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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Musikalische Goniisse.

Meister von dem Schauplatze langjähriger, ehrenvoller Wirksamkeit mit dieser
Leistung verabschiedete. Ich für meine Person hätte ihn freilich lieber ein Kon¬
zert von Spohr spielen hören, aber wer durfte es wagen, inmitten so großer
Genies der Neuzeit den Namen dieses alten Herrn auch nur schüchtern auszu¬
sprechen?

Ich übergehe Bülows Nirwana, um zu F. Draesekes zweiter Symphonie
zu kommen. Draeseke hat einen schweren Häutungsprozeß durchzumachen gehabt,
aber er scheint jetzt auf dem besten Wege zu sein, die Stellung in der Kunst¬
welt sich zu erringen, zu der ihn seine große Begabung befähigt. Seine Sym¬
phonie ist, wenn auch noch nicht schlackenfrei, doch ein verständliches, kräftiges, logisch
aufgebautes, gesundes Werk, Dem heroischen Charakter des ersten Satzes ent¬
spricht das tiefempfundene L.11öKrstt>o inaroig.1s, der menuettartige dritte Satz
und in schöner Steigerung das feurige ?röste>.

Die Gegensätze konnten sich nicht schroffer berühren, als es in Weimar
geschah. Auf Draesekes Symphonie sollte anfänglich ein von L. Brassin in
Petersburg komponirtes und gespieltes Klavierkonzert folgen. Der plötzliche Tod
des Künstlers machte einen Ersatz notwendig, und man wählte an seiner Stelle
nicht etwa den beim Feste anwesenden Herrn Camille Se. Sasns aus Paris,
einen ebenso bedeutenden Virtuosen wie geistvollen Tonsetzer, sondern Frau
Jackl, eine Dame des Lisztschen Schweifsternes. Ich war sehr begierig, die kleine
Marie Trautmann aus Nürnberg, deren Bekanntschaft ich vor vielen Jahren ge¬
macht hatte und die inzwischen schon längst die Gattin des Pianisten A. Jackl
geworden war, wiederzusehen und zu hören. Von früher her hatte ich von
ihrem Spiele uicht die besten Erinnerungen; mittlerweile hat sich das natürlich
wesentlich gebessert. Daß die Dame aber auch komponirt, war mir völlig neu.
Welche Marterstunde hat sie mir und andern bereitet, und zwar ebenso durch
ihr Spiel wie durch ihre Komposition! Die letztere entzieht sich jeder Kritik,
aber als nun diese Vertreterin des schönen Geschlechts am Instrument saß und
mit hinaufgezogenen Schultern ihre magern Arme auf den Tasten auf- und
abwärtsrasen ließ, da begann das Instrument nicht zu säuseln oder zu singen,
sondern zu stöhnen, zu wimmern, zu ächzen, zu wehklagen. Die Widerstands¬
fähigkeit des Flügels, dessen Saiten wie von einer Kriegsfurie durchtobt
wurden, rief allgemein wehmütige Bewunderung hervor.

Das vierte Konzert wurde mit der klar kouzipirten, aber wenig gehalt¬
vollen, in ihrem letzten Satze allzurasch dem Ende melkenden zweiten Symphonie
von E. Lassen eröffnet. Nach so viel gehörten Schwulst machte sie immerhin
einen angenehmen und wohlthuenden Eindruck. Darauf spielte Herr Nachez
aus Budapest ein Violinkonzert von A. Krug. Herr Nachez ist ein vorzüglicher
Geiger, der die Technik seines Instruments vollständig beherrscht, und sein
Vortrag ist feurig und schwungvoll. Aber was nützte das alles einer aus so
spröden Holze geschnitzten Komposition gegenüber, wie der, die er zum Vortrage


Musikalische Goniisse.

Meister von dem Schauplatze langjähriger, ehrenvoller Wirksamkeit mit dieser
Leistung verabschiedete. Ich für meine Person hätte ihn freilich lieber ein Kon¬
zert von Spohr spielen hören, aber wer durfte es wagen, inmitten so großer
Genies der Neuzeit den Namen dieses alten Herrn auch nur schüchtern auszu¬
sprechen?

Ich übergehe Bülows Nirwana, um zu F. Draesekes zweiter Symphonie
zu kommen. Draeseke hat einen schweren Häutungsprozeß durchzumachen gehabt,
aber er scheint jetzt auf dem besten Wege zu sein, die Stellung in der Kunst¬
welt sich zu erringen, zu der ihn seine große Begabung befähigt. Seine Sym¬
phonie ist, wenn auch noch nicht schlackenfrei, doch ein verständliches, kräftiges, logisch
aufgebautes, gesundes Werk, Dem heroischen Charakter des ersten Satzes ent¬
spricht das tiefempfundene L.11öKrstt>o inaroig.1s, der menuettartige dritte Satz
und in schöner Steigerung das feurige ?röste>.

Die Gegensätze konnten sich nicht schroffer berühren, als es in Weimar
geschah. Auf Draesekes Symphonie sollte anfänglich ein von L. Brassin in
Petersburg komponirtes und gespieltes Klavierkonzert folgen. Der plötzliche Tod
des Künstlers machte einen Ersatz notwendig, und man wählte an seiner Stelle
nicht etwa den beim Feste anwesenden Herrn Camille Se. Sasns aus Paris,
einen ebenso bedeutenden Virtuosen wie geistvollen Tonsetzer, sondern Frau
Jackl, eine Dame des Lisztschen Schweifsternes. Ich war sehr begierig, die kleine
Marie Trautmann aus Nürnberg, deren Bekanntschaft ich vor vielen Jahren ge¬
macht hatte und die inzwischen schon längst die Gattin des Pianisten A. Jackl
geworden war, wiederzusehen und zu hören. Von früher her hatte ich von
ihrem Spiele uicht die besten Erinnerungen; mittlerweile hat sich das natürlich
wesentlich gebessert. Daß die Dame aber auch komponirt, war mir völlig neu.
Welche Marterstunde hat sie mir und andern bereitet, und zwar ebenso durch
ihr Spiel wie durch ihre Komposition! Die letztere entzieht sich jeder Kritik,
aber als nun diese Vertreterin des schönen Geschlechts am Instrument saß und
mit hinaufgezogenen Schultern ihre magern Arme auf den Tasten auf- und
abwärtsrasen ließ, da begann das Instrument nicht zu säuseln oder zu singen,
sondern zu stöhnen, zu wimmern, zu ächzen, zu wehklagen. Die Widerstands¬
fähigkeit des Flügels, dessen Saiten wie von einer Kriegsfurie durchtobt
wurden, rief allgemein wehmütige Bewunderung hervor.

Das vierte Konzert wurde mit der klar kouzipirten, aber wenig gehalt¬
vollen, in ihrem letzten Satze allzurasch dem Ende melkenden zweiten Symphonie
von E. Lassen eröffnet. Nach so viel gehörten Schwulst machte sie immerhin
einen angenehmen und wohlthuenden Eindruck. Darauf spielte Herr Nachez
aus Budapest ein Violinkonzert von A. Krug. Herr Nachez ist ein vorzüglicher
Geiger, der die Technik seines Instruments vollständig beherrscht, und sein
Vortrag ist feurig und schwungvoll. Aber was nützte das alles einer aus so
spröden Holze geschnitzten Komposition gegenüber, wie der, die er zum Vortrage


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/44>, abgerufen am 15.05.2024.