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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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unter, sondern neben und in wesentlichen Beziehungen über der Volksvertretung
steht. Die Verfassung Deutschlands und ebenso diejenige Preußens hat nur
die Wirkung, einesteils einen bestimmten Kreis der Regierungshandlungen an
Gesetze zu binden, welche aus der Vereinbarung der Vertreter des Vvlkswillens
mit der Regierung, im deutschen Reiche zugleich mit demjenigen der vom
Bundesrate repräsentirten Landesregierungen hervorgehen, andernteils den
unverantwortlichen Souverän mit verantwortlichen Räten zu umgeben, die
von ihm gewählt und seine Organe, nicht die der Parlamente, nicht ein bloßer
Ausschuß der wechselnden Mehrheiten in den letztern sind. Die Beamten sollen
sich immer bewußt sein, daß sie dem Könige gegenüberstehen, dem sie Treue
geschworen haben. Das eigne Wählen soll dadurch nicht beschränkt sein, wohl
aber sind die politischen Beamten verpflichtet, die Wühler über Entstellung
und Verleumdung der Regierungspvlitik aufzuklären, und es ist ihnen, da der
König regiert, nicht gestattet, bei den Wahlen gegen dieselbe zu wirken.

Die Fortschrittspartei hielt es für zweckmäßig, diesen Erlaß im Reichs¬
tage zur Sprache zu bringen. Das Selbstgefühl ihrer Wortführer aber und
das Machtbewußtsein der ganzen Genossenschaft trugen bei diesem Unternehmen
nichts davon, wozu sie sich hätten Glück wünschen können. Der Reichskanzler
wies ihre Angriffe in einer großen Rede, die zu seinem besten gehört und
namentlich in ihren staatsrechtlichen Teilen ein Muster realistischer Betrachtung
und Schlußfolgerung ist, in einer Weise zurück, die jeden überzeugen mußte,
der den Schein vom Wesen und die Phrase von der Thatsache zu unter¬
scheiden weiß.

Sonst war von den Verhandlungen des Reichstages zunächst diejenige von
Interesse, welche durch die Jnterpellation Hertlings wegen Besserung des Loses
der Fabrikarbeiter hervorgerufen wurde. Der Reichskanzler gab dabei die Er¬
klärung ab, sich jetzt überzeugt zu haben, daß die von ihm erstrebte Unfall¬
versicherung nicht ohne korporative Unterlagen zustande kommen dürfte, mit
andern Worten, daß, wenn die Sache praktischen Erfolg haben sollte, eine
Arbeitsteilung eingerichtet werden müßte, die den Interessenten mit heranziehe
und den Ersatz des Schadens mit der Aufgabe verbinde, ihn durch Aufsicht
seltner werden zu lassen. Bezeichnend war in der Rede der Passus, der die
Stellung des Kaisers zu der Frage kennzeichnete. Er sieht sie, wie der Kanzler
behauptete, mit den An gen seiner Vorfahren an, er folgt der Tradition seiner
Dynastie, nach der es ihm als Regentenpflicht erscheint, sich der Schwachen im
wirtschaftlichen Kampfe anzunehmen. Wie Friedrich der Große der "König der
Bettler" sein wollte, wie Friedrich Wilhelm III. mit Stein und Hardenberg die
Bauern von der Hörigkeit befreite und dadurch wohlhabender und unabhängiger
machte, so ist Kaiser Wilhelm von dem edeln Ehrgeiz beseelt, für die heutzutage
schwächste Klasse des Volkes eine Besserung ihrer Lage anzubahnen. Man
ersah daraus, daß der Entwurf des Unfallversicherungsgesetzes dein Reichstage


unter, sondern neben und in wesentlichen Beziehungen über der Volksvertretung
steht. Die Verfassung Deutschlands und ebenso diejenige Preußens hat nur
die Wirkung, einesteils einen bestimmten Kreis der Regierungshandlungen an
Gesetze zu binden, welche aus der Vereinbarung der Vertreter des Vvlkswillens
mit der Regierung, im deutschen Reiche zugleich mit demjenigen der vom
Bundesrate repräsentirten Landesregierungen hervorgehen, andernteils den
unverantwortlichen Souverän mit verantwortlichen Räten zu umgeben, die
von ihm gewählt und seine Organe, nicht die der Parlamente, nicht ein bloßer
Ausschuß der wechselnden Mehrheiten in den letztern sind. Die Beamten sollen
sich immer bewußt sein, daß sie dem Könige gegenüberstehen, dem sie Treue
geschworen haben. Das eigne Wählen soll dadurch nicht beschränkt sein, wohl
aber sind die politischen Beamten verpflichtet, die Wühler über Entstellung
und Verleumdung der Regierungspvlitik aufzuklären, und es ist ihnen, da der
König regiert, nicht gestattet, bei den Wahlen gegen dieselbe zu wirken.

Die Fortschrittspartei hielt es für zweckmäßig, diesen Erlaß im Reichs¬
tage zur Sprache zu bringen. Das Selbstgefühl ihrer Wortführer aber und
das Machtbewußtsein der ganzen Genossenschaft trugen bei diesem Unternehmen
nichts davon, wozu sie sich hätten Glück wünschen können. Der Reichskanzler
wies ihre Angriffe in einer großen Rede, die zu seinem besten gehört und
namentlich in ihren staatsrechtlichen Teilen ein Muster realistischer Betrachtung
und Schlußfolgerung ist, in einer Weise zurück, die jeden überzeugen mußte,
der den Schein vom Wesen und die Phrase von der Thatsache zu unter¬
scheiden weiß.

Sonst war von den Verhandlungen des Reichstages zunächst diejenige von
Interesse, welche durch die Jnterpellation Hertlings wegen Besserung des Loses
der Fabrikarbeiter hervorgerufen wurde. Der Reichskanzler gab dabei die Er¬
klärung ab, sich jetzt überzeugt zu haben, daß die von ihm erstrebte Unfall¬
versicherung nicht ohne korporative Unterlagen zustande kommen dürfte, mit
andern Worten, daß, wenn die Sache praktischen Erfolg haben sollte, eine
Arbeitsteilung eingerichtet werden müßte, die den Interessenten mit heranziehe
und den Ersatz des Schadens mit der Aufgabe verbinde, ihn durch Aufsicht
seltner werden zu lassen. Bezeichnend war in der Rede der Passus, der die
Stellung des Kaisers zu der Frage kennzeichnete. Er sieht sie, wie der Kanzler
behauptete, mit den An gen seiner Vorfahren an, er folgt der Tradition seiner
Dynastie, nach der es ihm als Regentenpflicht erscheint, sich der Schwachen im
wirtschaftlichen Kampfe anzunehmen. Wie Friedrich der Große der „König der
Bettler" sein wollte, wie Friedrich Wilhelm III. mit Stein und Hardenberg die
Bauern von der Hörigkeit befreite und dadurch wohlhabender und unabhängiger
machte, so ist Kaiser Wilhelm von dem edeln Ehrgeiz beseelt, für die heutzutage
schwächste Klasse des Volkes eine Besserung ihrer Lage anzubahnen. Man
ersah daraus, daß der Entwurf des Unfallversicherungsgesetzes dein Reichstage


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/10>, abgerufen am 26.05.2024.