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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal.

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Line neue Heilsbotschaft.

herrlichen Helden und sein Wiederbringen reiner apostolischer Lehre die unter
Rom geknechteten annehmen wollten, so würde es hell werden vor ihren Blicken
und in ihren Herzen, ohne etwelche Götterdämmerung. Die Zentrumsmciuner
aber, die mit unfaßbarer Anmaßung trotz dem Zeugnis der Geschichte immer
so thun, als ob Rom zweifelsohne wirklich das wäre, was es gern sein möchte,
als ob es Wahrheit und volles Genügen brächte und allein bringen könnte, sie
mögen Geigels Büchlein lesen und -- erröten, wenn sie es vermögen. Für sie
ist es eigentlich geschrieben, gegen sie zeugt diese seltsame Flucht zu den Asen.
Von dem, wofür Luther gestritten hat, dürfte unser Autor trotz seiner über
Schöpfung und Erlösung absprechender Worte nicht so gar ferne sein.

Aber was fehlt diesem Professor der Medizin, dem poetisch angelegten,
stillforschenden Denker noch? Es fehlt ihm Immanuel Kant mit den Ergeb¬
nissen seiner Kritik. Ist der Glaube an die Unendlichkeit von Raum und Zeit
- der Verfasser nennt es einen Glauben -- wirklich ein "unschätzbares Kleinod" ?
Nein, diese in gemeiner Anschauung und wissenschaftlicher Forschung nicht ab¬
zuleugnende Unendlichkeit, sie erhebt nicht, sie beängstet und bedrückt; aber Kant
zeigt uns, daß in Raum und Zeit nur Dinge uns erscheinen, daß die Dinge
an sich nicht diesen Tyrannen Raum und Zeit unterworfen sein können. Er
bricht den schmählichen Sinnenbann von Raum und Zeit, daß unser Denken
frei wird, nicht für einen aus Asen erstehenden Allvater, wohl aber für den
lebendigen Gott.

Kants Kritik und die wirklich apostolische christliche Lehre, sie sind zu¬
sammen unserm Geschlechte in seiner wissenschaftlichen Unbefriedigtheit nötig,
um zu rechter Erkenntnis und zum Frieden der Herzen zu kommen. Das lehrt
negativ Geigels Büchlein. Das Forschen und Wahrheitsuchen des Asen-Ein-
heriers bleibe in Ehren, aber verfehlt ist es, weil keine Wissenschaft heute sich
brüsten darf, ohne vor dem Königsberger sich zu legitimiren, und weil kein
Glaube -- fo man doch einmal Glauben sucht -- vernünftiger und zeitgemäßer
sich darstellen kann als der christlich-apostolische Glaube.




Grenzboten II. 1334.8U
Line neue Heilsbotschaft.

herrlichen Helden und sein Wiederbringen reiner apostolischer Lehre die unter
Rom geknechteten annehmen wollten, so würde es hell werden vor ihren Blicken
und in ihren Herzen, ohne etwelche Götterdämmerung. Die Zentrumsmciuner
aber, die mit unfaßbarer Anmaßung trotz dem Zeugnis der Geschichte immer
so thun, als ob Rom zweifelsohne wirklich das wäre, was es gern sein möchte,
als ob es Wahrheit und volles Genügen brächte und allein bringen könnte, sie
mögen Geigels Büchlein lesen und — erröten, wenn sie es vermögen. Für sie
ist es eigentlich geschrieben, gegen sie zeugt diese seltsame Flucht zu den Asen.
Von dem, wofür Luther gestritten hat, dürfte unser Autor trotz seiner über
Schöpfung und Erlösung absprechender Worte nicht so gar ferne sein.

