Theater und Polizei.

Bildung und Befähigung für seine Aufgabe besitzt, und sollte von ihm eine
Caution verlangen, damit im Falle des Bankerotts nicht das Personal, wie es
so oft geschieht, zugleich brotlos wird und auch noch verliert, was es sich ver^
dient hat.

Die Folge solcher Bestimmungen würde freilich sein, daß die Zahl der Musen-
tempel beträchtlich zusammenschmölze. Aber könnte das irgend jemand im Ernst
für ein Unglück erklären?

Der Brand vom 8. December sollte billigerweise uns alle zur ernsten Be¬
trachtung der ganzen Frage veranlassen. Das Bas-Empire, dem wir so viel
Unheil verdanken, hat auch das Theaterweseu gründlich corrumpirt. Was ist
aus der "schönen Welt des Scheins" geworden? Der gröbste Realismus und
Naturalismus führen das große Wort. Die Prophetensonne hat ein Zeitalter
inaugurirt, in welchem die Kunst fortwährend zu Handlangerdiensten im Tempel
des Sinneneultus entwürdigt wird. Nichts ist mehr grell und "wahr" genug.
Das Schauspielhaus muß so hell beleuchtet sein, daß wir jeden Schminketupf
und jeden Pinselstrich auf dem Gesichte der Primadonna erkennen, die glänzende
"Ausstattung" muß für die mangelhafte Darstellung entschädigen, auf die Treue
im Costüm wird mehr Aufmerksamkeit verwendet als auf die Treue gegen den
Dichter, und die modernen Toiletten verlangen wir so reich, daß sie die Gage
mehrmals verschlingen würden, mithin auf andre Weise verdient werden müssen.
Tieck rügte, daß in Kritiken körperliche Vorzüge der Schauspielerinnen erwähnt
würden: Ach, was bliebe um mancher "gefeierten Künstlerin" zu erwähnen, wenn
nicht ihre Schönheit? Naturgaben, welche sonst allenfalls zu einer Carriörc
im Balletcorps befähigten, begründen heutzutage den Beruf für die dramatische
Kunst, und wenn man ehedem sagte, die Bühne führe oft zu leichtfertigen Lebens¬
wandel, fo ließe sich jetzt hie und da der Satz umkehren.

Gestehen wir es uns doch ein: Ein großer Theil der Theater hat keinen
Anspruch mehr darauf, zu deu Volksbildungsanstalten gezählt zu werden, aber
daß es so ist, daran sind wir mit schuld. Wenn jetzt unter dem Eindruck der
letzten Ereignisse der Ruf sich erhebt: Wir brauchen keine Theater so groß wie
ein Circus, wir brauchen kein Gaslicht, wir brauchen kein frevelhaftes Spiel
mit Feuer auf der Bühne! so kann man dem beistimmen. Allein wir brauchen
überhaupt nicht so viele Schauspielhäuser, es ist nicht nothwendig, daß Possen¬
reißer besoldet werden wie Staatsminister, und Gauklerinnen an einem Abend
mehr verdienen als eine Arbeiterfamilie im Jahre, die Bühne ist nicht dazu da,
das Hetärenthum zu glorificiren, sie ist auch kein anatomisches Theater, auf
welchem der moralische Aussatz in seiner ganzen Scheußlichkeit gezeigt werden
soll. Lassen wir uns nicht länger von jener Routinierweisheit imponiren, welche
uns einreden möchte, es sei die Aufgabe des Theaters, dem Zuschauer fort und
fort Reizmittel aufzutischen, er bedürfe derselben. Es ist nicht wahr; der Kern
unsers Volkes nimmt heute so dankbar wie vor achtzig Jahren die Dichtungen


Theater und Polizei.

Bildung und Befähigung für seine Aufgabe besitzt, und sollte von ihm eine
Caution verlangen, damit im Falle des Bankerotts nicht das Personal, wie es
so oft geschieht, zugleich brotlos wird und auch noch verliert, was es sich ver^
dient hat.

Die Folge solcher Bestimmungen würde freilich sein, daß die Zahl der Musen-
tempel beträchtlich zusammenschmölze. Aber könnte das irgend jemand im Ernst
für ein Unglück erklären?

Der Brand vom 8. December sollte billigerweise uns alle zur ernsten Be¬
trachtung der ganzen Frage veranlassen. Das Bas-Empire, dem wir so viel
Unheil verdanken, hat auch das Theaterweseu gründlich corrumpirt. Was ist
aus der „schönen Welt des Scheins" geworden? Der gröbste Realismus und
Naturalismus führen das große Wort. Die Prophetensonne hat ein Zeitalter
inaugurirt, in welchem die Kunst fortwährend zu Handlangerdiensten im Tempel
des Sinneneultus entwürdigt wird. Nichts ist mehr grell und „wahr" genug.
Das Schauspielhaus muß so hell beleuchtet sein, daß wir jeden Schminketupf
und jeden Pinselstrich auf dem Gesichte der Primadonna erkennen, die glänzende
„Ausstattung" muß für die mangelhafte Darstellung entschädigen, auf die Treue
im Costüm wird mehr Aufmerksamkeit verwendet als auf die Treue gegen den
Dichter, und die modernen Toiletten verlangen wir so reich, daß sie die Gage
mehrmals verschlingen würden, mithin auf andre Weise verdient werden müssen.
Tieck rügte, daß in Kritiken körperliche Vorzüge der Schauspielerinnen erwähnt
würden: Ach, was bliebe um mancher „gefeierten Künstlerin" zu erwähnen, wenn
nicht ihre Schönheit? Naturgaben, welche sonst allenfalls zu einer Carriörc
im Balletcorps befähigten, begründen heutzutage den Beruf für die dramatische
Kunst, und wenn man ehedem sagte, die Bühne führe oft zu leichtfertigen Lebens¬
wandel, fo ließe sich jetzt hie und da der Satz umkehren.

