Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

scheint mir zu weitgehend. In solchen Fällen müßte meines Erachtens mit Zu¬
stimmung eitler Beteiligten von dem Eide abgesehen werden können. Stellt es sich
heraus, daß der Zeuge überhaupt nichts oder nur unerhebliches weiß, oder daß
seine Aussage seiner Person und der Natur der Sache nach durchaus glaubwürdig ist,
und wird von dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und insbesondre dem Ange¬
klagten die Vereidigung nicht gefordert, dann sollte sie unterbleiben dürfen. Ohne
Zweifel würde durch eine solche Bestimmung die Zahl der jährlich vor den deut¬
schen Gerichten geschworenen Eide um ein Bedeutendes vermindert werden, ohne daß
damit das öffentliche Interesse an der Erforschung der materiellen Wahrheit irgend¬
wie geschädigt würde. Man denke nur an eine Schöffengerichtsverhandlung nach
dem geltenden Prozeßrechte, Hier werden oft an einem Vormittage dreißig, vierzig
oder noch mehr Eide heruntergeschworen über Thatsachen, um die es sich wahr¬
lich nicht der Mühe lohnt. Zweifellos soll auch in kleinen Sachen der Wahrheit
zum Siege verholfen werden; indessen sollte es doch zulässig sein, wenn keiner der
Beteiligten es anders verlangt, das einfache Ja oder Nein eines glaubwürdigen
Zeugen gelten zu lassen, anstatt darüber, ob der Nachbar die Straße gekehrt, ob
er die Ruhe gestört habe u. s. w., uuter allen Umständen einen feierlichen Eid ab¬
zunehmen. In vielen solchen und auch schwereren Fälle" wird das Gegenüberstelle"
der Zeugen und des Angeklagten genügen, um dem Gerichte einen vollständigen
Einblick in die Sachlage zu gewähren und eine richtige Beurteilung zu ermöglichen,
Ist das nicht der Fall oder verlangt der Staatsanwalt oder der Angeklagte die
Vereidigung, dann kann sie ja immer noch vorgenommen werden. Jedenfalls würde
durch eine solche Einschränkung der Zahl der Eidesleistungen schon Bedeutendes
gewonnen werden. Nicht nur die Art und Weise, wie der Eid abgenommen wird,
und die Eidesformel siud vom Übel, sondern vor allem scheint es mir nicht gut,
daß das Volk sich daran gewöhnt, daß ihm wegen jeder Kleinigkeit ein Eid abver¬
langt wird. Die Eidesleistung wird nicht mehr als etwas besonders Feierliches,
Wichtiges, sondern als das unvermeidliche, oft recht unbequeme Zubehör jeder ge¬
richtlichen Zeugenaussage angesehen. Daß sie dadurch an Bedeutung für das Volk
einbüßt, das ist klar, ebenso, daß eine solche Einbuße die Folge hat, daß der unter
allen Umständen verlangte Eid leichtsinniger geleistet und es mit der Wahrheit der
auf ihm ruhenden Zengencmssage nicht genau genommen wird,


Karl Meisel.


Literatur"
Grundzüge der Geschichte, Von Dr. Gottlob Egelhanf, Professor am obern Gymnasüu"
zu Heilbronn, Erster Teil: Das Altertum, Mit Zeittafel, Heilbronn, Gebr, Henninger, 1885.

Auf Grund langjähriger Erfahrung hat der Verfasser dieses Buches es unter¬
nommen, für den Unterricht in den obern Klaffen der Mittelschulen -- zunächst
der Gymnasien -- einen Leitfaden zu schreiben, der ein Seitenstück zu seinen
"Grundzügen der deutschen Literaturgeschichte" bilden soll, Don einem derartigen
Lehrbuch der Geschichte verlangen wir, daß es in gedrängter Fassung ein aus-


