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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal.

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Aus einer trüben Periode, der deutschen Geschichte.

(Stuttgart, 1884) geht nicht über das fünfzehnte Jahrhundert hinaus. Zur
Ergänzung konnten zwei gründliche monographische Schriften beigezogen werden:
"Das Nürnberger Reichsregiment" von Viktor von Strauß (Innsbruck, 1883)
und "Philipp der Großmütige von Hessen und die Restitution Ulrichs von
Wirtenberg" von Jakob Wille (Tübingen, 1882). Die vier letztgenannten
Schriften von Wachmann, Ulmann, Strauß und Wille sind glänzende Beweise,
wie sehr die auf archivalischen Forschungen beruhende moderne Historiographie
im Erobern und Fortschreiten begriffen ist, wie sehr durch die genaue und
sorgfältige Erforschung des Einzelnen das Gesamtbild eines Zeitraumes an
Klarheit und Wahrheit gewinnt. Man erkennt daraus, daß die Lehren und
Beispiele eines Ranke, Waitz, von Sybel u. a. gute Früchte tragen. Die
gründliche und genaue Erforschung des Details bereitet den sichern Boden zum
Aufbau einer Welt- oder Völkergeschichte. Nur mit solidem Material vermag
eine geübte Hand ein festes und harmonisches Kunstwerk zu schaffen und dem¬
selben den Grad von Sicherheit zu geben, der ihm Dauer und Geltung auch
bei künftigen Geschlechtern verleiht.

Es ist nicht meine Absicht, die erwähnten Geschichtswerke einer Rezension
zu unterziehen. Kritische Gymnastik muß in einem jüngeren Lebensalter getrieben
werden, in den Jahren des Sturmes und Dranges, wo die Affekte der Be¬
wunderung wie des Widerspruchs noch in ungeschwächter Kraft sich regen und
nach Ausdruck ringen. Ich will nur auf Grund der angeführten Schriften
einige Betrachtungen anstellen über die hervorragendsten Erscheinungen und
Bestrebungen jenes Zeitalters, das im großen und ganzen bisher wenig erforscht
und dargestellt worden ist, und das doch so reich erscheint an individuellem
Leben, an Vorsätzen und Entwürfen, an Thaten und Leiden. Entsprachen auch
die Errungenschaften nicht den Erwartungen und Anstrengungen, so traten
doch deutliche Symptome zu tage, daß das deutsche Volk die Übel erkannte,
an denen es erkrankt war, und nach Hilfe und Heilung verlangte und suchte.

Jedes Buch, das seinen ersten Lebensmorgen antritt, muß ans einen "Kampf
ums Dasein" gefaßt sein. Diesen kritischen Moment hat die "Geschichte des
deutschen Volkes" von Janssen längst überwunden. Vor uns liegt bereits die
achte, verbesserte Auflage, ein Erfolg, der kaum irgend einem andern Geschichts¬
werke zuteil geworden ist. Dürfte man diesen Erfolg als Beweis der wissen¬
schaftlichen Bedeutung- oder künstlerischen Vollendung des Buches auffassen, so
müßte man mit Bewunderung, ja mit einem gewissen Neid auf solche Vorzüge
eines Geschichtswerkes, auf so seltene Begabung eines Autors blicken; aber es
bedarf keines gründlichen Studiums, um die Überzeugung zu gewinne", daß hier
ganz andre Hebel thätig sind als der wissenschaftliche oder literarische Wert,
daß das Buch als Feldzeichen dienen, soll, um das sich die Gesinnungsgenossen
scharen, als ein Schlachtruf, der die Getreuen sammelt und daher in den Reihen
derselben bekannt sein muß. Es soll nicht geleugnet werden, daß der Verfasser


Aus einer trüben Periode, der deutschen Geschichte.

(Stuttgart, 1884) geht nicht über das fünfzehnte Jahrhundert hinaus. Zur
Ergänzung konnten zwei gründliche monographische Schriften beigezogen werden:
„Das Nürnberger Reichsregiment" von Viktor von Strauß (Innsbruck, 1883)
und „Philipp der Großmütige von Hessen und die Restitution Ulrichs von
Wirtenberg" von Jakob Wille (Tübingen, 1882). Die vier letztgenannten
Schriften von Wachmann, Ulmann, Strauß und Wille sind glänzende Beweise,
wie sehr die auf archivalischen Forschungen beruhende moderne Historiographie
im Erobern und Fortschreiten begriffen ist, wie sehr durch die genaue und
sorgfältige Erforschung des Einzelnen das Gesamtbild eines Zeitraumes an
Klarheit und Wahrheit gewinnt. Man erkennt daraus, daß die Lehren und
Beispiele eines Ranke, Waitz, von Sybel u. a. gute Früchte tragen. Die
gründliche und genaue Erforschung des Details bereitet den sichern Boden zum
Aufbau einer Welt- oder Völkergeschichte. Nur mit solidem Material vermag
eine geübte Hand ein festes und harmonisches Kunstwerk zu schaffen und dem¬
selben den Grad von Sicherheit zu geben, der ihm Dauer und Geltung auch
bei künftigen Geschlechtern verleiht.

