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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal.

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Der musikalische Gottesdienst der protestantischen Gemeinde.

bolisirt sie dieselben gleichsam musikalisch und assimilirt sie einander zum Dienste
einer einheitlichen Gesamtwirkung, wie sich solche durch die Hand eines einzelnen
nur mit ihr verwirklichen läßt. Aber auch in Anbetracht ihrer kirchlichen Be¬
stimmung, für welche sie entschieden einzig geschickt bleibt. So soll sich denn
die Orgel mit dem Gesänge der Gemeinde verschmelzen, aber ohne ihr Königtum
aufzugeben, vielmehr indem sie solches so entschieden als nur möglich geltend
macht, wenn auch ohne Despotismus. Wir behaupten geradezu: nach dem
heutigen Stande der Dinge fällt es der Orgel als Hauptaufgabe mit zu, die
Gemeinde musikalisch heranzubilden, den Gesang zu restauriren und zu reno-
viren, das verdorbene Element unvermerkt zum bessern Schulen zu helfen.

Das aber wird sie nicht vermögen, wenn sie dem Gemeindegesang lediglich
als Begleiterin sich unterordnet und damit natürlich auch auf das Zwischenspiel
verzichtet. Was dem Gemeindegesang an Fülle, Vollkommenheit, Würde, Er-
hebungs- und Erbauungsfähigkeit abgeht, und alles, was ihm in dieser Hinsicht
als einer Leistung von Nichtkünstlern auch für jede Zukunft abgehen wird, das
hat die Orgel zu ersetzen.

"Weg mit dem Zwischenspiel!" rufen die Gegner, "es zerreißt auf wider¬
sinnige Weise den Text." Welch oberflächliche Auffassung! Mit dem Zwischen¬
spiel fällt ein gutes Teil von der Selbständigkeit der Orgel. Kann der sein
Instrument wahrhaft hochachtende und mit Hingebung behandelnde Organist jene
Ansicht aufrichtig hegen? Zur simpeln Begleitung bedürfte es eines Apparates
von solch königlicher Vollkommenheit, überwältigender Tonkraft und Fülle,
Mannichfaltigkeit der Färbung, und dennoch zugleich fast absoluter Ergebung in
Hand und Geist des Spielers? Jahrhunderte hätten ihren Scharfsinn erprobt
und dies alles erfunden, vervollkommnet, hergestellt und -- bezahlt, nur damit
es sich in den sekundären Sklavendienst einer womöglich noch weniger als
musikalisch gebildeten Menge füge, oder, ganz entgegen der dnrch seinen
Charakter selbst angezeigten Bestimmung, etwa im Konzert hin und wieder zur
Geltung gelange? Ein Harmonium oder ein dem ähnliches Surrogat würde
sich zu solchen, Zweck unter den meisten Umständen als durchaus genügend er¬
weisen, und die Konsequenz wäre vernünftigerweise: man verbanne die unnötige
und dabei so kostspielige Orgel aus dem Gotteshause, man ersetze sie durch ein¬
facher zu traktirende Instrumente, und man wird neben andern Ersparnissen
zugleich den Gehalt, den ein tüchtiger Organist beansprucht, zum größten Teil
mit ersparen.

Der Schwerpunkt der Wirksamkeit der Orgel liegt, wenn anders jeder
Choralgesang in der Kirche zu einem wahrhaften musikalischen Gottesdienste,
jeder Choral zur "musikalischen Aufführung" werden soll, außer in der mit ein¬
geschlossenen Begleitung, in der orgelmäßig orchestralen und dabei von Geist
und poetischem Verständnis durchdrungenen musikalischen Interpretation des von
der Gemeinde gesungenen Textes, dessen erhebendes Moment ja an sich nicht


Der musikalische Gottesdienst der protestantischen Gemeinde.

bolisirt sie dieselben gleichsam musikalisch und assimilirt sie einander zum Dienste
einer einheitlichen Gesamtwirkung, wie sich solche durch die Hand eines einzelnen
nur mit ihr verwirklichen läßt. Aber auch in Anbetracht ihrer kirchlichen Be¬
stimmung, für welche sie entschieden einzig geschickt bleibt. So soll sich denn
die Orgel mit dem Gesänge der Gemeinde verschmelzen, aber ohne ihr Königtum
aufzugeben, vielmehr indem sie solches so entschieden als nur möglich geltend
macht, wenn auch ohne Despotismus. Wir behaupten geradezu: nach dem
heutigen Stande der Dinge fällt es der Orgel als Hauptaufgabe mit zu, die
Gemeinde musikalisch heranzubilden, den Gesang zu restauriren und zu reno-
viren, das verdorbene Element unvermerkt zum bessern Schulen zu helfen.

Das aber wird sie nicht vermögen, wenn sie dem Gemeindegesang lediglich
als Begleiterin sich unterordnet und damit natürlich auch auf das Zwischenspiel
verzichtet. Was dem Gemeindegesang an Fülle, Vollkommenheit, Würde, Er-
hebungs- und Erbauungsfähigkeit abgeht, und alles, was ihm in dieser Hinsicht
als einer Leistung von Nichtkünstlern auch für jede Zukunft abgehen wird, das
hat die Orgel zu ersetzen.

