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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Line Geschichte der amerikanischen Literatur.

der Verfasser schon im Jahre 1866 aufgenommen; seitdem hat er das Land
nicht wieder besucht. Offenbar vermochte Nichol auch der Entwicklung, welche
ihren Höhepunkt in Emerson, dem Hauptvertreter der Schule des amerikanischen
Idealismus, erreicht hat, leichter zu folgen als der neueren, bei der ihn die
Sicherheit des Urteils bisweilen verläßt.

Manche wollen die amerikanische Literatur bloß als ein Anhängsel der
englischen gelten lassen. Ohne Zweifel find die englischen Vorbilder noch heute
von bedeutendem Einflüsse auf sie. Man genießt in Amerika nicht ungestraft
das Recht unbeschränkten Nachdrucks. Der amerikanische Geist wird infolge des
Nachdrucks aller verkäuflichen englischen Schriften mehr als ihm zuträglich unter
dem Einflüsse des englischen Geistes gehalten und die einheimischen Schriftsteller
haben aus demselben Grunde größere Mühe, den Markt zu erobern. Es ist
eine Thatsache, daß die amerikanische Literatur bis heute trotz hervorragender
Leistungen keine eigentlichen Klassiker aufweist, d. h. Schriftsteller, welche die
Welt mit Leistungen, zugleich neu in ihrem ideellen Gehalt und formvollendet,
beschenkt hätte. Dennoch fehlt es keineswegs an schöpferischen und bahn¬
brechenden Geistern, welche amerikansches Natioualwesen verkörpern. Die wenigsten
bedeutenden amerikanischen Schriftsteller entbehren jener Originalität, welche von
der Natur ihres Landes und der Eigenart seiner Bevölkerung herrührt. Gerade
insofern als die gesamte Literatur der Vereinigten Staaten ursprüngliches ame¬
rikanisches Element verkörpert, muß man von einer amerikanischen Literatur als
etwas selbständigem sprechen. Und es will scheinen, daß in dem Maße, als
der amerikanische dichtende Geist sich der nie dagewesenen Großartigkeit eines
nationalen Lebens, dem ein ganzer Kontinent zur Ausbreitung gegeben ist, in
dem sich verschiedne Rassen verschmelzen, und das durch ein öffentliches Leben auf
der freiesten Grundlage bewegt ist, bewußt wird, Dichtungen entstehen, welche
nach Form und Inhalt die neue Welt tief und voll atmen. Emerson und
Thoreau strömen von diesem Atem etwas aus; noch mehr der in Deutschland
wenig bekannte, obwohl durch Ferdinand Freiligrath in beredten Worten ange¬
kündigte Walt Whitmcm.

Nichol räumt das Vorhandensein einer selbständigen amerikanischen Lite¬
ratur vollkommen ein, wenn er sich auch gerade gegen die vom englischen und
europäischen Vorbild am meisten befreite Literatur am skeptischsten verhält. In
einer guten Einleitung weist er ans die Einflüsse der geographischen Lage, des
Klimas, der Regierung und Kultivirung Amerikas hin, welche mit derselben Not¬
wendigkeit eine selbständige Entwicklung des Geistes hervorrufen mußte", wie
das in Bezug auf die Phhsische Beschaffenheit der Amerikaner anerkannt der
Fall ist.

Nichol findet eine Übereinstimmung zwischen Rußland und Amerika darin,
daß weder das eine noch das andre einen seiner politischen Macht entsprechenden
Ausdruck in der Literatur gefunden habe. Amerika habe zwar mehr denn eine


Line Geschichte der amerikanischen Literatur.

der Verfasser schon im Jahre 1866 aufgenommen; seitdem hat er das Land
nicht wieder besucht. Offenbar vermochte Nichol auch der Entwicklung, welche
ihren Höhepunkt in Emerson, dem Hauptvertreter der Schule des amerikanischen
Idealismus, erreicht hat, leichter zu folgen als der neueren, bei der ihn die
Sicherheit des Urteils bisweilen verläßt.

Manche wollen die amerikanische Literatur bloß als ein Anhängsel der
englischen gelten lassen. Ohne Zweifel find die englischen Vorbilder noch heute
von bedeutendem Einflüsse auf sie. Man genießt in Amerika nicht ungestraft
das Recht unbeschränkten Nachdrucks. Der amerikanische Geist wird infolge des
Nachdrucks aller verkäuflichen englischen Schriften mehr als ihm zuträglich unter
dem Einflüsse des englischen Geistes gehalten und die einheimischen Schriftsteller
haben aus demselben Grunde größere Mühe, den Markt zu erobern. Es ist
eine Thatsache, daß die amerikanische Literatur bis heute trotz hervorragender
Leistungen keine eigentlichen Klassiker aufweist, d. h. Schriftsteller, welche die
Welt mit Leistungen, zugleich neu in ihrem ideellen Gehalt und formvollendet,
beschenkt hätte. Dennoch fehlt es keineswegs an schöpferischen und bahn¬
brechenden Geistern, welche amerikansches Natioualwesen verkörpern. Die wenigsten
bedeutenden amerikanischen Schriftsteller entbehren jener Originalität, welche von
der Natur ihres Landes und der Eigenart seiner Bevölkerung herrührt. Gerade
insofern als die gesamte Literatur der Vereinigten Staaten ursprüngliches ame¬
rikanisches Element verkörpert, muß man von einer amerikanischen Literatur als
etwas selbständigem sprechen. Und es will scheinen, daß in dem Maße, als
der amerikanische dichtende Geist sich der nie dagewesenen Großartigkeit eines
nationalen Lebens, dem ein ganzer Kontinent zur Ausbreitung gegeben ist, in
dem sich verschiedne Rassen verschmelzen, und das durch ein öffentliches Leben auf
der freiesten Grundlage bewegt ist, bewußt wird, Dichtungen entstehen, welche
nach Form und Inhalt die neue Welt tief und voll atmen. Emerson und
Thoreau strömen von diesem Atem etwas aus; noch mehr der in Deutschland
wenig bekannte, obwohl durch Ferdinand Freiligrath in beredten Worten ange¬
kündigte Walt Whitmcm.