Es ist nicht meine Absicht, die erwähnten Geschichtswerke einer Rezension
zu unterziehen. Kritische Gymnastik muß in einem jüngeren Lebensalter getrieben
werden, in den Jahren des Sturmes und Dranges, wo die Affekte der Be¬
wunderung wie des Widerspruchs noch in ungeschwächter Kraft sich regen und
nach Ausdruck ringen. Ich will nur auf Grund der angeführten Schriften
einige Betrachtungen anstellen über die hervorragendsten Erscheinungen und
Bestrebungen jenes Zeitalters, das im großen und ganzen bisher wenig erforscht
und dargestellt worden ist, und das doch so reich erscheint an individuellem
Leben, an Vorsätzen und Entwürfen, an Thaten und Leiden. Entsprachen auch
die Errungenschaften nicht den Erwartungen und Anstrengungen, so traten
doch deutliche Symptome zu tage, daß das deutsche Volk die Übel erkannte,
an denen es erkrankt war, und nach Hilfe und Heilung verlangte und suchte.

Jedes Buch, das seinen ersten Lebensmorgen antritt, muß ans einen „Kampf
ums Dasein" gefaßt sein. Diesen kritischen Moment hat die „Geschichte des
deutschen Volkes" von Janssen längst überwunden. Vor uns liegt bereits die
achte, verbesserte Auflage, ein Erfolg, der kaum irgend einem andern Geschichts¬
werke zuteil geworden ist. Dürfte man diesen Erfolg als Beweis der wissen¬
schaftlichen Bedeutung- oder künstlerischen Vollendung des Buches auffassen, so
müßte man mit Bewunderung, ja mit einem gewissen Neid auf solche Vorzüge
eines Geschichtswerkes, auf so seltene Begabung eines Autors blicken; aber es
bedarf keines gründlichen Studiums, um die Überzeugung zu gewinne», daß hier
ganz andre Hebel thätig sind als der wissenschaftliche oder literarische Wert,
daß das Buch als Feldzeichen dienen, soll, um das sich die Gesinnungsgenossen
scharen, als ein Schlachtruf, der die Getreuen sammelt und daher in den Reihen
derselben bekannt sein muß. Es soll nicht geleugnet werden, daß der Verfasser


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[0370] Aus einer trüben Periode, der deutschen Geschichte. (Stuttgart, 1884) geht nicht über das fünfzehnte Jahrhundert hinaus. Zur Ergänzung konnten zwei gründliche monographische Schriften beigezogen werden: „Das Nürnberger Reichsregiment" von Viktor von Strauß (Innsbruck, 1883) und „Philipp der Großmütige von Hessen und die Restitution Ulrichs von Wirtenberg" von Jakob Wille (Tübingen, 1882). Die vier letztgenannten Schriften von Wachmann, Ulmann, Strauß und Wille sind glänzende Beweise, wie sehr die auf archivalischen Forschungen beruhende moderne Historiographie im Erobern und Fortschreiten begriffen ist, wie sehr durch die genaue und sorgfältige Erforschung des Einzelnen das Gesamtbild eines Zeitraumes an Klarheit und Wahrheit gewinnt. Man erkennt daraus, daß die Lehren und Beispiele eines Ranke, Waitz, von Sybel u. a. gute Früchte tragen. Die gründliche und genaue Erforschung des Details bereitet den sichern Boden zum Aufbau einer Welt- oder Völkergeschichte. Nur mit solidem Material vermag eine geübte Hand ein festes und harmonisches Kunstwerk zu schaffen und dem¬ selben den Grad von Sicherheit zu geben, der ihm Dauer und Geltung auch bei künftigen Geschlechtern verleiht. Es ist nicht meine Absicht, die erwähnten Geschichtswerke einer Rezension zu unterziehen. Kritische Gymnastik muß in einem jüngeren Lebensalter getrieben werden, in den Jahren des Sturmes und Dranges, wo die Affekte der Be¬ wunderung wie des Widerspruchs noch in ungeschwächter Kraft sich regen und nach Ausdruck ringen. Ich will nur auf Grund der angeführten Schriften einige Betrachtungen anstellen über die hervorragendsten Erscheinungen und Bestrebungen jenes Zeitalters, das im großen und ganzen bisher wenig erforscht und dargestellt worden ist, und das doch so reich erscheint an individuellem Leben, an Vorsätzen und Entwürfen, an Thaten und Leiden. Entsprachen auch die Errungenschaften nicht den Erwartungen und Anstrengungen, so traten doch deutliche Symptome zu tage, daß das deutsche Volk die Übel erkannte, an denen es erkrankt war, und nach Hilfe und Heilung verlangte und suchte. Jedes Buch, das seinen ersten Lebensmorgen antritt, muß ans einen „Kampf ums Dasein" gefaßt sein. Diesen kritischen Moment hat die „Geschichte des deutschen Volkes" von Janssen längst überwunden. Vor uns liegt bereits die achte, verbesserte Auflage, ein Erfolg, der kaum irgend einem andern Geschichts¬ werke zuteil geworden ist. Dürfte man diesen Erfolg als Beweis der wissen¬ schaftlichen Bedeutung- oder künstlerischen Vollendung des Buches auffassen, so müßte man mit Bewunderung, ja mit einem gewissen Neid auf solche Vorzüge eines Geschichtswerkes, auf so seltene Begabung eines Autors blicken; aber es bedarf keines gründlichen Studiums, um die Überzeugung zu gewinne», daß hier ganz andre Hebel thätig sind als der wissenschaftliche oder literarische Wert, daß das Buch als Feldzeichen dienen, soll, um das sich die Gesinnungsgenossen scharen, als ein Schlachtruf, der die Getreuen sammelt und daher in den Reihen derselben bekannt sein muß. Es soll nicht geleugnet werden, daß der Verfasser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158166/370>, abgerufen am 18.05.2024.