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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Pfisters Mühle.

ein bei weitem mehr gleichgiltiger als drohender Blick meinen guten Freund
Asche gestreift, und von diesem Augenblicke an ist der ein verlorener, das heißt
gewonnener Mensch gewesen und hat sich, wie gesagt, selten an einem fideler
Festabend so anständig betragen wie an diesem. Wer dies aber gegen Mitter¬
nacht hin nicht mehr vermochte, das war Doktor Felix Lippoldes.

Um jene späte Zeit stand Felix Lippoldes nicht etwa bloß ans einem Stuhle,
sondern mitten auf dem Weihnachtstische in Pfisters Mühle, das graue Haar
zerwühlt, das schäbige Röcklein halb von den Schultern gesteift, und deklamirte
mit finsterm Pathos:


Einst kommt die Stunde -- denkt nicht, sie sei ferne --,
Da fallen vom Himmel die goldenen Sterne,
Da wird gefegt das alte Haus,
Da wird gekehrt der Plunder aus.
Der liebe, der alte, vertraute Plunder,
Vieler tausend Geschlechter Zeichen und Wunder:
Was sie sahen im Wachen, was sie spannen im Traum,
Die Mutter, das Kind, die Zeit und der Raum!
Kein' Spinnweb wird im Winkel "ergessen,
Was der Körper hielt, was der Geist besessen,
Was das Herz gefühlt, was der Magen verdaut;
Und Tod heißt der Bräutigam, Nichts heißt die Braut!

Mit offenem Munde, den Bowlenlöffel in der Hand, stand mein Vater vor
seiner größten Punschschale. Alle hatten die Stühle zurückgeschoben oder
waren von ihnen ausgesprungen und drängten sich um den leider in gewohnter
Weise außer sich geratenen Poeten halb lachend, halb verblüfft -- mit vollem
Verständnis für das Ganze wohl nur Asche, ich und -- eine leise, klagende,
bittende Stimme in dem lustigen Lärm:

Vater! Lieber, lieber Vater!
Gott bewahre mich in seiner Güte, rief mein Vater, habe ich Sie darum in
meiner Bedrängnis höflich um ein vergnügtes Weihnachtspoem ersucht, Doktor
Lippoldes, um mir so von Ihnen den Teufel noch schwärzer an die Wand von
meiner Mühle malen zu lassen? Da kommen Sie doch lieber 'runter vom Tische
und lassen Sie Ihren Kollegen in der Phantasie 'rauf! Adam, so reden Sie
doch mit ihm! Sie haben doch sonsten das gehörige Getriebe zur Verfügung
und sitzen mir heute den ganzen Abend da, als wären Ihnen Bodenstein und
Laufer zugleich geborsten, der Fachbaum gebrochen und das Wasser überhaupt
ausgeblieben. O Fräulein Albertine, beruhigen Sie sich: wir sind ja ganz
unter uns! Das ist ja das einzige Gute jetzt, daß Pfisters Mühle meistens
ganz unter sich ist und ihren Spaß in jeder Art für sich allein hat.

Unter den Gläsern und Schüsseln des Weihnachtstisches vor der erloschenen
Tanne von einem Fuße auf den andern springend, kreischte Felix Lippoldes:


Grenzboten IV. 1884. 37
Pfisters Mühle.

ein bei weitem mehr gleichgiltiger als drohender Blick meinen guten Freund
Asche gestreift, und von diesem Augenblicke an ist der ein verlorener, das heißt
gewonnener Mensch gewesen und hat sich, wie gesagt, selten an einem fideler
Festabend so anständig betragen wie an diesem. Wer dies aber gegen Mitter¬
nacht hin nicht mehr vermochte, das war Doktor Felix Lippoldes.

Um jene späte Zeit stand Felix Lippoldes nicht etwa bloß ans einem Stuhle,
sondern mitten auf dem Weihnachtstische in Pfisters Mühle, das graue Haar
zerwühlt, das schäbige Röcklein halb von den Schultern gesteift, und deklamirte
mit finsterm Pathos:


Einst kommt die Stunde — denkt nicht, sie sei ferne —,
Da fallen vom Himmel die goldenen Sterne,
Da wird gefegt das alte Haus,
Da wird gekehrt der Plunder aus.
Der liebe, der alte, vertraute Plunder,
Vieler tausend Geschlechter Zeichen und Wunder:
Was sie sahen im Wachen, was sie spannen im Traum,
Die Mutter, das Kind, die Zeit und der Raum!
Kein' Spinnweb wird im Winkel »ergessen,
Was der Körper hielt, was der Geist besessen,
Was das Herz gefühlt, was der Magen verdaut;
Und Tod heißt der Bräutigam, Nichts heißt die Braut!

Mit offenem Munde, den Bowlenlöffel in der Hand, stand mein Vater vor
seiner größten Punschschale. Alle hatten die Stühle zurückgeschoben oder
waren von ihnen ausgesprungen und drängten sich um den leider in gewohnter
Weise außer sich geratenen Poeten halb lachend, halb verblüfft — mit vollem
Verständnis für das Ganze wohl nur Asche, ich und — eine leise, klagende,
bittende Stimme in dem lustigen Lärm:

Vater! Lieber, lieber Vater!
Gott bewahre mich in seiner Güte, rief mein Vater, habe ich Sie darum in
meiner Bedrängnis höflich um ein vergnügtes Weihnachtspoem ersucht, Doktor
Lippoldes, um mir so von Ihnen den Teufel noch schwärzer an die Wand von
meiner Mühle malen zu lassen? Da kommen Sie doch lieber 'runter vom Tische
und lassen Sie Ihren Kollegen in der Phantasie 'rauf! Adam, so reden Sie
doch mit ihm! Sie haben doch sonsten das gehörige Getriebe zur Verfügung
und sitzen mir heute den ganzen Abend da, als wären Ihnen Bodenstein und
Laufer zugleich geborsten, der Fachbaum gebrochen und das Wasser überhaupt
ausgeblieben. O Fräulein Albertine, beruhigen Sie sich: wir sind ja ganz
unter uns! Das ist ja das einzige Gute jetzt, daß Pfisters Mühle meistens
ganz unter sich ist und ihren Spaß in jeder Art für sich allein hat.

Unter den Gläsern und Schüsseln des Weihnachtstisches vor der erloschenen
Tanne von einem Fuße auf den andern springend, kreischte Felix Lippoldes:


Grenzboten IV. 1884. 37
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/297>, abgerufen am 19.05.2024.