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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Eine Übersetzung von Goethes Faust.

ersten Teils und dann noch bis etwa 1825 vollständig ruhte, obwohl der Plan
des zweiten Teils gleich im Anfang mit entworfen war. Er war in spino-
zistischer Denkweise angefangen, und der philophische Inhalt mußte im Kantischen
Sinne modifizirt werden. Denn der Spinozismus war im Feuer der Kantischen
Kritik zu einem stumpfen Werkzeuge der Wissenschaft geworden.

Der Weg, welchen nun unser neuer Faustausleger eingeschlagen hat, ist
ein andrer als der bisher beliebte. Er fing nicht damit an, zuerst den Sinn
des Ganzen aufschließen zu wollen und dann die Erklärung der Einzelheiten
daraus abzuleiten, sondern er versuchte sich zuerst an einzelnen Rätseln im
zweiten Teil und löste sie nach den gewöhnlichen Grundsätzen auf. Als er diese
Übung in vielen Fällen fortgesetzt hatte, fand er, daß durch das ganze Werk
hindurch eine konstante Übereinstimmung herrsche in der Anwendung gewisser
Bilder für bestimmte Begriffe; sodaß sich förmlich eine Art bildlicher Faustsprache
herausstellte, die, sobald man sie einmal erfaßte, das Verständnis mehr und
mehr erleichterte. Nach ihm bedeutet z. B. die Sonne stets die volle, klare
Erkenntnis, der Mond mit seinem bläulichen Scheine das Ideal, die Morgen¬
dämmerung die beginnende halbe Erkenntnis, das nächtliche Flimmern die irr¬
tümliche Erkenntnis, die Sterne, die vom Himmel fallen, Einfälle, der Regenbogen
die dichterische Darstellung des Erkannten. Alles Feuchte, Wasserartige bedeutet
Sprache, Worte und Reden, sodaß das im Regen zurückgeworfene, gebrochene
Sonnenbild die Erkenntnis bedeutet, die sich in der Sprache des Dichters wieder-
spiegelt. Ans einer solchen über das ganze Werk sich erstreckenden "Übersetzung"
aller bildlichen Ausdrücke und schließlich auch aller Figuren des Stückes in
Begriffe erschloß der Verfasser erst den Plan des Ganzen.

Meine Aufgabe hier soll es nur sein, die Berechtigung einer solchen Auf¬
fassung nachzuweisen. Zunächst, daß der Wert des Kunstwerks nicht darunter
leide, wenn man es ganz und gar als eine zusammenhängende Reihe von Allegorien
betrachtet; denn die größten und tiefste Weisheit enthaltenden Dichtungen haben
immer die allegorische Form benutzt. Es kommt nur darauf an, daß die Bilder
von echter dichterischer Kraft belebt werden und der verborgene Sinn wirklich
ein großer und bedeutender sei. Schreibt doch Schiller an Goethe (am
26. Juni 1797): "Ich bin überhaupt sehr erwartend, wie die Volksfabel sich
dem philosophischen Teil des Ganzen anschmiegen wird." Und bereits in einem
Briefe Goethes an Pfenniger vom 26. April 1774 heißt es: "Daß das alles,
was unter uns Widerspruch scheint, nur Wortstreit ist, der daraus entspringt,
weil ich die Sachen unter andern Kombinationen Hantire und drum ihre Rela¬
tivität ausdrückend, sie anders benennen muß." Damit scheint die Existenz einer
besondern Faustsprache vom Dichter selbst konstatirt zu sein. Sodann aber
kam es mir darauf an, zu zeigen, daß seit Goethes innigem Verkehr mit Schiller
alle seine philosophischen Bemühungen durch den Einfluß Kants bestimmt
wurden. Damit ist aber die Berechtigung für den Verfasser unsers Buches


Eine Übersetzung von Goethes Faust.

ersten Teils und dann noch bis etwa 1825 vollständig ruhte, obwohl der Plan
des zweiten Teils gleich im Anfang mit entworfen war. Er war in spino-
zistischer Denkweise angefangen, und der philophische Inhalt mußte im Kantischen
Sinne modifizirt werden. Denn der Spinozismus war im Feuer der Kantischen
Kritik zu einem stumpfen Werkzeuge der Wissenschaft geworden.

Der Weg, welchen nun unser neuer Faustausleger eingeschlagen hat, ist
ein andrer als der bisher beliebte. Er fing nicht damit an, zuerst den Sinn
des Ganzen aufschließen zu wollen und dann die Erklärung der Einzelheiten
daraus abzuleiten, sondern er versuchte sich zuerst an einzelnen Rätseln im
zweiten Teil und löste sie nach den gewöhnlichen Grundsätzen auf. Als er diese
Übung in vielen Fällen fortgesetzt hatte, fand er, daß durch das ganze Werk
hindurch eine konstante Übereinstimmung herrsche in der Anwendung gewisser
Bilder für bestimmte Begriffe; sodaß sich förmlich eine Art bildlicher Faustsprache
herausstellte, die, sobald man sie einmal erfaßte, das Verständnis mehr und
mehr erleichterte. Nach ihm bedeutet z. B. die Sonne stets die volle, klare
Erkenntnis, der Mond mit seinem bläulichen Scheine das Ideal, die Morgen¬
dämmerung die beginnende halbe Erkenntnis, das nächtliche Flimmern die irr¬
tümliche Erkenntnis, die Sterne, die vom Himmel fallen, Einfälle, der Regenbogen
die dichterische Darstellung des Erkannten. Alles Feuchte, Wasserartige bedeutet
Sprache, Worte und Reden, sodaß das im Regen zurückgeworfene, gebrochene
Sonnenbild die Erkenntnis bedeutet, die sich in der Sprache des Dichters wieder-
spiegelt. Ans einer solchen über das ganze Werk sich erstreckenden „Übersetzung"
aller bildlichen Ausdrücke und schließlich auch aller Figuren des Stückes in
Begriffe erschloß der Verfasser erst den Plan des Ganzen.