Gestehen wir es uns doch ein: Ein großer Theil der Theater hat keinen
Anspruch mehr darauf, zu deu Volksbildungsanstalten gezählt zu werden, aber
daß es so ist, daran sind wir mit schuld. Wenn jetzt unter dem Eindruck der
letzten Ereignisse der Ruf sich erhebt: Wir brauchen keine Theater so groß wie
ein Circus, wir brauchen kein Gaslicht, wir brauchen kein frevelhaftes Spiel
mit Feuer auf der Bühne! so kann man dem beistimmen. Allein wir brauchen
überhaupt nicht so viele Schauspielhäuser, es ist nicht nothwendig, daß Possen¬
reißer besoldet werden wie Staatsminister, und Gauklerinnen an einem Abend
mehr verdienen als eine Arbeiterfamilie im Jahre, die Bühne ist nicht dazu da,
das Hetärenthum zu glorificiren, sie ist auch kein anatomisches Theater, auf
welchem der moralische Aussatz in seiner ganzen Scheußlichkeit gezeigt werden
soll. Lassen wir uns nicht länger von jener Routinierweisheit imponiren, welche
uns einreden möchte, es sei die Aufgabe des Theaters, dem Zuschauer fort und
fort Reizmittel aufzutischen, er bedürfe derselben. Es ist nicht wahr; der Kern
unsers Volkes nimmt heute so dankbar wie vor achtzig Jahren die Dichtungen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0570" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/151292"/>
          <fw type="header" place="top"> Theater und Polizei.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1855" prev="#ID_1854"> Bildung und Befähigung für seine Aufgabe besitzt, und sollte von ihm eine<lb/>
Caution verlangen, damit im Falle des Bankerotts nicht das Personal, wie es<lb/>
so oft geschieht, zugleich brotlos wird und auch noch verliert, was es sich ver^<lb/>
dient hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1856"> Die Folge solcher Bestimmungen würde freilich sein, daß die Zahl der Musen-<lb/>
tempel beträchtlich zusammenschmölze. Aber könnte das irgend jemand im Ernst<lb/>
für ein Unglück erklären?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1857"> Der Brand vom 8. December sollte billigerweise uns alle zur ernsten Be¬<lb/>
trachtung der ganzen Frage veranlassen. Das Bas-Empire, dem wir so viel<lb/>
Unheil verdanken, hat auch das Theaterweseu gründlich corrumpirt. Was ist<lb/>
aus der &#x201E;schönen Welt des Scheins" geworden? Der gröbste Realismus und<lb/>
Naturalismus führen das große Wort. Die Prophetensonne hat ein Zeitalter<lb/>
inaugurirt, in welchem die Kunst fortwährend zu Handlangerdiensten im Tempel<lb/>
des Sinneneultus entwürdigt wird. Nichts ist mehr grell und &#x201E;wahr" genug.<lb/>
Das Schauspielhaus muß so hell beleuchtet sein, daß wir jeden Schminketupf<lb/>
und jeden Pinselstrich auf dem Gesichte der Primadonna erkennen, die glänzende<lb/>
&#x201E;Ausstattung" muß für die mangelhafte Darstellung entschädigen, auf die Treue<lb/>
im Costüm wird mehr Aufmerksamkeit verwendet als auf die Treue gegen den<lb/>
Dichter, und die modernen Toiletten verlangen wir so reich, daß sie die Gage<lb/>
mehrmals verschlingen würden, mithin auf andre Weise verdient werden müssen.<lb/>
Tieck rügte, daß in Kritiken körperliche Vorzüge der Schauspielerinnen erwähnt<lb/>
würden: Ach, was bliebe um mancher &#x201E;gefeierten Künstlerin" zu erwähnen, wenn<lb/>
nicht ihre Schönheit? Naturgaben, welche sonst allenfalls zu einer Carriörc<lb/>
im Balletcorps befähigten, begründen heutzutage den Beruf für die dramatische<lb/>
Kunst, und wenn man ehedem sagte, die Bühne führe oft zu leichtfertigen Lebens¬<lb/>
wandel, fo ließe sich jetzt hie und da der Satz umkehren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1858" next="#ID_1859"> Gestehen wir es uns doch ein: Ein großer Theil der Theater hat keinen<lb/>
Anspruch mehr darauf, zu deu Volksbildungsanstalten gezählt zu werden, aber<lb/>
daß es so ist, daran sind wir mit schuld. Wenn jetzt unter dem Eindruck der<lb/>
letzten Ereignisse der Ruf sich erhebt: Wir brauchen keine Theater so groß wie<lb/>
ein Circus, wir brauchen kein Gaslicht, wir brauchen kein frevelhaftes Spiel<lb/>