Aber was fehlt diesem Professor der Medizin, dem poetisch angelegten,
stillforschenden Denker noch? Es fehlt ihm Immanuel Kant mit den Ergeb¬
nissen seiner Kritik. Ist der Glaube an die Unendlichkeit von Raum und Zeit
- der Verfasser nennt es einen Glauben — wirklich ein „unschätzbares Kleinod" ?
Nein, diese in gemeiner Anschauung und wissenschaftlicher Forschung nicht ab¬
zuleugnende Unendlichkeit, sie erhebt nicht, sie beängstet und bedrückt; aber Kant
zeigt uns, daß in Raum und Zeit nur Dinge uns erscheinen, daß die Dinge
an sich nicht diesen Tyrannen Raum und Zeit unterworfen sein können. Er
bricht den schmählichen Sinnenbann von Raum und Zeit, daß unser Denken
frei wird, nicht für einen aus Asen erstehenden Allvater, wohl aber für den
lebendigen Gott.

Kants Kritik und die wirklich apostolische christliche Lehre, sie sind zu¬
sammen unserm Geschlechte in seiner wissenschaftlichen Unbefriedigtheit nötig,
um zu rechter Erkenntnis und zum Frieden der Herzen zu kommen. Das lehrt
negativ Geigels Büchlein. Das Forschen und Wahrheitsuchen des Asen-Ein-
heriers bleibe in Ehren, aber verfehlt ist es, weil keine Wissenschaft heute sich
brüsten darf, ohne vor dem Königsberger sich zu legitimiren, und weil kein
Glaube — fo man doch einmal Glauben sucht — vernünftiger und zeitgemäßer
sich darstellen kann als der christlich-apostolische Glaube.




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[0641] Line neue Heilsbotschaft. herrlichen Helden und sein Wiederbringen reiner apostolischer Lehre die unter Rom geknechteten annehmen wollten, so würde es hell werden vor ihren Blicken und in ihren Herzen, ohne etwelche Götterdämmerung. Die Zentrumsmciuner aber, die mit unfaßbarer Anmaßung trotz dem Zeugnis der Geschichte immer so thun, als ob Rom zweifelsohne wirklich das wäre, was es gern sein möchte, als ob es Wahrheit und volles Genügen brächte und allein bringen könnte, sie mögen Geigels Büchlein lesen und — erröten, wenn sie es vermögen. Für sie ist es eigentlich geschrieben, gegen sie zeugt diese seltsame Flucht zu den Asen. Von dem, wofür Luther gestritten hat, dürfte unser Autor trotz seiner über Schöpfung und Erlösung absprechender Worte nicht so gar ferne sein. Aber was fehlt diesem Professor der Medizin, dem poetisch angelegten, stillforschenden Denker noch? Es fehlt ihm Immanuel Kant mit den Ergeb¬ nissen seiner Kritik. Ist der Glaube an die Unendlichkeit von Raum und Zeit - der Verfasser nennt es einen Glauben — wirklich ein „unschätzbares Kleinod" ? Nein, diese in gemeiner Anschauung und wissenschaftlicher Forschung nicht ab¬ zuleugnende Unendlichkeit, sie erhebt nicht, sie beängstet und bedrückt; aber Kant zeigt uns, daß in Raum und Zeit nur Dinge uns erscheinen, daß die Dinge an sich nicht diesen Tyrannen Raum und Zeit unterworfen sein können. Er bricht den schmählichen Sinnenbann von Raum und Zeit, daß unser Denken frei wird, nicht für einen aus Asen erstehenden Allvater, wohl aber für den lebendigen Gott. Kants Kritik und die wirklich apostolische christliche Lehre, sie sind zu¬ sammen unserm Geschlechte in seiner wissenschaftlichen Unbefriedigtheit nötig, um zu rechter Erkenntnis und zum Frieden der Herzen zu kommen. Das lehrt negativ Geigels Büchlein. Das Forschen und Wahrheitsuchen des Asen-Ein- heriers bleibe in Ehren, aber verfehlt ist es, weil keine Wissenschaft heute sich brüsten darf, ohne vor dem Königsberger sich zu legitimiren, und weil kein Glaube — fo man doch einmal Glauben sucht — vernünftiger und zeitgemäßer sich darstellen kann als der christlich-apostolische Glaube. Grenzboten II. 1334.8U

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158166/641>, abgerufen am 20.05.2024.