Meine Aufgabe hier soll es nur sein, die Berechtigung einer solchen Auf¬
fassung nachzuweisen. Zunächst, daß der Wert des Kunstwerks nicht darunter
leide, wenn man es ganz und gar als eine zusammenhängende Reihe von Allegorien
betrachtet; denn die größten und tiefste Weisheit enthaltenden Dichtungen haben
immer die allegorische Form benutzt. Es kommt nur darauf an, daß die Bilder
von echter dichterischer Kraft belebt werden und der verborgene Sinn wirklich
ein großer und bedeutender sei. Schreibt doch Schiller an Goethe (am
26. Juni 1797): „Ich bin überhaupt sehr erwartend, wie die Volksfabel sich
dem philosophischen Teil des Ganzen anschmiegen wird." Und bereits in einem
Briefe Goethes an Pfenniger vom 26. April 1774 heißt es: „Daß das alles,
was unter uns Widerspruch scheint, nur Wortstreit ist, der daraus entspringt,
weil ich die Sachen unter andern Kombinationen Hantire und drum ihre Rela¬
tivität ausdrückend, sie anders benennen muß." Damit scheint die Existenz einer
besondern Faustsprache vom Dichter selbst konstatirt zu sein. Sodann aber
kam es mir darauf an, zu zeigen, daß seit Goethes innigem Verkehr mit Schiller
alle seine philosophischen Bemühungen durch den Einfluß Kants bestimmt
wurden. Damit ist aber die Berechtigung für den Verfasser unsers Buches


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[0239] Eine Übersetzung von Goethes Faust. ersten Teils und dann noch bis etwa 1825 vollständig ruhte, obwohl der Plan des zweiten Teils gleich im Anfang mit entworfen war. Er war in spino- zistischer Denkweise angefangen, und der philophische Inhalt mußte im Kantischen Sinne modifizirt werden. Denn der Spinozismus war im Feuer der Kantischen Kritik zu einem stumpfen Werkzeuge der Wissenschaft geworden. Der Weg, welchen nun unser neuer Faustausleger eingeschlagen hat, ist ein andrer als der bisher beliebte. Er fing nicht damit an, zuerst den Sinn des Ganzen aufschließen zu wollen und dann die Erklärung der Einzelheiten daraus abzuleiten, sondern er versuchte sich zuerst an einzelnen Rätseln im zweiten Teil und löste sie nach den gewöhnlichen Grundsätzen auf. Als er diese Übung in vielen Fällen fortgesetzt hatte, fand er, daß durch das ganze Werk hindurch eine konstante Übereinstimmung herrsche in der Anwendung gewisser Bilder für bestimmte Begriffe; sodaß sich förmlich eine Art bildlicher Faustsprache herausstellte, die, sobald man sie einmal erfaßte, das Verständnis mehr und mehr erleichterte. Nach ihm bedeutet z. B. die Sonne stets die volle, klare Erkenntnis, der Mond mit seinem bläulichen Scheine das Ideal, die Morgen¬ dämmerung die beginnende halbe Erkenntnis, das nächtliche Flimmern die irr¬ tümliche Erkenntnis, die Sterne, die vom Himmel fallen, Einfälle, der Regenbogen die dichterische Darstellung des Erkannten. Alles Feuchte, Wasserartige bedeutet Sprache, Worte und Reden, sodaß das im Regen zurückgeworfene, gebrochene Sonnenbild die Erkenntnis bedeutet, die sich in der Sprache des Dichters wieder- spiegelt. Ans einer solchen über das ganze Werk sich erstreckenden „Übersetzung" aller bildlichen Ausdrücke und schließlich auch aller Figuren des Stückes in Begriffe erschloß der Verfasser erst den Plan des Ganzen. Meine Aufgabe hier soll es nur sein, die Berechtigung einer solchen Auf¬ fassung nachzuweisen. Zunächst, daß der Wert des Kunstwerks nicht darunter leide, wenn man es ganz und gar als eine zusammenhängende Reihe von Allegorien betrachtet; denn die größten und tiefste Weisheit enthaltenden Dichtungen haben immer die allegorische Form benutzt. Es kommt nur darauf an, daß die Bilder von echter dichterischer Kraft belebt werden und der verborgene Sinn wirklich ein großer und bedeutender sei. Schreibt doch Schiller an Goethe (am 26. Juni 1797): „Ich bin überhaupt sehr erwartend, wie die Volksfabel sich dem philosophischen Teil des Ganzen anschmiegen wird." Und bereits in einem Briefe Goethes an Pfenniger vom 26. April 1774 heißt es: „Daß das alles, was unter uns Widerspruch scheint, nur Wortstreit ist, der daraus entspringt, weil ich die Sachen unter andern Kombinationen Hantire und drum ihre Rela¬ tivität ausdrückend, sie anders benennen muß." Damit scheint die Existenz einer besondern Faustsprache vom Dichter selbst konstatirt zu sein. Sodann aber kam es mir darauf an, zu zeigen, daß seit Goethes innigem Verkehr mit Schiller alle seine philosophischen Bemühungen durch den Einfluß Kants bestimmt wurden. Damit ist aber die Berechtigung für den Verfasser unsers Buches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/239>, abgerufen am 16.06.2024.