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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Der Ramxf der Deutschen in "Österreich.

dazu verdammt ist, mit ihnen in Gemeinschaft zu leben, die Italiener in Dal-
matien, die Nuthenen in Galizien u. s. f. Sollte es wirklich in Österreich einen
Politiker geben, welcher glaubt, daß es eine Krankheit kuriren heiße, wenn man
das zum Aufbrechen reife Geschwür mit einer Salbe bestreicht, die den ver¬
dorbenen Stoff in den Organismus zurück- und auf andern Stellen wieder
hinaustreibt? Man hat ja dortzulande schon einige Erfahrungen mit solchen
Jodkurm gemacht!

Vorzüglichen Wert müßte es haben, wenn einmal von deutsch-österreichischer
Seite deutlich auseinandergesetzt würde, welche Vorstellung man sich in jenen
Kreisen von der nächsten und der fernern Zukunft macht und wie man im
geeigneten Momente in die Gestaltung der Dinge eingreifen möchte, damit sie
endlich wieder Stabilität gewonnen. Es ist verständlich, daß Parteiführer mitten
im hitzigsten Kampfe sich nicht zur Veröffentlichung ihres Operativusplanes be¬
wogen fühlen, aber dem eignen Heere müssen sie sagen können, um welchen Preis
gekämpft, wie der Sieg ausgenutzt werden soll. Und hauptsächlich in der Hoffnung,
hierüber Aufklärung zu erhalten, nahmen wir eine Schrift zur Hand, welche sich
"Der Kampf der Deutschen in Böhmen und Österreich. Historische Betrachtungen
zur Rettung der österreichisch-ungarischen Monarchie" (Leipzig, Nengcrsche Buch-
handlung, 1384) nennt -- erlahmten auch nicht, obwohl der Verfasser es dnrch
schwerfälligen Stil, Vor-, Ruck- und Seitensprünge oft recht mühevoll macht,
ihm zu folgen. Aber wenn wir gern zugestehen, aus seinen historischen Be¬
trachtungen vieles zur Spezialgeschichte Böhmens gelernt zu haben: eine Antwort
auf unsre Frage giebt er nicht, oder wenigstens nicht präziser, als in dem Motto
auf dem Titelblatte: "Wahrheit und Freiheit, Liebe, Treue und Redlichkeit: in
lloo siAno vinvöL!" Üb' immer Treu und Redlichkeit, läßt der Dichter, irren
wir nicht, einen idealen alten Landmann seinem Sohne als Lebensregel geben,
doch für den Staatsmann dürfte solche Ausrüstung schwerlich genügen.

Die Schrift ist schätzbar, weil sie in ziemlich übersichtlicher Weise die Ent¬
stehung der Nationalitätsverhältnisse und der Nationalitätskämpfe in Böhmen
darstellt und das sogenannte böhmische Staatsrecht in richtiger Beleuchtung zeigt.
Merkwürdigerweise gelaugt aber der Verfasser nicht zu dem Schluß, welcher sich
dem Leser unwiderstehlich aufdrängt, nämlich daß mit den gewöhnlichen kon¬
stitutionellen Hausmitteln eine gründliche Besserung nicht herbeigeführt werden
kann. Sie sind sämtlich mehr als einmal durchprobirt worden und hätten viel¬
leicht wirken können, wenn in der Behandlung des kranken Körpers mit bewußter
Stetigkeit vorgegangen worden wäre. Allein diese läßt sich nur im absolutistischen
Regime, unter Metternich wie unter Schwarzenberg und Bach erkennen; seitdem
verfassungsmäßig regiert werden soll, hat ein so häufiger und jäher Wechsel in
der Methode stattgefunden, daß der Organismus zerrüttet werden mußte. Uur^
wieviel hat sich im Vergleich mit 1860, ja mit 1848, der Zustand ver¬
schlimmert! So sehr, daß Männer wie der Verfasser der genannten Schrift,