scheint mir zu weitgehend. In solchen Fällen müßte meines Erachtens mit Zu¬
stimmung eitler Beteiligten von dem Eide abgesehen werden können. Stellt es sich
heraus, daß der Zeuge überhaupt nichts oder nur unerhebliches weiß, oder daß
seine Aussage seiner Person und der Natur der Sache nach durchaus glaubwürdig ist,
und wird von dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und insbesondre dem Ange¬
klagten die Vereidigung nicht gefordert, dann sollte sie unterbleiben dürfen. Ohne
Zweifel würde durch eine solche Bestimmung die Zahl der jährlich vor den deut¬
schen Gerichten geschworenen Eide um ein Bedeutendes vermindert werden, ohne daß
damit das öffentliche Interesse an der Erforschung der materiellen Wahrheit irgend¬
wie geschädigt würde. Man denke nur an eine Schöffengerichtsverhandlung nach
dem geltenden Prozeßrechte, Hier werden oft an einem Vormittage dreißig, vierzig
oder noch mehr Eide heruntergeschworen über Thatsachen, um die es sich wahr¬
lich nicht der Mühe lohnt. Zweifellos soll auch in kleinen Sachen der Wahrheit
zum Siege verholfen werden; indessen sollte es doch zulässig sein, wenn keiner der
Beteiligten es anders verlangt, das einfache Ja oder Nein eines glaubwürdigen
Zeugen gelten zu lassen, anstatt darüber, ob der Nachbar die Straße gekehrt, ob
er die Ruhe gestört habe u. s. w., uuter allen Umständen einen feierlichen Eid ab¬
zunehmen. In vielen solchen und auch schwereren Fälle» wird das Gegenüberstelle»
der Zeugen und des Angeklagten genügen, um dem Gerichte einen vollständigen
Einblick in die Sachlage zu gewähren und eine richtige Beurteilung zu ermöglichen,
Ist das nicht der Fall oder verlangt der Staatsanwalt oder der Angeklagte die
Vereidigung, dann kann sie ja immer noch vorgenommen werden. Jedenfalls würde
durch eine solche Einschränkung der Zahl der Eidesleistungen schon Bedeutendes
gewonnen werden. Nicht nur die Art und Weise, wie der Eid abgenommen wird,
und die Eidesformel siud vom Übel, sondern vor allem scheint es mir nicht gut,
daß das Volk sich daran gewöhnt, daß ihm wegen jeder Kleinigkeit ein Eid abver¬
langt wird. Die Eidesleistung wird nicht mehr als etwas besonders Feierliches,
Wichtiges, sondern als das unvermeidliche, oft recht unbequeme Zubehör jeder ge¬
richtlichen Zeugenaussage angesehen. Daß sie dadurch an Bedeutung für das Volk
einbüßt, das ist klar, ebenso, daß eine solche Einbuße die Folge hat, daß der unter
allen Umständen verlangte Eid leichtsinniger geleistet und es mit der Wahrheit der
auf ihm ruhenden Zengencmssage nicht genau genommen wird,


Karl Meisel.


Literatur»
Grundzüge der Geschichte, Von Dr. Gottlob Egelhanf, Professor am obern Gymnasüu»
zu Heilbronn, Erster Teil: Das Altertum, Mit Zeittafel, Heilbronn, Gebr, Henninger, 1885.

