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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Eine Wanderung durch Schwaben.

fünfzehnten Jahrhundert die eigentlich herrschende Kunst. Unter den Wand¬
malereien bewundern wir in erster Linie das große, erst in den letzten Jahren
wieder unter der Tünche hervorgezogene Gemälde über dem Triumphbogen des
Ulmer Münsters, das in der feierlich milden Weise eines Fiesole das jüngste
Gericht vorführt; unter den Glasmalereien die zwei im Jahre 1480 von
Hans Wild entworfenen Fenster des Münsters, die zu dem Schönsten gehören,
was die Glasmalerei hervorgebracht hat. Der Hauptschwerpunkt liegt aber von
jetzt an in den Tafelbildern.

Was hat die Malerei damals im Laufe weniger Jahrzehnte für eine Ent¬
wicklung durchgemacht! Einseitig und eng begrenzt war sie während des ganzen
Mittelalters. Der sündhafte Mensch als solcher war kein Gegenstand der Dar¬
stellung. Die Malerei war eine Art Bilderschrift, welche denen, die nicht lesen
konnten, das Heil verkündigte und das Leben der heiligen Personen vorführte.
Der menschliche Körper wurde nur dargestellt als Hülle des unsterblichen
Körpers. Schlanke emporgereckte Gestalten treten uns entgegen, von langen
Gewändern umflossen, die den Körperbau kaum erkennen lassen. Jemehr das
Körperliche zurücktrat, umsomehr konnte aus dem anmutigen Gesicht und den
gemütstiefen Augen das Göttliche hervorleuchten. Und in keiner irdischen Um¬
gebung durften diese Gestalten sich aufhalten. Deshalb dehnt sich hinter den
Figuren prangender Goldgrund aus, der sie in eine himmlische Ferne entrückt,
wo es nichts als Reines und Heiliges giebt und wo der sterbliche Mensch mit
feiner Qual nicht hinkommt. Freilich mußte bei diesen Grundsätzen die Malerei
allmählich erstarren, und es war höchste Zeit, daß im fünfzehnten Jahrhundert
der große Umschwung kam. Noch im Jahre 1431 brach der alte Maler
Lukas Moser in den Jcuumerruf aus: "Schrie kunst schrie und klag dich ser,
din begert jecz nienen mer." Und gleichzeitig verkündigten auch schon die
Eycks der staunenden Welt das neue Evangelium. Die Kunst erkennt in der
Wiedergabe des Wirklichen ihre wichtigste Aufgabe. Abgethan ist der Naturhaß,
der Haß alles Irdischen, welcher die Malerei des Mittelalters beseelte. In
Klopstocks Wort:


Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,
Schöner ein froh Gesicht

kann man die Grundanschauung des modernen Malers zusammenfassen. Er
greift "hinein ins volle Menschenleben" und versucht die Natur und den
menschlichen Körper in seinem Werke so wiederzugeben, wie sie sich auf der
Netzhaut des Auges spiegeln. In allen Gauen Deutschlands, am Rhein, in
Franken und andern Orten, findet die neue Lehre Anklang, aber Schwaben eilt
allen übrigen Landschaften voraus. In allen Städten treten einzelne Meister
auf, die geschlossene Schulen um sich bilden. Nach Nördlingen überträgt die
niederländische Richtung Friedrich Herlin, ihm schließt sich im sechzehnten Jahr-


Eine Wanderung durch Schwaben.

fünfzehnten Jahrhundert die eigentlich herrschende Kunst. Unter den Wand¬
malereien bewundern wir in erster Linie das große, erst in den letzten Jahren
wieder unter der Tünche hervorgezogene Gemälde über dem Triumphbogen des
Ulmer Münsters, das in der feierlich milden Weise eines Fiesole das jüngste
Gericht vorführt; unter den Glasmalereien die zwei im Jahre 1480 von
Hans Wild entworfenen Fenster des Münsters, die zu dem Schönsten gehören,
was die Glasmalerei hervorgebracht hat. Der Hauptschwerpunkt liegt aber von
jetzt an in den Tafelbildern.