Der Ramxf der Deutschen in «Österreich.

dazu verdammt ist, mit ihnen in Gemeinschaft zu leben, die Italiener in Dal-
matien, die Nuthenen in Galizien u. s. f. Sollte es wirklich in Österreich einen
Politiker geben, welcher glaubt, daß es eine Krankheit kuriren heiße, wenn man
das zum Aufbrechen reife Geschwür mit einer Salbe bestreicht, die den ver¬
dorbenen Stoff in den Organismus zurück- und auf andern Stellen wieder
hinaustreibt? Man hat ja dortzulande schon einige Erfahrungen mit solchen
Jodkurm gemacht!

Vorzüglichen Wert müßte es haben, wenn einmal von deutsch-österreichischer
Seite deutlich auseinandergesetzt würde, welche Vorstellung man sich in jenen
Kreisen von der nächsten und der fernern Zukunft macht und wie man im
geeigneten Momente in die Gestaltung der Dinge eingreifen möchte, damit sie
endlich wieder Stabilität gewonnen. Es ist verständlich, daß Parteiführer mitten
im hitzigsten Kampfe sich nicht zur Veröffentlichung ihres Operativusplanes be¬
wogen fühlen, aber dem eignen Heere müssen sie sagen können, um welchen Preis
gekämpft, wie der Sieg ausgenutzt werden soll. Und hauptsächlich in der Hoffnung,
hierüber Aufklärung zu erhalten, nahmen wir eine Schrift zur Hand, welche sich
„Der Kampf der Deutschen in Böhmen und Österreich. Historische Betrachtungen
zur Rettung der österreichisch-ungarischen Monarchie" (Leipzig, Nengcrsche Buch-
handlung, 1384) nennt — erlahmten auch nicht, obwohl der Verfasser es dnrch
schwerfälligen Stil, Vor-, Ruck- und Seitensprünge oft recht mühevoll macht,
ihm zu folgen. Aber wenn wir gern zugestehen, aus seinen historischen Be¬
trachtungen vieles zur Spezialgeschichte Böhmens gelernt zu haben: eine Antwort
auf unsre Frage giebt er nicht, oder wenigstens nicht präziser, als in dem Motto
auf dem Titelblatte: „Wahrheit und Freiheit, Liebe, Treue und Redlichkeit: in
lloo siAno vinvöL!" Üb' immer Treu und Redlichkeit, läßt der Dichter, irren
wir nicht, einen idealen alten Landmann seinem Sohne als Lebensregel geben,
doch für den Staatsmann dürfte solche Ausrüstung schwerlich genügen.

Die Schrift ist schätzbar, weil sie in ziemlich übersichtlicher Weise die Ent¬
stehung der Nationalitätsverhältnisse und der Nationalitätskämpfe in Böhmen
darstellt und das sogenannte böhmische Staatsrecht in richtiger Beleuchtung zeigt.
Merkwürdigerweise gelaugt aber der Verfasser nicht zu dem Schluß, welcher sich
dem Leser unwiderstehlich aufdrängt, nämlich daß mit den gewöhnlichen kon¬
stitutionellen Hausmitteln eine gründliche Besserung nicht herbeigeführt werden
kann. Sie sind sämtlich mehr als einmal durchprobirt worden und hätten viel¬
leicht wirken können, wenn in der Behandlung des kranken Körpers mit bewußter
Stetigkeit vorgegangen worden wäre. Allein diese läßt sich nur im absolutistischen
Regime, unter Metternich wie unter Schwarzenberg und Bach erkennen; seitdem
verfassungsmäßig regiert werden soll, hat ein so häufiger und jäher Wechsel in
der Methode stattgefunden, daß der Organismus zerrüttet werden mußte. Uur^
wieviel hat sich im Vergleich mit 1860, ja mit 1848, der Zustand ver¬
schlimmert! So sehr, daß Männer wie der Verfasser der genannten Schrift,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/306>, abgerufen am 15.05.2024.