Auf Grund langjähriger Erfahrung hat der Verfasser dieses Buches es unter¬
nommen, für den Unterricht in den obern Klaffen der Mittelschulen — zunächst
der Gymnasien — einen Leitfaden zu schreiben, der ein Seitenstück zu seinen
„Grundzügen der deutschen Literaturgeschichte" bilden soll, Don einem derartigen
Lehrbuch der Geschichte verlangen wir, daß es in gedrängter Fassung ein aus-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0607" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157532"/>
          <p xml:id="ID_2124" prev="#ID_2123"> scheint mir zu weitgehend. In solchen Fällen müßte meines Erachtens mit Zu¬<lb/>
stimmung eitler Beteiligten von dem Eide abgesehen werden können. Stellt es sich<lb/>
heraus, daß der Zeuge überhaupt nichts oder nur unerhebliches weiß, oder daß<lb/>
seine Aussage seiner Person und der Natur der Sache nach durchaus glaubwürdig ist,<lb/>
und wird von dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und insbesondre dem Ange¬<lb/>
klagten die Vereidigung nicht gefordert, dann sollte sie unterbleiben dürfen. Ohne<lb/>
Zweifel würde durch eine solche Bestimmung die Zahl der jährlich vor den deut¬<lb/>
schen Gerichten geschworenen Eide um ein Bedeutendes vermindert werden, ohne daß<lb/>
damit das öffentliche Interesse an der Erforschung der materiellen Wahrheit irgend¬<lb/>
wie geschädigt würde. Man denke nur an eine Schöffengerichtsverhandlung nach<lb/>
dem geltenden Prozeßrechte, Hier werden oft an einem Vormittage dreißig, vierzig<lb/>
oder noch mehr Eide heruntergeschworen über Thatsachen, um die es sich wahr¬<lb/>
lich nicht der Mühe lohnt. Zweifellos soll auch in kleinen Sachen der Wahrheit<lb/>
zum Siege verholfen werden; indessen sollte es doch zulässig sein, wenn keiner der<lb/>
Beteiligten es anders verlangt, das einfache Ja oder Nein eines glaubwürdigen<lb/>
Zeugen gelten zu lassen, anstatt darüber, ob der Nachbar die Straße gekehrt, ob<lb/>
er die Ruhe gestört habe u. s. w., uuter allen Umständen einen feierlichen Eid ab¬<lb/>
zunehmen. In vielen solchen und auch schwereren Fälle» wird das Gegenüberstelle»<lb/>
der Zeugen und des Angeklagten genügen, um dem Gerichte einen vollständigen<lb/>
Einblick in die Sachlage zu gewähren und eine richtige Beurteilung zu ermöglichen,<lb/>
Ist das nicht der Fall oder verlangt der Staatsanwalt oder der Angeklagte die<lb/>
Vereidigung, dann kann sie ja immer noch vorgenommen werden. Jedenfalls würde<lb/>
durch eine solche Einschränkung der Zahl der Eidesleistungen schon Bedeutendes<lb/>
gewonnen werden. Nicht nur die Art und Weise, wie der Eid abgenommen wird,<lb/>
und die Eidesformel siud vom Übel, sondern vor allem scheint es mir nicht gut,<lb/>
daß das Volk sich daran gewöhnt, daß ihm wegen jeder Kleinigkeit ein Eid abver¬<lb/>
langt wird. Die Eidesleistung wird nicht mehr als etwas besonders Feierliches,<lb/>
Wichtiges, sondern als das unvermeidliche, oft recht unbequeme Zubehör jeder ge¬<lb/>
richtlichen Zeugenaussage angesehen. Daß sie dadurch an Bedeutung für das Volk<lb/>
einbüßt, das ist klar, ebenso, daß eine solche Einbuße die Folge hat, daß der unter<lb/>
allen Umständen verlangte Eid leichtsinniger geleistet und es mit der Wahrheit der<lb/>
auf ihm ruhenden Zengencmssage nicht genau genommen wird,</p><lb/>
          <note type="byline"> Karl Meisel.</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Literatur»</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Grundzüge der Geschichte, Von Dr. Gottlob Egelhanf, Professor am obern Gymnasüu»<lb/>
zu Heilbronn, Erster Teil: Das Altertum, Mit Zeittafel, Heilbronn, Gebr, Henninger, 1885.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_2125" next="#ID_2126"> Auf Grund langjähriger Erfahrung hat der Verfasser dieses Buches es unter¬<lb/>
