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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Das Mädchen von Tisza-Gszlar.

lenkt der Charakter der Angeklagten und der Art des Mordes den Verdacht auf
eine ganz bestimmte Fährte. Von den drei Hauptangeklagten ist Salomon Schwarz
Schächter in Tisza-Eszlar, Leopold Braun Schächter der Gemeinde Teglas und
Abraham Buxbaum Schächter der Gemeinde Tareznl, alle drei bekleiden also ein
wichtiges rituelles Amt der jüdischen Gemeinde, und vollführt wurde der Mord
in der Shuagoge. So liegt es nahe, an ein religiöses Motiv zu deuten und
anzunehmen, daß, wie im Altertume und wohl uoch heute bei Wilden Menschen¬
opfer Sitte waren, wie religiöser Fanatismus im Mittelalter manchen auf den
Scheiterhaufen führte oder sonst martervollen Tod verhängte, und wie der Hexen¬
glaube zwar bei deu Gebildeten verschwunden ist, aber in breiten Schichten des
Volkes noch heute feste Wurzeln hat, so auch die Ermordung der Esther Svly-
mosi durch religiösen Aberglauben oder Fanatismus herbeigeführt worden sei.
Nun sind freilich die Juden das auserwählte Volk Gottes. Aber wie es uuter
ihnen neben reichen Bankiers auch blutarme Individuen, wie es "eben edel",
ehrbaren und wohlthätigen Juden ja auch unedle, nnehrbnre und eigennützige
giebt (bekanntlich ist die Zahl der jüdischen verbrecherischen Bankerotterer absolut
schou viel größer als die der christlichen), so wäre es gewiß anch denkbar, daß
es neben den "aufgeklärten" Refvrmjuden der europäischen Hauptstädte, die allen
Glauben über Bord geworfen haben, anch noch einige beschränkte Fanatiker in
einem abgelegenen Komitat Ungarns gäbe, die dem Gotte Jsaaks etwa mit
einem Christeumädchen ein besonders wohlgefälliges Opfer darzubringen glaubten.

Hierzu kommen aber ganz konkrete Verdachtsmomente. Marezianhi erzählt,
gleich nach Beginn der speziellen Kriminaluntersnchung habe der Untersuchungs¬
richter von Barry vou einem zum Christeutume übergetretenen Juden eine
Mitteilung erhalten, deren Inhalt einen Fingerzeig giebt, in welcher Richtung
sich die Untersuchung zu bewegen hat. Diese Mitteilung giebt genau die Zu¬
bereitung der "koscheren" und österlichen Opfermehle an. Hiernach muß beim
Mahlen des "koscheren" Mehls der Rnbbi, der Dajen (Rabbistellvertreter) oder
wenigstens der Tempeldiener zugegen sein, und aus diesem Mehle werden die
Opferbrode gebacken. Diese Opferbrode werden von dem Rabbiner gesegnet und
uuter einem Gebete, das zum Teil hebräisch gesprochen wird, an die Gläubigen
verteilt; jeder Familienvater teilt das erhaltene Stück an demselben Abende unter
Beobachtung derselben Zeremonie uuter seine Angehörigen ans, wodurch die das¬
selbe genießenden Gläubigen nach traditioneller altjüdischer Religivnsauschauung
von jeder Schuld befreit und gegen jede Krankheit und jedes Ungemach gefeit
werden. Das Opfermehl beziehen die einzelnen Gemeinden gewöhnlich von einer
im Gerüche besondrer Heiligkeit stehenden Gemeinde; seine Zubereitung erfolgt
nicht mich Vorschriften des Talmud, sondern nach altjüdischeu Überlieferungen,
in Gegenwart von dreizehn Juden aus verschiednen Gemeinden, die den Schwur
der strengsten Geheimhaltung ablegen müssen. Wie die Gemeinde, wo das
Opfermehl erzeugt wird, so erlangen auch diejenigen Glünbigen, welche die