„Weg mit dem Zwischenspiel!" rufen die Gegner, „es zerreißt auf wider¬
sinnige Weise den Text." Welch oberflächliche Auffassung! Mit dem Zwischen¬
spiel fällt ein gutes Teil von der Selbständigkeit der Orgel. Kann der sein
Instrument wahrhaft hochachtende und mit Hingebung behandelnde Organist jene
Ansicht aufrichtig hegen? Zur simpeln Begleitung bedürfte es eines Apparates
von solch königlicher Vollkommenheit, überwältigender Tonkraft und Fülle,
Mannichfaltigkeit der Färbung, und dennoch zugleich fast absoluter Ergebung in
Hand und Geist des Spielers? Jahrhunderte hätten ihren Scharfsinn erprobt
und dies alles erfunden, vervollkommnet, hergestellt und — bezahlt, nur damit
es sich in den sekundären Sklavendienst einer womöglich noch weniger als
musikalisch gebildeten Menge füge, oder, ganz entgegen der dnrch seinen
Charakter selbst angezeigten Bestimmung, etwa im Konzert hin und wieder zur
Geltung gelange? Ein Harmonium oder ein dem ähnliches Surrogat würde
sich zu solchen, Zweck unter den meisten Umständen als durchaus genügend er¬
weisen, und die Konsequenz wäre vernünftigerweise: man verbanne die unnötige
und dabei so kostspielige Orgel aus dem Gotteshause, man ersetze sie durch ein¬
facher zu traktirende Instrumente, und man wird neben andern Ersparnissen
zugleich den Gehalt, den ein tüchtiger Organist beansprucht, zum größten Teil
mit ersparen.

Der Schwerpunkt der Wirksamkeit der Orgel liegt, wenn anders jeder
Choralgesang in der Kirche zu einem wahrhaften musikalischen Gottesdienste,
jeder Choral zur „musikalischen Aufführung" werden soll, außer in der mit ein¬
geschlossenen Begleitung, in der orgelmäßig orchestralen und dabei von Geist
und poetischem Verständnis durchdrungenen musikalischen Interpretation des von
der Gemeinde gesungenen Textes, dessen erhebendes Moment ja an sich nicht


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[0335] Der musikalische Gottesdienst der protestantischen Gemeinde. bolisirt sie dieselben gleichsam musikalisch und assimilirt sie einander zum Dienste einer einheitlichen Gesamtwirkung, wie sich solche durch die Hand eines einzelnen nur mit ihr verwirklichen läßt. Aber auch in Anbetracht ihrer kirchlichen Be¬ stimmung, für welche sie entschieden einzig geschickt bleibt. So soll sich denn die Orgel mit dem Gesänge der Gemeinde verschmelzen, aber ohne ihr Königtum aufzugeben, vielmehr indem sie solches so entschieden als nur möglich geltend macht, wenn auch ohne Despotismus. Wir behaupten geradezu: nach dem heutigen Stande der Dinge fällt es der Orgel als Hauptaufgabe mit zu, die Gemeinde musikalisch heranzubilden, den Gesang zu restauriren und zu reno- viren, das verdorbene Element unvermerkt zum bessern Schulen zu helfen. Das aber wird sie nicht vermögen, wenn sie dem Gemeindegesang lediglich als Begleiterin sich unterordnet und damit natürlich auch auf das Zwischenspiel verzichtet. Was dem Gemeindegesang an Fülle, Vollkommenheit, Würde, Er- hebungs- und Erbauungsfähigkeit abgeht, und alles, was ihm in dieser Hinsicht als einer Leistung von Nichtkünstlern auch für jede Zukunft abgehen wird, das hat die Orgel zu ersetzen. „Weg mit dem Zwischenspiel!" rufen die Gegner, „es zerreißt auf wider¬ sinnige Weise den Text." Welch oberflächliche Auffassung! Mit dem Zwischen¬ spiel fällt ein gutes Teil von der Selbständigkeit der Orgel. Kann der sein Instrument wahrhaft hochachtende und mit Hingebung behandelnde Organist jene Ansicht aufrichtig hegen? Zur simpeln Begleitung bedürfte es eines Apparates von solch königlicher Vollkommenheit, überwältigender Tonkraft und Fülle, Mannichfaltigkeit der Färbung, und dennoch zugleich fast absoluter Ergebung in Hand und Geist des Spielers? Jahrhunderte hätten ihren Scharfsinn erprobt und dies alles erfunden, vervollkommnet, hergestellt und — bezahlt, nur damit es sich in den sekundären Sklavendienst einer womöglich noch weniger als musikalisch gebildeten Menge füge, oder, ganz entgegen der dnrch seinen Charakter selbst angezeigten Bestimmung, etwa im Konzert hin und wieder zur Geltung gelange? Ein Harmonium oder ein dem ähnliches Surrogat würde sich zu solchen, Zweck unter den meisten Umständen als durchaus genügend er¬ weisen, und die Konsequenz wäre vernünftigerweise: man verbanne die unnötige und dabei so kostspielige Orgel aus dem Gotteshause, man ersetze sie durch ein¬ facher zu traktirende Instrumente, und man wird neben andern Ersparnissen zugleich den Gehalt, den ein tüchtiger Organist beansprucht, zum größten Teil mit ersparen. Der Schwerpunkt der Wirksamkeit der Orgel liegt, wenn anders jeder Choralgesang in der Kirche zu einem wahrhaften musikalischen Gottesdienste, jeder Choral zur „musikalischen Aufführung" werden soll, außer in der mit ein¬ geschlossenen Begleitung, in der orgelmäßig orchestralen und dabei von Geist und poetischem Verständnis durchdrungenen musikalischen Interpretation des von der Gemeinde gesungenen Textes, dessen erhebendes Moment ja an sich nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158166/335>, abgerufen am 19.05.2024.