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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Das verflossene Jahr,

Sie hat in auswärtigen Angelegenheiten wie früher so auch im letzten Jahre
wenig Ehre eingelegt. Sie hat mit dem kleinen Volke der Boers einen für England
unersprießlicher Frieden schließen müssen, der einerseits wie eine Demütigung aus¬
sah, andrerseits andre widerwillige Unterthanen der Königin Victoria in Südafrika
bei Gelegenheit verleiten kann, das Beispiel der Sieger in den Drachen¬
bergen nachzuahmen. Das Ministerium Gladstone hat in Nordafrika zusehen
müssen, wie Frankreich seine Herrschaft über die südliche Mittelmeerküste durch
Eroberung von Tunis ausbreitete. Es hat in Afghanistan die Grenzen des
miglvindischcn Kaisertums entblößt. Es hat mit dem Versuche, Irland auf dem
Wege der Gesetzgebung zufriedenzustellen, bis jetzt so wenig erreicht, wie mit
den Nepressionsmaßregeln, welche diesen Versuch begleiteten und ihm folgten.
Das unglückliche Land bietet vielmehr das Schauspiel traurigster Anarchie dar.
Der ersehnte frcihändlerische Handelsvertrag mit Frankreich endlich ist auch im
letzten Jahre nicht ins Leben getreten, und es scheint, als ob derselbe überhaupt
nicht zustande kommen würde.

In Frankreich brachte das verflossene Jahr neue Wahlen, deren Ergebnis
die Herrschaft der republikanischen Partei noch mehr als bisher gesichert
und die Gegenparteien fast mundtot gemacht hat. Noch wichtiger war, daß
Gambetta nunmehr sich genötigt sah, aus der Reserve, in der er sich bisher
gehalten und geherrscht, herauszutreten und als Ministerpräsident die Verant¬
wortlichkeit für seine Politik zu übernehmen, die nach seinem Programm in ge¬
mäßigt demokratischen Sinne vorzugehen gewillt scheint. Der Krieg, den die
Franzosen in Tunis führten, hatte eine starke Entfremdung zwischen dem fran¬
zösischen und dem italienischen Volke zur Folge. Uns durfte er gleichgiltig sein.

Rußland hatte den Tot eines Zaren zu betrauern, dem es große Wohl¬
thaten verdankte, und dem von verruchter Mörderrotte dafür durch Dyncmnt-
bomben gedankt wurde. Auch in der nordamerikanischen Republik sah das ver¬
flossene Jahr das Staatsoberhaupt der meuchlerischen Kugel eines Elenden zum
Opfer fallen, der jetzt durch simulirter Wahnsinn der Sühne für sein Verbrechen
M entgehen trachtet. Von den kleinen Staaten Europas war wenig Denk¬
würdiges zu verzeichnen. Griechenland erhielt endlich auf Kosten der Türkei
die Vergrößerung in Thessalien und Epirus. die es. um zu gedeihen, bedürfte,
wenn auch nicht die, welche es verlangte. Rumänien hatte, kaum zur Königs¬
krone gelangt, die Anmaßung, dem österreichisch-ungarischen Nachbar in der
Donaufrage Grobheiten zu sagen, und erfuhr die ihm dafür gebührende Behand¬
lung. In Bulgarien endlich machte man die Erfahrung, daß freie Verfassungen
für innerlich unfreie Völker nichts taugen, sondern zur Anarchie führen, und der
junge Fürst versucht es jetzt nicht ohne gute Erfolge mit eiuer Art Dictatur. Es giebt
jedoch viel innerlich freiere und überdies viel gebildetere Völker, bei denen eine solche
Kur von der Krankheit der Demagogie und des hartnäckigen Doktrinarismus,
mit milderen Mitteln unternommen, kein übles Ergebnis liefern würde. ,


Grenzboten 1. 1382. 2
Das verflossene Jahr,

Sie hat in auswärtigen Angelegenheiten wie früher so auch im letzten Jahre
wenig Ehre eingelegt. Sie hat mit dem kleinen Volke der Boers einen für England
unersprießlicher Frieden schließen müssen, der einerseits wie eine Demütigung aus¬
sah, andrerseits andre widerwillige Unterthanen der Königin Victoria in Südafrika
bei Gelegenheit verleiten kann, das Beispiel der Sieger in den Drachen¬
bergen nachzuahmen. Das Ministerium Gladstone hat in Nordafrika zusehen
müssen, wie Frankreich seine Herrschaft über die südliche Mittelmeerküste durch
Eroberung von Tunis ausbreitete. Es hat in Afghanistan die Grenzen des
miglvindischcn Kaisertums entblößt. Es hat mit dem Versuche, Irland auf dem
Wege der Gesetzgebung zufriedenzustellen, bis jetzt so wenig erreicht, wie mit
den Nepressionsmaßregeln, welche diesen Versuch begleiteten und ihm folgten.
Das unglückliche Land bietet vielmehr das Schauspiel traurigster Anarchie dar.
Der ersehnte frcihändlerische Handelsvertrag mit Frankreich endlich ist auch im
letzten Jahre nicht ins Leben getreten, und es scheint, als ob derselbe überhaupt
nicht zustande kommen würde.

In Frankreich brachte das verflossene Jahr neue Wahlen, deren Ergebnis
die Herrschaft der republikanischen Partei noch mehr als bisher gesichert
und die Gegenparteien fast mundtot gemacht hat. Noch wichtiger war, daß
Gambetta nunmehr sich genötigt sah, aus der Reserve, in der er sich bisher
gehalten und geherrscht, herauszutreten und als Ministerpräsident die Verant¬
wortlichkeit für seine Politik zu übernehmen, die nach seinem Programm in ge¬
mäßigt demokratischen Sinne vorzugehen gewillt scheint. Der Krieg, den die
Franzosen in Tunis führten, hatte eine starke Entfremdung zwischen dem fran¬
zösischen und dem italienischen Volke zur Folge. Uns durfte er gleichgiltig sein.