Nichol räumt das Vorhandensein einer selbständigen amerikanischen Lite¬
ratur vollkommen ein, wenn er sich auch gerade gegen die vom englischen und
europäischen Vorbild am meisten befreite Literatur am skeptischsten verhält. In
einer guten Einleitung weist er ans die Einflüsse der geographischen Lage, des
Klimas, der Regierung und Kultivirung Amerikas hin, welche mit derselben Not¬
wendigkeit eine selbständige Entwicklung des Geistes hervorrufen mußte», wie
das in Bezug auf die Phhsische Beschaffenheit der Amerikaner anerkannt der
Fall ist.

Nichol findet eine Übereinstimmung zwischen Rußland und Amerika darin,
daß weder das eine noch das andre einen seiner politischen Macht entsprechenden
Ausdruck in der Literatur gefunden habe. Amerika habe zwar mehr denn eine


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[0567] Line Geschichte der amerikanischen Literatur. der Verfasser schon im Jahre 1866 aufgenommen; seitdem hat er das Land nicht wieder besucht. Offenbar vermochte Nichol auch der Entwicklung, welche ihren Höhepunkt in Emerson, dem Hauptvertreter der Schule des amerikanischen Idealismus, erreicht hat, leichter zu folgen als der neueren, bei der ihn die Sicherheit des Urteils bisweilen verläßt. Manche wollen die amerikanische Literatur bloß als ein Anhängsel der englischen gelten lassen. Ohne Zweifel find die englischen Vorbilder noch heute von bedeutendem Einflüsse auf sie. Man genießt in Amerika nicht ungestraft das Recht unbeschränkten Nachdrucks. Der amerikanische Geist wird infolge des Nachdrucks aller verkäuflichen englischen Schriften mehr als ihm zuträglich unter dem Einflüsse des englischen Geistes gehalten und die einheimischen Schriftsteller haben aus demselben Grunde größere Mühe, den Markt zu erobern. Es ist eine Thatsache, daß die amerikanische Literatur bis heute trotz hervorragender Leistungen keine eigentlichen Klassiker aufweist, d. h. Schriftsteller, welche die Welt mit Leistungen, zugleich neu in ihrem ideellen Gehalt und formvollendet, beschenkt hätte. Dennoch fehlt es keineswegs an schöpferischen und bahn¬ brechenden Geistern, welche amerikansches Natioualwesen verkörpern. Die wenigsten bedeutenden amerikanischen Schriftsteller entbehren jener Originalität, welche von der Natur ihres Landes und der Eigenart seiner Bevölkerung herrührt. Gerade insofern als die gesamte Literatur der Vereinigten Staaten ursprüngliches ame¬ rikanisches Element verkörpert, muß man von einer amerikanischen Literatur als etwas selbständigem sprechen. Und es will scheinen, daß in dem Maße, als der amerikanische dichtende Geist sich der nie dagewesenen Großartigkeit eines nationalen Lebens, dem ein ganzer Kontinent zur Ausbreitung gegeben ist, in dem sich verschiedne Rassen verschmelzen, und das durch ein öffentliches Leben auf der freiesten Grundlage bewegt ist, bewußt wird, Dichtungen entstehen, welche nach Form und Inhalt die neue Welt tief und voll atmen. Emerson und Thoreau strömen von diesem Atem etwas aus; noch mehr der in Deutschland wenig bekannte, obwohl durch Ferdinand Freiligrath in beredten Worten ange¬ kündigte Walt Whitmcm. Nichol räumt das Vorhandensein einer selbständigen amerikanischen Lite¬ ratur vollkommen ein, wenn er sich auch gerade gegen die vom englischen und europäischen Vorbild am meisten befreite Literatur am skeptischsten verhält. In einer guten Einleitung weist er ans die Einflüsse der geographischen Lage, des Klimas, der Regierung und Kultivirung Amerikas hin, welche mit derselben Not¬ wendigkeit eine selbständige Entwicklung des Geistes hervorrufen mußte», wie das in Bezug auf die Phhsische Beschaffenheit der Amerikaner anerkannt der Fall ist. Nichol findet eine Übereinstimmung zwischen Rußland und Amerika darin, daß weder das eine noch das andre einen seiner politischen Macht entsprechenden Ausdruck in der Literatur gefunden habe. Amerika habe zwar mehr denn eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/567>, abgerufen am 20.05.2024.