nommen, für den Unterricht in den obern Klaffen der Mittelschulen &#x2014; zunächst<lb/>
der Gymnasien &#x2014; einen Leitfaden zu schreiben, der ein Seitenstück zu seinen<lb/>
&#x201E;Grundzügen der deutschen Literaturgeschichte" bilden soll, Don einem derartigen<lb/>
Lehrbuch der Geschichte verlangen wir, daß es in gedrängter Fassung ein aus-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0607] scheint mir zu weitgehend. In solchen Fällen müßte meines Erachtens mit Zu¬ stimmung eitler Beteiligten von dem Eide abgesehen werden können. Stellt es sich heraus, daß der Zeuge überhaupt nichts oder nur unerhebliches weiß, oder daß seine Aussage seiner Person und der Natur der Sache nach durchaus glaubwürdig ist, und wird von dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und insbesondre dem Ange¬ klagten die Vereidigung nicht gefordert, dann sollte sie unterbleiben dürfen. Ohne Zweifel würde durch eine solche Bestimmung die Zahl der jährlich vor den deut¬ schen Gerichten geschworenen Eide um ein Bedeutendes vermindert werden, ohne daß damit das öffentliche Interesse an der Erforschung der materiellen Wahrheit irgend¬ wie geschädigt würde. Man denke nur an eine Schöffengerichtsverhandlung nach dem geltenden Prozeßrechte, Hier werden oft an einem Vormittage dreißig, vierzig oder noch mehr Eide heruntergeschworen über Thatsachen, um die es sich wahr¬ lich nicht der Mühe lohnt. Zweifellos soll auch in kleinen Sachen der Wahrheit zum Siege verholfen werden; indessen sollte es doch zulässig sein, wenn keiner der Beteiligten es anders verlangt, das einfache Ja oder Nein eines glaubwürdigen Zeugen gelten zu lassen, anstatt darüber, ob der Nachbar die Straße gekehrt, ob er die Ruhe gestört habe u. s. w., uuter allen Umständen einen feierlichen Eid ab¬ zunehmen. In vielen solchen und auch schwereren Fälle» wird das Gegenüberstelle» der Zeugen und des Angeklagten genügen, um dem Gerichte einen vollständigen Einblick in die Sachlage zu gewähren und eine richtige Beurteilung zu ermöglichen, Ist das nicht der Fall oder verlangt der Staatsanwalt oder der Angeklagte die Vereidigung, dann kann sie ja immer noch vorgenommen werden. Jedenfalls würde durch eine solche Einschränkung der Zahl der Eidesleistungen schon Bedeutendes gewonnen werden. Nicht nur die Art und Weise, wie der Eid abgenommen wird, und die Eidesformel siud vom Übel, sondern vor allem scheint es mir nicht gut, daß das Volk sich daran gewöhnt, daß ihm wegen jeder Kleinigkeit ein Eid abver¬ langt wird. Die Eidesleistung wird nicht mehr als etwas besonders Feierliches, Wichtiges, sondern als das unvermeidliche, oft recht unbequeme Zubehör jeder ge¬ richtlichen Zeugenaussage angesehen. Daß sie dadurch an Bedeutung für das Volk einbüßt, das ist klar, ebenso, daß eine solche Einbuße die Folge hat, daß der unter allen Umständen verlangte Eid leichtsinniger geleistet und es mit der Wahrheit der auf ihm ruhenden Zengencmssage nicht genau genommen wird, Karl Meisel. Literatur» Grundzüge der Geschichte, Von Dr. Gottlob Egelhanf, Professor am obern Gymnasüu» zu Heilbronn, Erster Teil: Das Altertum, Mit Zeittafel, Heilbronn, Gebr, Henninger, 1885. Auf Grund langjähriger Erfahrung hat der Verfasser dieses Buches es unter¬ nommen, für den Unterricht in den obern Klaffen der Mittelschulen — zunächst der Gymnasien — einen Leitfaden zu schreiben, der ein Seitenstück zu seinen „Grundzügen der deutschen Literaturgeschichte" bilden soll, Don einem derartigen Lehrbuch der Geschichte verlangen wir, daß es in gedrängter Fassung ein aus-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/607
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/607>, abgerufen am 19.05.2024.