Rußland hatte den Tot eines Zaren zu betrauern, dem es große Wohl¬
thaten verdankte, und dem von verruchter Mörderrotte dafür durch Dyncmnt-
bomben gedankt wurde. Auch in der nordamerikanischen Republik sah das ver¬
flossene Jahr das Staatsoberhaupt der meuchlerischen Kugel eines Elenden zum
Opfer fallen, der jetzt durch simulirter Wahnsinn der Sühne für sein Verbrechen
M entgehen trachtet. Von den kleinen Staaten Europas war wenig Denk¬
würdiges zu verzeichnen. Griechenland erhielt endlich auf Kosten der Türkei
die Vergrößerung in Thessalien und Epirus. die es. um zu gedeihen, bedürfte,
wenn auch nicht die, welche es verlangte. Rumänien hatte, kaum zur Königs¬
krone gelangt, die Anmaßung, dem österreichisch-ungarischen Nachbar in der
Donaufrage Grobheiten zu sagen, und erfuhr die ihm dafür gebührende Behand¬
lung. In Bulgarien endlich machte man die Erfahrung, daß freie Verfassungen
für innerlich unfreie Völker nichts taugen, sondern zur Anarchie führen, und der
junge Fürst versucht es jetzt nicht ohne gute Erfolge mit eiuer Art Dictatur. Es giebt
jedoch viel innerlich freiere und überdies viel gebildetere Völker, bei denen eine solche
Kur von der Krankheit der Demagogie und des hartnäckigen Doktrinarismus,
mit milderen Mitteln unternommen, kein übles Ergebnis liefern würde. ,


Grenzboten 1. 1382. 2
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[0017] Das verflossene Jahr, Sie hat in auswärtigen Angelegenheiten wie früher so auch im letzten Jahre wenig Ehre eingelegt. Sie hat mit dem kleinen Volke der Boers einen für England unersprießlicher Frieden schließen müssen, der einerseits wie eine Demütigung aus¬ sah, andrerseits andre widerwillige Unterthanen der Königin Victoria in Südafrika bei Gelegenheit verleiten kann, das Beispiel der Sieger in den Drachen¬ bergen nachzuahmen. Das Ministerium Gladstone hat in Nordafrika zusehen müssen, wie Frankreich seine Herrschaft über die südliche Mittelmeerküste durch Eroberung von Tunis ausbreitete. Es hat in Afghanistan die Grenzen des miglvindischcn Kaisertums entblößt. Es hat mit dem Versuche, Irland auf dem Wege der Gesetzgebung zufriedenzustellen, bis jetzt so wenig erreicht, wie mit den Nepressionsmaßregeln, welche diesen Versuch begleiteten und ihm folgten. Das unglückliche Land bietet vielmehr das Schauspiel traurigster Anarchie dar. Der ersehnte frcihändlerische Handelsvertrag mit Frankreich endlich ist auch im letzten Jahre nicht ins Leben getreten, und es scheint, als ob derselbe überhaupt nicht zustande kommen würde. In Frankreich brachte das verflossene Jahr neue Wahlen, deren Ergebnis die Herrschaft der republikanischen Partei noch mehr als bisher gesichert und die Gegenparteien fast mundtot gemacht hat. Noch wichtiger war, daß Gambetta nunmehr sich genötigt sah, aus der Reserve, in der er sich bisher gehalten und geherrscht, herauszutreten und als Ministerpräsident die Verant¬ wortlichkeit für seine Politik zu übernehmen, die nach seinem Programm in ge¬ mäßigt demokratischen Sinne vorzugehen gewillt scheint. Der Krieg, den die Franzosen in Tunis führten, hatte eine starke Entfremdung zwischen dem fran¬ zösischen und dem italienischen Volke zur Folge. Uns durfte er gleichgiltig sein. Rußland hatte den Tot eines Zaren zu betrauern, dem es große Wohl¬ thaten verdankte, und dem von verruchter Mörderrotte dafür durch Dyncmnt- bomben gedankt wurde. Auch in der nordamerikanischen Republik sah das ver¬ flossene Jahr das Staatsoberhaupt der meuchlerischen Kugel eines Elenden zum Opfer fallen, der jetzt durch simulirter Wahnsinn der Sühne für sein Verbrechen M entgehen trachtet. Von den kleinen Staaten Europas war wenig Denk¬ würdiges zu verzeichnen. Griechenland erhielt endlich auf Kosten der Türkei die Vergrößerung in Thessalien und Epirus. die es. um zu gedeihen, bedürfte, wenn auch nicht die, welche es verlangte. Rumänien hatte, kaum zur Königs¬ krone gelangt, die Anmaßung, dem österreichisch-ungarischen Nachbar in der Donaufrage Grobheiten zu sagen, und erfuhr die ihm dafür gebührende Behand¬ lung. In Bulgarien endlich machte man die Erfahrung, daß freie Verfassungen für innerlich unfreie Völker nichts taugen, sondern zur Anarchie führen, und der junge Fürst versucht es jetzt nicht ohne gute Erfolge mit eiuer Art Dictatur. Es giebt jedoch viel innerlich freiere und überdies viel gebildetere Völker, bei denen eine solche Kur von der Krankheit der Demagogie und des hartnäckigen Doktrinarismus, mit milderen Mitteln unternommen, kein übles Ergebnis liefern würde. , Grenzboten 1. 1382. 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/17>, abgerufen am 18.05.2024.