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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die christlich-soziale Bewegung in England.

bestehenden Verhältnisse an, aber sie erklärten die Reform der eignen Person
auf dem Wege der Religion als das einzige Mittel zur Abhilfe. Denn nicht
durch Parlamentsbeschlüsse lasse sich das Herz des Menschen ändern, wohl aber
durch Unterordnung des einzelnen Ichs unter das Ganze, durch Assoziativ" statt
durch Konkurrenz. Die Bibel aber wurde zum Führer sür eine solche Reform erklärt,
denn "statt ein Buch zu sein, um die Armen in Ordnung zu halten, ist sie von
Anfang bis zum Ende geschrieben, um die Reichen in Ordnung zu halten....
Für einmal, wo sie die Rechte des Eigentums predigt und die Pflichten der
Arbeit, predigt sie zehnmal über die Pflichten des Eigentums und die Rechte
der Arbeit."

Der Beginn der Thätigkeit der genannten Männer, die bald aus den
höchsten Kreisen der englischen Gesellschaft Mitarbeiter erhielten, bestand in der
Herausgabe einer Wochenschrift, die später aus Mangel an Fonds einging, in
der aber nicht bloß soziale Fragen, sondern alle Themata berührt wurden, welche
für Geist und Herz des Volkes bildend sein konnten. Von größerer Bedeutung
war die Anbahnung eines persönlichen Verkehrs mit den Arbeitern durch Bro¬
schüren, Zeitungen und Vorträge in öffentlichen Versammlungen, und hier stellten
sie einen Grundsatz auf, der niemals von den christlichen Sozialreformern in
England verlassen wurde: "Niemals sollen diejenigen, die nicht Christen sind,
wegen ihres Unglaubens von uns angegriffen oder geschmäht werden." Bren¬
tano bemerkt hierbei ausdrücklich, daß niemals von den Teilnehmern der Be¬
wegung ein christliches Bekenntnis verlangt wurde, und daß man, wo es sich
um die Arbeit für die Lösung der sozialen Frage handelte, nicht die Gemein¬
schaft mit völlig ungläubigen Oweniten und den extremsten Chartisten scheute,
sofern diese nur nicht die gemeinsame Arbeit in ihrem Sinne ausbeuten wollten.
In der ganzen Darstellung Brentanos findet sich nichts davon, daß die Christ¬
lich-Sozialen in England durch Wahlagitationen in die Tagespolitik eingegriffen
hätten. Die Beweggründe hierfür vermögen wir nicht zu beurteilen. Sie sind
sicher auch darin begründet, daß das Wahlrecht jenseits des Kanals bekanntlich
noch immer ein sehr begrenztes ist und nicht bis zu den Arbeitern reicht. Aber
gerade dadurch, daß jene Männer in jenen immerhin unerquicklichen und oft
wüsten Kämpfen ihre Kräfte nicht verbrauchten, konnten sie dieselben zur Besse¬
rung der schreiendsten Not verwenden. Es gelang ihnen, bald Fühlung mit den
Arbeitern selbst zu bekommen, und so konnten sie ihren Kampf gegen die Kon¬
kurrenz und für die Assoziation bald in praktische Reformen umsetzen. Das
ganze große Genossenschaftswesen, von dem nur ein Ableger durch V. A. Huber
und Schulze-Delitzsch auf den Kontinent verpflanzt wurde, ist das Werk der
christlich-sozialen Bewegung in England.

Bei uns hat leider das Genossenschaftswesen eine andre Richtung einge¬
schlagen. Selbst die Konsumvereine halten sich hier in engen Grenzen, und das
Schwergewicht liegt in den Kreditgenossenschaften, die fast garnicht den arbei-


Die christlich-soziale Bewegung in England.

bestehenden Verhältnisse an, aber sie erklärten die Reform der eignen Person
auf dem Wege der Religion als das einzige Mittel zur Abhilfe. Denn nicht
durch Parlamentsbeschlüsse lasse sich das Herz des Menschen ändern, wohl aber
durch Unterordnung des einzelnen Ichs unter das Ganze, durch Assoziativ» statt
durch Konkurrenz. Die Bibel aber wurde zum Führer sür eine solche Reform erklärt,
denn „statt ein Buch zu sein, um die Armen in Ordnung zu halten, ist sie von
Anfang bis zum Ende geschrieben, um die Reichen in Ordnung zu halten....
Für einmal, wo sie die Rechte des Eigentums predigt und die Pflichten der
Arbeit, predigt sie zehnmal über die Pflichten des Eigentums und die Rechte
der Arbeit."

