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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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müsse", Verse spricht sie schlecht, und so lange eine Rolle die Höhe nicht erreicht
hat. vermag sie. anscheinend selbst noch nicht interessirt. auch das Publikum uicht
zu interessiren. Der einzige, wahrhaft zwingend wirkende Künstler aber, Sonnen¬
thal, erreichte und erreicht immer noch seine glänzendsten und überzeugendsten
Erfolge nicht in solchen Charakteren, die die stärkste innere und äußere An¬
spannung der Kraft verlangen, die sich voll ausgeben und das Schicksal energisch
herausfordern, wie Macbeth, Othello, Karl Moor, sondern in einer Reihe bi¬
zarrer, melodramatisch, sensationell wirkender Gestalten wie Wilbrcmdts Fabricius,
Daudets Uislvr g.!n6. Sucht und findet er aber seine Aufgaben im Revier der
klassischen Tragödie, dann sind es nicht die ganzen, sondern die halben Cha¬
raktere, in denen er durch die Wahrheit seiner Kunst ergreift und jeden Gedanken
an eine bessere Lösung des psychologischen Problems zurückweist. Sein Clavigo,
sein Hamlet, sein Heinrich der Sechste sind einige seiner berühmtesten Schöpfungen.
Er liebt die problematischen Naturen; selbst der Prinz von Homburg, für den
ihm der jugendliche, traumselige Timbre der Stimme abgeht, reizt ihn und giebt
ihm Gelegenheit zu einer interessanten Verkörperung dieser schwierigen und eigent¬
lich nur durch ein verwandtes Naturell ganz zu deckenden Rolle. Ist schon
diese Thatsache und der Umstand, daß Sonuenthal im richtigen Gefühl seiner
Kraft dem Umkreis des Tragischen, des "großen, gigantischen Schicksals" selbst
fernbleibt, interessant, so ist es für Beurteilung dessen, was die Stärke der
modernen Schauspielkunst bildet, noch interessanter. zu wissen, daß Sonnenthal,
ein in Wien vergötterter, von der deutschen Kritik so ziemlich übereinstimmend
begeistert anerkannter Künstler den Gipfel seines Könnens in der Tragödie erst
erreicht hat, nachdem er sich im Konversationsstück zur Vollendung ausgebildet.
Also unser erster Tragöde mußte es erst lernen, sich auf dem Parquet zu bewegen,
ehe er farbiges Kostüm erfolgreich anlegen kounte.

In dieser Thatsache liegt der Abriß einer Geschichte unseres ganzen modernen
Schauspielwesens. Der realistische Zug, der mit den dreißiger Jahren unsre
Literatur zu beherrschen anfing und der. anfänglich noch mit jung-romantischen
Elementen versetzt, diese mehr und mehr verließ, das Gefallen an dem vor aller
Augen liegenden, Wirklichen, das die politischen und sozialen Interessen und
Kämpfe unseres Jahrhunderts nur immer mehr steigerten, setzte sich, wie auf
allen Gebiete" der Kunst, natürlich auch auf der Bühne fest, und fester als
irgendwo sonst. Weder Jffland noch Kotzebue waren in dem Maße realistisch,
d- h. bloße Kopisten oder Photographen der Wirklichkeit, wie es Bcnedix und der
treffliche Töpfer, wie es die modernen Lustspieldichter bis auf L'Arrongc und
Moser-Schönthan waren und sind. Jene schlugen noch immer ein gewisses
Pathos und in ihren Farcen einen karrikirtcn Ton an, der sich von vornherein
als absichtliche Uebertreibung zu erkennen gab -- diese weisen einen künstleri¬
schen Dialog, sehr oft auch eine künstlerische Führung der Handlung mit we¬
nigen Ausnahmen ab, und wo sie selbst in dem Kultus des Realen versagten,


Grenzboten I. 1882. 4

müsse», Verse spricht sie schlecht, und so lange eine Rolle die Höhe nicht erreicht
hat. vermag sie. anscheinend selbst noch nicht interessirt. auch das Publikum uicht
zu interessiren. Der einzige, wahrhaft zwingend wirkende Künstler aber, Sonnen¬
thal, erreichte und erreicht immer noch seine glänzendsten und überzeugendsten
Erfolge nicht in solchen Charakteren, die die stärkste innere und äußere An¬
spannung der Kraft verlangen, die sich voll ausgeben und das Schicksal energisch
herausfordern, wie Macbeth, Othello, Karl Moor, sondern in einer Reihe bi¬
zarrer, melodramatisch, sensationell wirkender Gestalten wie Wilbrcmdts Fabricius,
Daudets Uislvr g.!n6. Sucht und findet er aber seine Aufgaben im Revier der
klassischen Tragödie, dann sind es nicht die ganzen, sondern die halben Cha¬
raktere, in denen er durch die Wahrheit seiner Kunst ergreift und jeden Gedanken
an eine bessere Lösung des psychologischen Problems zurückweist. Sein Clavigo,
sein Hamlet, sein Heinrich der Sechste sind einige seiner berühmtesten Schöpfungen.
Er liebt die problematischen Naturen; selbst der Prinz von Homburg, für den
ihm der jugendliche, traumselige Timbre der Stimme abgeht, reizt ihn und giebt
ihm Gelegenheit zu einer interessanten Verkörperung dieser schwierigen und eigent¬
lich nur durch ein verwandtes Naturell ganz zu deckenden Rolle. Ist schon
diese Thatsache und der Umstand, daß Sonuenthal im richtigen Gefühl seiner
Kraft dem Umkreis des Tragischen, des „großen, gigantischen Schicksals" selbst
fernbleibt, interessant, so ist es für Beurteilung dessen, was die Stärke der
modernen Schauspielkunst bildet, noch interessanter. zu wissen, daß Sonnenthal,
ein in Wien vergötterter, von der deutschen Kritik so ziemlich übereinstimmend
begeistert anerkannter Künstler den Gipfel seines Könnens in der Tragödie erst
erreicht hat, nachdem er sich im Konversationsstück zur Vollendung ausgebildet.
Also unser erster Tragöde mußte es erst lernen, sich auf dem Parquet zu bewegen,
ehe er farbiges Kostüm erfolgreich anlegen kounte.

In dieser Thatsache liegt der Abriß einer Geschichte unseres ganzen modernen
Schauspielwesens. Der realistische Zug, der mit den dreißiger Jahren unsre
Literatur zu beherrschen anfing und der. anfänglich noch mit jung-romantischen
Elementen versetzt, diese mehr und mehr verließ, das Gefallen an dem vor aller
Augen liegenden, Wirklichen, das die politischen und sozialen Interessen und
Kämpfe unseres Jahrhunderts nur immer mehr steigerten, setzte sich, wie auf
allen Gebiete» der Kunst, natürlich auch auf der Bühne fest, und fester als
irgendwo sonst. Weder Jffland noch Kotzebue waren in dem Maße realistisch,
d- h. bloße Kopisten oder Photographen der Wirklichkeit, wie es Bcnedix und der
treffliche Töpfer, wie es die modernen Lustspieldichter bis auf L'Arrongc und
Moser-Schönthan waren und sind. Jene schlugen noch immer ein gewisses
Pathos und in ihren Farcen einen karrikirtcn Ton an, der sich von vornherein
als absichtliche Uebertreibung zu erkennen gab — diese weisen einen künstleri¬
schen Dialog, sehr oft auch eine künstlerische Führung der Handlung mit we¬
nigen Ausnahmen ab, und wo sie selbst in dem Kultus des Realen versagten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/33>, abgerufen am 26.05.2024.