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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Line Geschichte der amerikanische" Literatur.

Amerika berühmt gewordenen Autor, den Romanschriftsteller Cable, der es
meisterhaft versteht, die kreolisch-französische Vergangenheit seiner Vaterstadt
New Orleans lebendig zu machen. Hätte Nichol noch Cables Landsmann, den
Negcrdialcktdichter Harris, in Betracht gezogen und sich der südlichen Geburt
Mare Twains erinnert, so würde er wohl seinen Satz: "Im Süden der Ver¬
einigten Staaten ist kaum von eigner Literatur die Rede" weniger schroff hin¬
gestellt haben.

Nichol schließt sein fleißiges und im großen und ganzen hochzuschätzendes
Werk mit einem zusammenfassenden Urteil über den Charakter der amerikanischen
Literatur. Wir lernen durch dasselbe "och einmal die beste Eigenschaft der Kritik
Nichols, welche in kurzen Sätzen vortrefflich zu generalisiren versteht, kennen.
Sein Endurteil, das wir etwas verkürzt wiedergeben, lautet: "Zu den an-
ziehendsten Vorzügen der amerikanischen Literatur gehört ihre Frische, ihre Frei¬
heit von Zwang, der Mut, mit dem die besten Schriftsteller sich der Erörterung
von Fragen und Problemen zuwenden, vor welchen sich die ängstliche und
schlaffere Gesellschaft der alten Welt schent. Der selbstauferlegte Zwang hat
seine guten Seiten, aber der Mangel an Ursprünglichkeit ist ein schwerer Ver¬
lust, und so konnten wir vieles von einer ungebundenen und abenteuerlustigen
Literatur lernen. Eine andre Erscheinung der amerikanischen Literatur ist ihre
Vielseitigkeit; was ihr an Tiefe abgeht, ersetzt sie durch Breite. Sie wendet sich
an einen riesig ausgedehnten Leserkreis, an ein Volk, wo Mann, Frau und
Kind lesen können und lesen. Die Amerikaner sind das am meisten lesende Volk.
Abgesehen von den Zeitungen herrscht in der populären Literatur kein engher¬
ziger Geist; sie erhöht weder, noch verachtet sie eine Klasse und übersieht bei¬
nahe gänzlich die Schranken, welche in andern Ländern die obern Zehntausend
von den untern Millionen trennen." Wovor Nichol etwas ängstlich warnen zu
müssen glaubt, ist, daß der Geist demokratischer Zuchtlosigkeit und der Harlekins-
Posse nicht die Herrschaft in der amerikanischen Literatur jetzt, wo so viele bis¬
her würdig ausgefüllte Sitze leer geworden seien, an sich reiße.


Robert Lutz.


Line Geschichte der amerikanische» Literatur.

Amerika berühmt gewordenen Autor, den Romanschriftsteller Cable, der es
meisterhaft versteht, die kreolisch-französische Vergangenheit seiner Vaterstadt
New Orleans lebendig zu machen. Hätte Nichol noch Cables Landsmann, den
Negcrdialcktdichter Harris, in Betracht gezogen und sich der südlichen Geburt
Mare Twains erinnert, so würde er wohl seinen Satz: „Im Süden der Ver¬
einigten Staaten ist kaum von eigner Literatur die Rede" weniger schroff hin¬
gestellt haben.

Nichol schließt sein fleißiges und im großen und ganzen hochzuschätzendes
Werk mit einem zusammenfassenden Urteil über den Charakter der amerikanischen
Literatur. Wir lernen durch dasselbe »och einmal die beste Eigenschaft der Kritik
Nichols, welche in kurzen Sätzen vortrefflich zu generalisiren versteht, kennen.
Sein Endurteil, das wir etwas verkürzt wiedergeben, lautet: „Zu den an-
ziehendsten Vorzügen der amerikanischen Literatur gehört ihre Frische, ihre Frei¬
heit von Zwang, der Mut, mit dem die besten Schriftsteller sich der Erörterung
von Fragen und Problemen zuwenden, vor welchen sich die ängstliche und
schlaffere Gesellschaft der alten Welt schent. Der selbstauferlegte Zwang hat
seine guten Seiten, aber der Mangel an Ursprünglichkeit ist ein schwerer Ver¬
lust, und so konnten wir vieles von einer ungebundenen und abenteuerlustigen
Literatur lernen. Eine andre Erscheinung der amerikanischen Literatur ist ihre
Vielseitigkeit; was ihr an Tiefe abgeht, ersetzt sie durch Breite. Sie wendet sich
an einen riesig ausgedehnten Leserkreis, an ein Volk, wo Mann, Frau und
Kind lesen können und lesen. Die Amerikaner sind das am meisten lesende Volk.
Abgesehen von den Zeitungen herrscht in der populären Literatur kein engher¬
ziger Geist; sie erhöht weder, noch verachtet sie eine Klasse und übersieht bei¬
nahe gänzlich die Schranken, welche in andern Ländern die obern Zehntausend
von den untern Millionen trennen." Wovor Nichol etwas ängstlich warnen zu
müssen glaubt, ist, daß der Geist demokratischer Zuchtlosigkeit und der Harlekins-
Posse nicht die Herrschaft in der amerikanischen Literatur jetzt, wo so viele bis¬
her würdig ausgefüllte Sitze leer geworden seien, an sich reiße.


Robert Lutz.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/575>, abgerufen am 20.05.2024.