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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Zwei Faustkommcutare.

rechten Würdigung des dichterischen Objekts führe, beiß nur das historische Be¬
greifen eine solche vermitteln könne. Weit entfernt den Genuß abzuschwächen,
vermag eine derartige Betrachtungsweise denselben nur zu steigern, wie ja auch
bei Betrachtung eines Werkes der bildenden Kunst der Genuß desjenigen höher
ist, der zur warmen Empfindung auch die Einsicht in die Entwicklung der Kunst
und ihrer Gesetze mitbringt.

Zu einer solchen methodischen Behandlungsweise fordert der Goethische "Faust"
vor allem auf. Er ist so enge mit des Dichters ganzem Entwicklungsgange
verknüpft, er hat ihn so lange auf seiner Lebensbahn begleitet und steckt von
daher so voller Schwierigkeiten im einzelnen, daß hier eine vom Detail ausgehende
kritische Erläuterung so wenig entbehrt werden kann wie bei Dantes oft damit
in Parallele gestellter "Göttlicher Komödie."

Von den beiden im vorigen Jahre neu aufgetretene,: Faustkommentatoren
Marbach*) und Schröer^) stellt sich letzterer mit Bewußtsein uns diesen streng
philologisch-historischen Standpunkt und strebt vor allem nach möglichster Voll¬
ständigkeit der sachlichen und sprachlichen Erläuterungen. Er begleitet die Dichtung
durch fortlaufende erklärende Noten nnter dem Texte, nicht anders als irgend
ein lateinischer oder griechischer Autor in einer Weidmauuschcn oder Teubuerschcn
Ausgabe sich uns darstellt. Ebenso mit Bewußtsein tritt Marbach dem gegen¬
über. Er verwirft von vornherein ausdrücklich jene Jutrepativusmauicr, die,
wie er sich ausdrückt, "zur Erklärung der Aussprüche und Schilderungen des
Dichters Klatschgeschichten aus seinem Privatleben auftischt." Ähnlich sagt er
an einer andern Stelle: nachforschen, wer von dem Dichter hin und wieder als
Modell benutzt worden, heiße nichtsnutziger Klatschsucht sich hingeben. So stehen
sich zwei Pole der Faust-Erklärung in diesen beiden Kommentaren gegenüber.
Marbach vertritt entschieden ein bereits überwundenes Stadium derselben, wenn
er, alles "Störende" fernhaltend, bloß den Inhalt der Dichtung aufsuchen will,
um sich der Geistesfreude an dem Schönen und Herrlichen hinzugeben. Wie will
er diesen Inhalt finden ohne den leitenden Faden, den ihm die Lebensgeschichte
des Dichters und die Entstehungsgeschichte des Gedichts an die Hand giebt?
Ist er so sicher, daß ihn seine Philosophie nie irre leite" werde? Geht diese
doch von der nicht zutreffenden Voraussetzung aus, daß Goethes "Faust," ein im
Verlaufe von ungefähr 60 Jahren bruchstückweise erwachsenes Gedicht als ein
in sich geschlossenes organisches Kunstwerk zu erfassen und ihm eine überall er¬
sichtliche einheitliche Idee unterzulegen sei.

Einiges Mißtrauen erregt es schon, wenn Marbach in den Goethes Manen




Goethes Faust. Erster und zweiter Teil. Erklärt von Oswald Marbach. Stutt¬
gart, G. I. Göschenschc Verlagshandlung, 1881. XIII u. 431 S.
**) Faust von Goethe. Mit Einleitung und fortlaufender Erklärung herausgegeben
von K. I. Schröer. Erster und zweiter Teil. Heilbronn, Gebr. Henninge^ 1831. IXXXVI
U. 303, XXXIV u. 441 S,
Zwei Faustkommcutare.

rechten Würdigung des dichterischen Objekts führe, beiß nur das historische Be¬
greifen eine solche vermitteln könne. Weit entfernt den Genuß abzuschwächen,
vermag eine derartige Betrachtungsweise denselben nur zu steigern, wie ja auch
bei Betrachtung eines Werkes der bildenden Kunst der Genuß desjenigen höher
ist, der zur warmen Empfindung auch die Einsicht in die Entwicklung der Kunst
und ihrer Gesetze mitbringt.

Zu einer solchen methodischen Behandlungsweise fordert der Goethische „Faust"
vor allem auf. Er ist so enge mit des Dichters ganzem Entwicklungsgange
verknüpft, er hat ihn so lange auf seiner Lebensbahn begleitet und steckt von
daher so voller Schwierigkeiten im einzelnen, daß hier eine vom Detail ausgehende
kritische Erläuterung so wenig entbehrt werden kann wie bei Dantes oft damit
in Parallele gestellter „Göttlicher Komödie."

