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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Zu Goethes funfzigjährigen Todestage.
(Goethe -I- den 22. März ^332.)

le fünfzigste Wiederkehr des Tages, an welchem Goethe unter
dem sehnsüchtigen Rufe: Mehr Licht! aus dieser Welt geschieden,
gilt es heute still zu begehen. Gedenktage, fröhliche und ernste,
fordern stets zu innerer, vertiefter Betrachtung auf; ringt sich an
ihnen doch aus unsrer Seele die Erkenntnis los, daß Nur die
geistige Erbschaft der Vorzeit angetreten haben, daß uns aber auch daraus die
ernste Pflicht des Weiterarbeitet erwächst. Mit Recht haben geistvolle Fran¬
zosen unser Jahrhundert das Jahrhundert Goethes genannt, denn der gewaltige
Mann, der auf der Höhe der Menschheit thronte, er hat dem ganzen Sein und
Denken dieses Jahrhunderts einen unverwischbaren Stempel aufgeprägt. Wenn
er von seinem dahingeschiedenen großen Genossen Schiller sagen durfte, daß
schon in ganzen Schaaren sich das Eigenste, was diesem allein gehörte, verbreite,
so traf er damit auch das Wort, das sein eignes Verhältnis zur Nachwelt be¬
zeichnet. Freilich ist die Erkenntnis von dem, was Goethe uns Deutschen ge¬
wesen, nur langsam unter uns aufgegangen. Wie die ersten christlichen Ge¬
meinden fern vom Getümmel des Werkeltages zusammenkamen, eine demütige,
friedfertige Schnur, nur in sich gewissen Glaubens lebend, dann aber von Jahr¬
zehnt zu Jahrzehnt der Siegesruf des Kreuzes immer stärker und stärker zum
Himmel schwoll, so hat auch die stille kleine Goethegcmeinde lange ein der Welt
scheinbar verborgenes Dasein gelebt, lernend und lehrend, bauend und erbauend.
Aber heute wissen die wenigen Alten, die aus ihr noch übrig geblieben sind
und des Lichtes sich erfreuen, daß auch der Same, den sie ausgestreut, zu herr¬
licher Ernte emporgediehen.


Grenzboten I. 1382. 80


Zu Goethes funfzigjährigen Todestage.
(Goethe -I- den 22. März ^332.)

le fünfzigste Wiederkehr des Tages, an welchem Goethe unter
dem sehnsüchtigen Rufe: Mehr Licht! aus dieser Welt geschieden,
gilt es heute still zu begehen. Gedenktage, fröhliche und ernste,
fordern stets zu innerer, vertiefter Betrachtung auf; ringt sich an
ihnen doch aus unsrer Seele die Erkenntnis los, daß Nur die
geistige Erbschaft der Vorzeit angetreten haben, daß uns aber auch daraus die
ernste Pflicht des Weiterarbeitet erwächst. Mit Recht haben geistvolle Fran¬
zosen unser Jahrhundert das Jahrhundert Goethes genannt, denn der gewaltige
Mann, der auf der Höhe der Menschheit thronte, er hat dem ganzen Sein und
Denken dieses Jahrhunderts einen unverwischbaren Stempel aufgeprägt. Wenn
er von seinem dahingeschiedenen großen Genossen Schiller sagen durfte, daß
schon in ganzen Schaaren sich das Eigenste, was diesem allein gehörte, verbreite,
so traf er damit auch das Wort, das sein eignes Verhältnis zur Nachwelt be¬
zeichnet. Freilich ist die Erkenntnis von dem, was Goethe uns Deutschen ge¬
wesen, nur langsam unter uns aufgegangen. Wie die ersten christlichen Ge¬
meinden fern vom Getümmel des Werkeltages zusammenkamen, eine demütige,
friedfertige Schnur, nur in sich gewissen Glaubens lebend, dann aber von Jahr¬
zehnt zu Jahrzehnt der Siegesruf des Kreuzes immer stärker und stärker zum
Himmel schwoll, so hat auch die stille kleine Goethegcmeinde lange ein der Welt
scheinbar verborgenes Dasein gelebt, lernend und lehrend, bauend und erbauend.
Aber heute wissen die wenigen Alten, die aus ihr noch übrig geblieben sind
und des Lichtes sich erfreuen, daß auch der Same, den sie ausgestreut, zu herr¬
licher Ernte emporgediehen.


Grenzboten I. 1382. 80
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[0637] [Abbildung] Zu Goethes funfzigjährigen Todestage. (Goethe -I- den 22. März ^332.) le fünfzigste Wiederkehr des Tages, an welchem Goethe unter dem sehnsüchtigen Rufe: Mehr Licht! aus dieser Welt geschieden, gilt es heute still zu begehen. Gedenktage, fröhliche und ernste, fordern stets zu innerer, vertiefter Betrachtung auf; ringt sich an ihnen doch aus unsrer Seele die Erkenntnis los, daß Nur die geistige Erbschaft der Vorzeit angetreten haben, daß uns aber auch daraus die ernste Pflicht des Weiterarbeitet erwächst. Mit Recht haben geistvolle Fran¬ zosen unser Jahrhundert das Jahrhundert Goethes genannt, denn der gewaltige Mann, der auf der Höhe der Menschheit thronte, er hat dem ganzen Sein und Denken dieses Jahrhunderts einen unverwischbaren Stempel aufgeprägt. Wenn er von seinem dahingeschiedenen großen Genossen Schiller sagen durfte, daß schon in ganzen Schaaren sich das Eigenste, was diesem allein gehörte, verbreite, so traf er damit auch das Wort, das sein eignes Verhältnis zur Nachwelt be¬ zeichnet. Freilich ist die Erkenntnis von dem, was Goethe uns Deutschen ge¬ wesen, nur langsam unter uns aufgegangen. Wie die ersten christlichen Ge¬ meinden fern vom Getümmel des Werkeltages zusammenkamen, eine demütige, friedfertige Schnur, nur in sich gewissen Glaubens lebend, dann aber von Jahr¬ zehnt zu Jahrzehnt der Siegesruf des Kreuzes immer stärker und stärker zum Himmel schwoll, so hat auch die stille kleine Goethegcmeinde lange ein der Welt scheinbar verborgenes Dasein gelebt, lernend und lehrend, bauend und erbauend. Aber heute wissen die wenigen Alten, die aus ihr noch übrig geblieben sind und des Lichtes sich erfreuen, daß auch der Same, den sie ausgestreut, zu herr¬ licher Ernte emporgediehen. Grenzboten I. 1382. 80

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/637>, abgerufen am 19.05.2024.