Der Beginn der Thätigkeit der genannten Männer, die bald aus den
höchsten Kreisen der englischen Gesellschaft Mitarbeiter erhielten, bestand in der
Herausgabe einer Wochenschrift, die später aus Mangel an Fonds einging, in
der aber nicht bloß soziale Fragen, sondern alle Themata berührt wurden, welche
für Geist und Herz des Volkes bildend sein konnten. Von größerer Bedeutung
war die Anbahnung eines persönlichen Verkehrs mit den Arbeitern durch Bro¬
schüren, Zeitungen und Vorträge in öffentlichen Versammlungen, und hier stellten
sie einen Grundsatz auf, der niemals von den christlichen Sozialreformern in
England verlassen wurde: „Niemals sollen diejenigen, die nicht Christen sind,
wegen ihres Unglaubens von uns angegriffen oder geschmäht werden." Bren¬
tano bemerkt hierbei ausdrücklich, daß niemals von den Teilnehmern der Be¬
wegung ein christliches Bekenntnis verlangt wurde, und daß man, wo es sich
um die Arbeit für die Lösung der sozialen Frage handelte, nicht die Gemein¬
schaft mit völlig ungläubigen Oweniten und den extremsten Chartisten scheute,
sofern diese nur nicht die gemeinsame Arbeit in ihrem Sinne ausbeuten wollten.
In der ganzen Darstellung Brentanos findet sich nichts davon, daß die Christ¬
lich-Sozialen in England durch Wahlagitationen in die Tagespolitik eingegriffen
hätten. Die Beweggründe hierfür vermögen wir nicht zu beurteilen. Sie sind
sicher auch darin begründet, daß das Wahlrecht jenseits des Kanals bekanntlich
noch immer ein sehr begrenztes ist und nicht bis zu den Arbeitern reicht. Aber
gerade dadurch, daß jene Männer in jenen immerhin unerquicklichen und oft
wüsten Kämpfen ihre Kräfte nicht verbrauchten, konnten sie dieselben zur Besse¬
rung der schreiendsten Not verwenden. Es gelang ihnen, bald Fühlung mit den
Arbeitern selbst zu bekommen, und so konnten sie ihren Kampf gegen die Kon¬
kurrenz und für die Assoziation bald in praktische Reformen umsetzen. Das
ganze große Genossenschaftswesen, von dem nur ein Ableger durch V. A. Huber
und Schulze-Delitzsch auf den Kontinent verpflanzt wurde, ist das Werk der
christlich-sozialen Bewegung in England.

Bei uns hat leider das Genossenschaftswesen eine andre Richtung einge¬
schlagen. Selbst die Konsumvereine halten sich hier in engen Grenzen, und das
Schwergewicht liegt in den Kreditgenossenschaften, die fast garnicht den arbei-


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[0180] Die christlich-soziale Bewegung in England. bestehenden Verhältnisse an, aber sie erklärten die Reform der eignen Person auf dem Wege der Religion als das einzige Mittel zur Abhilfe. Denn nicht durch Parlamentsbeschlüsse lasse sich das Herz des Menschen ändern, wohl aber durch Unterordnung des einzelnen Ichs unter das Ganze, durch Assoziativ» statt durch Konkurrenz. Die Bibel aber wurde zum Führer sür eine solche Reform erklärt, denn „statt ein Buch zu sein, um die Armen in Ordnung zu halten, ist sie von Anfang bis zum Ende geschrieben, um die Reichen in Ordnung zu halten.... Für einmal, wo sie die Rechte des Eigentums predigt und die Pflichten der Arbeit, predigt sie zehnmal über die Pflichten des Eigentums und die Rechte der Arbeit." Der Beginn der Thätigkeit der genannten Männer, die bald aus den höchsten Kreisen der englischen Gesellschaft Mitarbeiter erhielten, bestand in der Herausgabe einer Wochenschrift, die später aus Mangel an Fonds einging, in der aber nicht bloß soziale Fragen, sondern alle Themata berührt wurden, welche für Geist und Herz des Volkes bildend sein konnten. Von größerer Bedeutung war die Anbahnung eines persönlichen Verkehrs mit den Arbeitern durch Bro¬ schüren, Zeitungen und Vorträge in öffentlichen Versammlungen, und hier stellten sie einen Grundsatz auf, der niemals von den christlichen Sozialreformern in England verlassen wurde: „Niemals sollen diejenigen, die nicht Christen sind, wegen ihres Unglaubens von uns angegriffen oder geschmäht werden." Bren¬ tano bemerkt hierbei ausdrücklich, daß niemals von den Teilnehmern der Be¬ wegung ein christliches Bekenntnis verlangt wurde, und daß man, wo es sich um die Arbeit für die Lösung der sozialen Frage handelte, nicht die Gemein¬ schaft mit völlig ungläubigen Oweniten und den extremsten Chartisten scheute, sofern diese nur nicht die gemeinsame Arbeit in ihrem Sinne ausbeuten wollten. In der ganzen Darstellung Brentanos findet sich nichts davon, daß die Christ¬ lich-Sozialen in England durch Wahlagitationen in die Tagespolitik eingegriffen hätten. Die Beweggründe hierfür vermögen wir nicht zu beurteilen. Sie sind sicher auch darin begründet, daß das Wahlrecht jenseits des Kanals bekanntlich noch immer ein sehr begrenztes ist und nicht bis zu den Arbeitern reicht. Aber gerade dadurch, daß jene Männer in jenen immerhin unerquicklichen und oft wüsten Kämpfen ihre Kräfte nicht verbrauchten, konnten sie dieselben zur Besse¬ rung der schreiendsten Not verwenden. Es gelang ihnen, bald Fühlung mit den Arbeitern selbst zu bekommen, und so konnten sie ihren Kampf gegen die Kon¬ kurrenz und für die Assoziation bald in praktische Reformen umsetzen. Das ganze große Genossenschaftswesen, von dem nur ein Ableger durch V. A. Huber und Schulze-Delitzsch auf den Kontinent verpflanzt wurde, ist das Werk der christlich-sozialen Bewegung in England. Bei uns hat leider das Genossenschaftswesen eine andre Richtung einge¬ schlagen. Selbst die Konsumvereine halten sich hier in engen Grenzen, und das Schwergewicht liegt in den Kreditgenossenschaften, die fast garnicht den arbei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/180>, abgerufen am 20.05.2024.