Von den beiden im vorigen Jahre neu aufgetretene,: Faustkommentatoren
Marbach*) und Schröer^) stellt sich letzterer mit Bewußtsein uns diesen streng
philologisch-historischen Standpunkt und strebt vor allem nach möglichster Voll¬
ständigkeit der sachlichen und sprachlichen Erläuterungen. Er begleitet die Dichtung
durch fortlaufende erklärende Noten nnter dem Texte, nicht anders als irgend
ein lateinischer oder griechischer Autor in einer Weidmauuschcn oder Teubuerschcn
Ausgabe sich uns darstellt. Ebenso mit Bewußtsein tritt Marbach dem gegen¬
über. Er verwirft von vornherein ausdrücklich jene Jutrepativusmauicr, die,
wie er sich ausdrückt, „zur Erklärung der Aussprüche und Schilderungen des
Dichters Klatschgeschichten aus seinem Privatleben auftischt." Ähnlich sagt er
an einer andern Stelle: nachforschen, wer von dem Dichter hin und wieder als
Modell benutzt worden, heiße nichtsnutziger Klatschsucht sich hingeben. So stehen
sich zwei Pole der Faust-Erklärung in diesen beiden Kommentaren gegenüber.
Marbach vertritt entschieden ein bereits überwundenes Stadium derselben, wenn
er, alles „Störende" fernhaltend, bloß den Inhalt der Dichtung aufsuchen will,
um sich der Geistesfreude an dem Schönen und Herrlichen hinzugeben. Wie will
er diesen Inhalt finden ohne den leitenden Faden, den ihm die Lebensgeschichte
des Dichters und die Entstehungsgeschichte des Gedichts an die Hand giebt?
Ist er so sicher, daß ihn seine Philosophie nie irre leite» werde? Geht diese
doch von der nicht zutreffenden Voraussetzung aus, daß Goethes „Faust," ein im
Verlaufe von ungefähr 60 Jahren bruchstückweise erwachsenes Gedicht als ein
in sich geschlossenes organisches Kunstwerk zu erfassen und ihm eine überall er¬
sichtliche einheitliche Idee unterzulegen sei.

Einiges Mißtrauen erregt es schon, wenn Marbach in den Goethes Manen




Goethes Faust. Erster und zweiter Teil. Erklärt von Oswald Marbach. Stutt¬
gart, G. I. Göschenschc Verlagshandlung, 1881. XIII u. 431 S.
**) Faust von Goethe. Mit Einleitung und fortlaufender Erklärung herausgegeben
von K. I. Schröer. Erster und zweiter Teil. Heilbronn, Gebr. Henninge^ 1831. IXXXVI
U. 303, XXXIV u. 441 S,
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[0238] Zwei Faustkommcutare. rechten Würdigung des dichterischen Objekts führe, beiß nur das historische Be¬ greifen eine solche vermitteln könne. Weit entfernt den Genuß abzuschwächen, vermag eine derartige Betrachtungsweise denselben nur zu steigern, wie ja auch bei Betrachtung eines Werkes der bildenden Kunst der Genuß desjenigen höher ist, der zur warmen Empfindung auch die Einsicht in die Entwicklung der Kunst und ihrer Gesetze mitbringt. Zu einer solchen methodischen Behandlungsweise fordert der Goethische „Faust" vor allem auf. Er ist so enge mit des Dichters ganzem Entwicklungsgange verknüpft, er hat ihn so lange auf seiner Lebensbahn begleitet und steckt von daher so voller Schwierigkeiten im einzelnen, daß hier eine vom Detail ausgehende kritische Erläuterung so wenig entbehrt werden kann wie bei Dantes oft damit in Parallele gestellter „Göttlicher Komödie." Von den beiden im vorigen Jahre neu aufgetretene,: Faustkommentatoren Marbach*) und Schröer^) stellt sich letzterer mit Bewußtsein uns diesen streng philologisch-historischen Standpunkt und strebt vor allem nach möglichster Voll¬ ständigkeit der sachlichen und sprachlichen Erläuterungen. Er begleitet die Dichtung durch fortlaufende erklärende Noten nnter dem Texte, nicht anders als irgend ein lateinischer oder griechischer Autor in einer Weidmauuschcn oder Teubuerschcn Ausgabe sich uns darstellt. Ebenso mit Bewußtsein tritt Marbach dem gegen¬ über. Er verwirft von vornherein ausdrücklich jene Jutrepativusmauicr, die, wie er sich ausdrückt, „zur Erklärung der Aussprüche und Schilderungen des Dichters Klatschgeschichten aus seinem Privatleben auftischt." Ähnlich sagt er an einer andern Stelle: nachforschen, wer von dem Dichter hin und wieder als Modell benutzt worden, heiße nichtsnutziger Klatschsucht sich hingeben. So stehen sich zwei Pole der Faust-Erklärung in diesen beiden Kommentaren gegenüber. Marbach vertritt entschieden ein bereits überwundenes Stadium derselben, wenn er, alles „Störende" fernhaltend, bloß den Inhalt der Dichtung aufsuchen will, um sich der Geistesfreude an dem Schönen und Herrlichen hinzugeben. Wie will er diesen Inhalt finden ohne den leitenden Faden, den ihm die Lebensgeschichte des Dichters und die Entstehungsgeschichte des Gedichts an die Hand giebt? Ist er so sicher, daß ihn seine Philosophie nie irre leite» werde? Geht diese doch von der nicht zutreffenden Voraussetzung aus, daß Goethes „Faust," ein im Verlaufe von ungefähr 60 Jahren bruchstückweise erwachsenes Gedicht als ein in sich geschlossenes organisches Kunstwerk zu erfassen und ihm eine überall er¬ sichtliche einheitliche Idee unterzulegen sei. Einiges Mißtrauen erregt es schon, wenn Marbach in den Goethes Manen Goethes Faust. Erster und zweiter Teil. Erklärt von Oswald Marbach. Stutt¬ gart, G. I. Göschenschc Verlagshandlung, 1881. XIII u. 431 S. **) Faust von Goethe. Mit Einleitung und fortlaufender Erklärung herausgegeben von K. I. Schröer. Erster und zweiter Teil. Heilbronn, Gebr. Henninge^ 1831. IXXXVI U. 303, XXXIV u. 441 S,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/238>, abgerufen am 02.06.2024.