mit Feuer auf der Bühne! so kann man dem beistimmen. Allein wir brauchen<lb/>
überhaupt nicht so viele Schauspielhäuser, es ist nicht nothwendig, daß Possen¬<lb/>
reißer besoldet werden wie Staatsminister, und Gauklerinnen an einem Abend<lb/>
mehr verdienen als eine Arbeiterfamilie im Jahre, die Bühne ist nicht dazu da,<lb/>
das Hetärenthum zu glorificiren, sie ist auch kein anatomisches Theater, auf<lb/>
welchem der moralische Aussatz in seiner ganzen Scheußlichkeit gezeigt werden<lb/>
soll. Lassen wir uns nicht länger von jener Routinierweisheit imponiren, welche<lb/>
uns einreden möchte, es sei die Aufgabe des Theaters, dem Zuschauer fort und<lb/>
fort Reizmittel aufzutischen, er bedürfe derselben. Es ist nicht wahr; der Kern<lb/>
unsers Volkes nimmt heute so dankbar wie vor achtzig Jahren die Dichtungen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0570] Theater und Polizei. Bildung und Befähigung für seine Aufgabe besitzt, und sollte von ihm eine Caution verlangen, damit im Falle des Bankerotts nicht das Personal, wie es so oft geschieht, zugleich brotlos wird und auch noch verliert, was es sich ver^ dient hat. Die Folge solcher Bestimmungen würde freilich sein, daß die Zahl der Musen- tempel beträchtlich zusammenschmölze. Aber könnte das irgend jemand im Ernst für ein Unglück erklären? Der Brand vom 8. December sollte billigerweise uns alle zur ernsten Be¬ trachtung der ganzen Frage veranlassen. Das Bas-Empire, dem wir so viel Unheil verdanken, hat auch das Theaterweseu gründlich corrumpirt. Was ist aus der „schönen Welt des Scheins" geworden? Der gröbste Realismus und Naturalismus führen das große Wort. Die Prophetensonne hat ein Zeitalter inaugurirt, in welchem die Kunst fortwährend zu Handlangerdiensten im Tempel des Sinneneultus entwürdigt wird. Nichts ist mehr grell und „wahr" genug. Das Schauspielhaus muß so hell beleuchtet sein, daß wir jeden Schminketupf und jeden Pinselstrich auf dem Gesichte der Primadonna erkennen, die glänzende „Ausstattung" muß für die mangelhafte Darstellung entschädigen, auf die Treue im Costüm wird mehr Aufmerksamkeit verwendet als auf die Treue gegen den Dichter, und die modernen Toiletten verlangen wir so reich, daß sie die Gage mehrmals verschlingen würden, mithin auf andre Weise verdient werden müssen. Tieck rügte, daß in Kritiken körperliche Vorzüge der Schauspielerinnen erwähnt würden: Ach, was bliebe um mancher „gefeierten Künstlerin" zu erwähnen, wenn nicht ihre Schönheit? Naturgaben, welche sonst allenfalls zu einer Carriörc im Balletcorps befähigten, begründen heutzutage den Beruf für die dramatische Kunst, und wenn man ehedem sagte, die Bühne führe oft zu leichtfertigen Lebens¬ wandel, fo ließe sich jetzt hie und da der Satz umkehren. Gestehen wir es uns doch ein: Ein großer Theil der Theater hat keinen Anspruch mehr darauf, zu deu Volksbildungsanstalten gezählt zu werden, aber daß es so ist, daran sind wir mit schuld. Wenn jetzt unter dem Eindruck der letzten Ereignisse der Ruf sich erhebt: Wir brauchen keine Theater so groß wie ein Circus, wir brauchen kein Gaslicht, wir brauchen kein frevelhaftes Spiel mit Feuer auf der Bühne! so kann man dem beistimmen. Allein wir brauchen überhaupt nicht so viele Schauspielhäuser, es ist nicht nothwendig, daß Possen¬ reißer besoldet werden wie Staatsminister, und Gauklerinnen an einem Abend mehr verdienen als eine Arbeiterfamilie im Jahre, die Bühne ist nicht dazu da, das Hetärenthum zu glorificiren, sie ist auch kein anatomisches Theater, auf welchem der moralische Aussatz in seiner ganzen Scheußlichkeit gezeigt werden soll. Lassen wir uns nicht länger von jener Routinierweisheit imponiren, welche uns einreden möchte, es sei die Aufgabe des Theaters, dem Zuschauer fort und fort Reizmittel aufzutischen, er bedürfe derselben. Es ist nicht wahr; der Kern unsers Volkes nimmt heute so dankbar wie vor achtzig Jahren die Dichtungen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/570
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/570>, abgerufen am 14.05.2024.