Das Mädchen von Tisza-Gszlar.

lenkt der Charakter der Angeklagten und der Art des Mordes den Verdacht auf
eine ganz bestimmte Fährte. Von den drei Hauptangeklagten ist Salomon Schwarz
Schächter in Tisza-Eszlar, Leopold Braun Schächter der Gemeinde Teglas und
Abraham Buxbaum Schächter der Gemeinde Tareznl, alle drei bekleiden also ein
wichtiges rituelles Amt der jüdischen Gemeinde, und vollführt wurde der Mord
in der Shuagoge. So liegt es nahe, an ein religiöses Motiv zu deuten und
anzunehmen, daß, wie im Altertume und wohl uoch heute bei Wilden Menschen¬
opfer Sitte waren, wie religiöser Fanatismus im Mittelalter manchen auf den
Scheiterhaufen führte oder sonst martervollen Tod verhängte, und wie der Hexen¬
glaube zwar bei deu Gebildeten verschwunden ist, aber in breiten Schichten des
Volkes noch heute feste Wurzeln hat, so auch die Ermordung der Esther Svly-
mosi durch religiösen Aberglauben oder Fanatismus herbeigeführt worden sei.
Nun sind freilich die Juden das auserwählte Volk Gottes. Aber wie es uuter
ihnen neben reichen Bankiers auch blutarme Individuen, wie es »eben edel»,
ehrbaren und wohlthätigen Juden ja auch unedle, nnehrbnre und eigennützige
giebt (bekanntlich ist die Zahl der jüdischen verbrecherischen Bankerotterer absolut
schou viel größer als die der christlichen), so wäre es gewiß anch denkbar, daß
es neben den „aufgeklärten" Refvrmjuden der europäischen Hauptstädte, die allen
Glauben über Bord geworfen haben, anch noch einige beschränkte Fanatiker in
einem abgelegenen Komitat Ungarns gäbe, die dem Gotte Jsaaks etwa mit
einem Christeumädchen ein besonders wohlgefälliges Opfer darzubringen glaubten.

Hierzu kommen aber ganz konkrete Verdachtsmomente. Marezianhi erzählt,
gleich nach Beginn der speziellen Kriminaluntersnchung habe der Untersuchungs¬
richter von Barry vou einem zum Christeutume übergetretenen Juden eine
Mitteilung erhalten, deren Inhalt einen Fingerzeig giebt, in welcher Richtung
sich die Untersuchung zu bewegen hat. Diese Mitteilung giebt genau die Zu¬
bereitung der „koscheren" und österlichen Opfermehle an. Hiernach muß beim
Mahlen des „koscheren" Mehls der Rnbbi, der Dajen (Rabbistellvertreter) oder
wenigstens der Tempeldiener zugegen sein, und aus diesem Mehle werden die
Opferbrode gebacken. Diese Opferbrode werden von dem Rabbiner gesegnet und
uuter einem Gebete, das zum Teil hebräisch gesprochen wird, an die Gläubigen
verteilt; jeder Familienvater teilt das erhaltene Stück an demselben Abende unter
Beobachtung derselben Zeremonie uuter seine Angehörigen ans, wodurch die das¬
selbe genießenden Gläubigen nach traditioneller altjüdischer Religivnsauschauung
von jeder Schuld befreit und gegen jede Krankheit und jedes Ungemach gefeit
werden. Das Opfermehl beziehen die einzelnen Gemeinden gewöhnlich von einer
im Gerüche besondrer Heiligkeit stehenden Gemeinde; seine Zubereitung erfolgt
nicht mich Vorschriften des Talmud, sondern nach altjüdischeu Überlieferungen,
in Gegenwart von dreizehn Juden aus verschiednen Gemeinden, die den Schwur
der strengsten Geheimhaltung ablegen müssen. Wie die Gemeinde, wo das
Opfermehl erzeugt wird, so erlangen auch diejenigen Glünbigen, welche die