Was hat die Malerei damals im Laufe weniger Jahrzehnte für eine Ent¬
wicklung durchgemacht! Einseitig und eng begrenzt war sie während des ganzen
Mittelalters. Der sündhafte Mensch als solcher war kein Gegenstand der Dar¬
stellung. Die Malerei war eine Art Bilderschrift, welche denen, die nicht lesen
konnten, das Heil verkündigte und das Leben der heiligen Personen vorführte.
Der menschliche Körper wurde nur dargestellt als Hülle des unsterblichen
Körpers. Schlanke emporgereckte Gestalten treten uns entgegen, von langen
Gewändern umflossen, die den Körperbau kaum erkennen lassen. Jemehr das
Körperliche zurücktrat, umsomehr konnte aus dem anmutigen Gesicht und den
gemütstiefen Augen das Göttliche hervorleuchten. Und in keiner irdischen Um¬
gebung durften diese Gestalten sich aufhalten. Deshalb dehnt sich hinter den
Figuren prangender Goldgrund aus, der sie in eine himmlische Ferne entrückt,
wo es nichts als Reines und Heiliges giebt und wo der sterbliche Mensch mit
feiner Qual nicht hinkommt. Freilich mußte bei diesen Grundsätzen die Malerei
allmählich erstarren, und es war höchste Zeit, daß im fünfzehnten Jahrhundert
der große Umschwung kam. Noch im Jahre 1431 brach der alte Maler
Lukas Moser in den Jcuumerruf aus: „Schrie kunst schrie und klag dich ser,
din begert jecz nienen mer." Und gleichzeitig verkündigten auch schon die
Eycks der staunenden Welt das neue Evangelium. Die Kunst erkennt in der
Wiedergabe des Wirklichen ihre wichtigste Aufgabe. Abgethan ist der Naturhaß,
der Haß alles Irdischen, welcher die Malerei des Mittelalters beseelte. In
Klopstocks Wort:


Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,
Schöner ein froh Gesicht

kann man die Grundanschauung des modernen Malers zusammenfassen. Er
greift „hinein ins volle Menschenleben" und versucht die Natur und den
menschlichen Körper in seinem Werke so wiederzugeben, wie sie sich auf der
Netzhaut des Auges spiegeln. In allen Gauen Deutschlands, am Rhein, in
Franken und andern Orten, findet die neue Lehre Anklang, aber Schwaben eilt
allen übrigen Landschaften voraus. In allen Städten treten einzelne Meister
auf, die geschlossene Schulen um sich bilden. Nach Nördlingen überträgt die
niederländische Richtung Friedrich Herlin, ihm schließt sich im sechzehnten Jahr-


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[0027] Eine Wanderung durch Schwaben. fünfzehnten Jahrhundert die eigentlich herrschende Kunst. Unter den Wand¬ malereien bewundern wir in erster Linie das große, erst in den letzten Jahren wieder unter der Tünche hervorgezogene Gemälde über dem Triumphbogen des Ulmer Münsters, das in der feierlich milden Weise eines Fiesole das jüngste Gericht vorführt; unter den Glasmalereien die zwei im Jahre 1480 von Hans Wild entworfenen Fenster des Münsters, die zu dem Schönsten gehören, was die Glasmalerei hervorgebracht hat. Der Hauptschwerpunkt liegt aber von jetzt an in den Tafelbildern. Was hat die Malerei damals im Laufe weniger Jahrzehnte für eine Ent¬ wicklung durchgemacht! Einseitig und eng begrenzt war sie während des ganzen Mittelalters. Der sündhafte Mensch als solcher war kein Gegenstand der Dar¬ stellung. Die Malerei war eine Art Bilderschrift, welche denen, die nicht lesen konnten, das Heil verkündigte und das Leben der heiligen Personen vorführte. Der menschliche Körper wurde nur dargestellt als Hülle des unsterblichen Körpers. Schlanke emporgereckte Gestalten treten uns entgegen, von langen Gewändern umflossen, die den Körperbau kaum erkennen lassen. Jemehr das Körperliche zurücktrat, umsomehr konnte aus dem anmutigen Gesicht und den gemütstiefen Augen das Göttliche hervorleuchten. Und in keiner irdischen Um¬ gebung durften diese Gestalten sich aufhalten. Deshalb dehnt sich hinter den Figuren prangender Goldgrund aus, der sie in eine himmlische Ferne entrückt, wo es nichts als Reines und Heiliges giebt und wo der sterbliche Mensch mit feiner Qual nicht hinkommt. Freilich mußte bei diesen Grundsätzen die Malerei allmählich erstarren, und es war höchste Zeit, daß im fünfzehnten Jahrhundert der große Umschwung kam. Noch im Jahre 1431 brach der alte Maler Lukas Moser in den Jcuumerruf aus: „Schrie kunst schrie und klag dich ser, din begert jecz nienen mer." Und gleichzeitig verkündigten auch schon die Eycks der staunenden Welt das neue Evangelium. Die Kunst erkennt in der Wiedergabe des Wirklichen ihre wichtigste Aufgabe. Abgethan ist der Naturhaß, der Haß alles Irdischen, welcher die Malerei des Mittelalters beseelte. In Klopstocks Wort: Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht, Schöner ein froh Gesicht kann man die Grundanschauung des modernen Malers zusammenfassen. Er greift „hinein ins volle Menschenleben" und versucht die Natur und den menschlichen Körper in seinem Werke so wiederzugeben, wie sie sich auf der Netzhaut des Auges spiegeln. In allen Gauen Deutschlands, am Rhein, in Franken und andern Orten, findet die neue Lehre Anklang, aber Schwaben eilt allen übrigen Landschaften voraus. In allen Städten treten einzelne Meister auf, die geschlossene Schulen um sich bilden. Nach Nördlingen überträgt die niederländische Richtung Friedrich Herlin, ihm schließt sich im sechzehnten Jahr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/27>, abgerufen am 16.05.2024.