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[0288] Das Mädchen von Tisza-Gszlar. lenkt der Charakter der Angeklagten und der Art des Mordes den Verdacht auf eine ganz bestimmte Fährte. Von den drei Hauptangeklagten ist Salomon Schwarz Schächter in Tisza-Eszlar, Leopold Braun Schächter der Gemeinde Teglas und Abraham Buxbaum Schächter der Gemeinde Tareznl, alle drei bekleiden also ein wichtiges rituelles Amt der jüdischen Gemeinde, und vollführt wurde der Mord in der Shuagoge. So liegt es nahe, an ein religiöses Motiv zu deuten und anzunehmen, daß, wie im Altertume und wohl uoch heute bei Wilden Menschen¬ opfer Sitte waren, wie religiöser Fanatismus im Mittelalter manchen auf den Scheiterhaufen führte oder sonst martervollen Tod verhängte, und wie der Hexen¬ glaube zwar bei deu Gebildeten verschwunden ist, aber in breiten Schichten des Volkes noch heute feste Wurzeln hat, so auch die Ermordung der Esther Svly- mosi durch religiösen Aberglauben oder Fanatismus herbeigeführt worden sei. Nun sind freilich die Juden das auserwählte Volk Gottes. Aber wie es uuter ihnen neben reichen Bankiers auch blutarme Individuen, wie es »eben edel», ehrbaren und wohlthätigen Juden ja auch unedle, nnehrbnre und eigennützige giebt (bekanntlich ist die Zahl der jüdischen verbrecherischen Bankerotterer absolut schou viel größer als die der christlichen), so wäre es gewiß anch denkbar, daß es neben den „aufgeklärten" Refvrmjuden der europäischen Hauptstädte, die allen Glauben über Bord geworfen haben, anch noch einige beschränkte Fanatiker in einem abgelegenen Komitat Ungarns gäbe, die dem Gotte Jsaaks etwa mit einem Christeumädchen ein besonders wohlgefälliges Opfer darzubringen glaubten. Hierzu kommen aber ganz konkrete Verdachtsmomente. Marezianhi erzählt, gleich nach Beginn der speziellen Kriminaluntersnchung habe der Untersuchungs¬ richter von Barry vou einem zum Christeutume übergetretenen Juden eine Mitteilung erhalten, deren Inhalt einen Fingerzeig giebt, in welcher Richtung sich die Untersuchung zu bewegen hat. Diese Mitteilung giebt genau die Zu¬ bereitung der „koscheren" und österlichen Opfermehle an. Hiernach muß beim Mahlen des „koscheren" Mehls der Rnbbi, der Dajen (Rabbistellvertreter) oder wenigstens der Tempeldiener zugegen sein, und aus diesem Mehle werden die Opferbrode gebacken. Diese Opferbrode werden von dem Rabbiner gesegnet und uuter einem Gebete, das zum Teil hebräisch gesprochen wird, an die Gläubigen verteilt; jeder Familienvater teilt das erhaltene Stück an demselben Abende unter Beobachtung derselben Zeremonie uuter seine Angehörigen ans, wodurch die das¬ selbe genießenden Gläubigen nach traditioneller altjüdischer Religivnsauschauung von jeder Schuld befreit und gegen jede Krankheit und jedes Ungemach gefeit werden. Das Opfermehl beziehen die einzelnen Gemeinden gewöhnlich von einer im Gerüche besondrer Heiligkeit stehenden Gemeinde; seine Zubereitung erfolgt nicht mich Vorschriften des Talmud, sondern nach altjüdischeu Überlieferungen, in Gegenwart von dreizehn Juden aus verschiednen Gemeinden, die den Schwur der strengsten Geheimhaltung ablegen müssen. Wie die Gemeinde, wo das Opfermehl erzeugt wird, so erlangen auch diejenigen Glünbigen, welche die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/288>, abgerufen am 19.05.2024.