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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Ein Vorläufer Tassalles.

lieu der Harmonie und Freiheit" bildet der Appell an die Könige, das Werk
der Erlösung der Menschheit zu übernehmen.

Die Kritik steht einen Augenblick ratlos: sie weiß nicht, wo sie zuerst
anfangen soll. Die Vorschläge Weitlings zur Überführung der heutigen Gesell¬
schaft in den Sozialstaat sind wohl mit das Verrückteste, was überhaupt in
dieser Hinsicht auf deutschem Boden gediehen ist. Die deutsche Sozialdemokratie
hat nicht entfernt ähnliches geleistet. In diesen Plänen Weitlings geht "Fixig¬
keit" über alles. Wie dürre Blätter vom Wirbelwind, so werden die bestehenden
Institutionen von der Weitlingschen "Reform" hinweggefegt. An ihre Stelle
tritt ein tolles Durcheinander, die denkbar wüsteste Anarchie. Fast alle wohl¬
erworbenen Rechte werden auf einmal vernichtet, die kümmerlichen Reste der¬
selben können jederzeit mit einem Schlage demselben Schicksale anheimfallen.
Die radikalste Umgestaltung, welche die Weltgeschichte sehen würde, soll in einem
Augenblicke vorgenommen werden, und zwar noch dazu in der denkbar unge¬
schicktesten Art, nämlich nach Gemeinden. Da es diesen eventuell freisteht, die
Gemeinschaft abzulehnen, so würde man die Privat- und die Gemeinschafts¬
produktion in demselben Zweige nebeneinander haben können. Alle Beamten
der Gemeinschaft sollen gleichen Lohn erhalten. Aber wie wird man dann für
die Ämter Mitglieder der besitzenden Klassen gewinnen können, die heute doch
unbestritten allein zur Leitung der Produktion fähig sind? Diese werden jeden¬
falls lieber ins Ausland gehen, wo sie sich mit ihren Fähigkeiten und ihrer
Bildung immerhin eine bessere Lebenslage werden erwerben können als im In¬
lands. Dadurch würde die Gemeinschaft vollständig unmöglich werden. Auf
welche Weise wäre es denn durchzuführen, daß die bisher nur mit mechanischen
Arbeiten beschäftigten Personen mit einemmale die Funktionen der Buchhalter,
Ingenieure, Baumeister, Techniker u. s. w. versahen? Schon aus diesem Grunde
ist die Gemeinschaft absolut unmöglich. Da sie daneben noch alle die großen
Mängel hat, die wir bei der Betrachtung des Weitlingschen Svzialstaates fanden,
so ist sie auch aus diesem zweiten Grunde unmöglich. Da sie ferner noch den
Fehler hat, nicht das ganze Staatsgebiet zu umfassen, sondern nur Teile des¬
selben, während andre privatwirtschaftlich organisirt sind, so giebt das einen
dritten durchschlagenden Grund gegen den Reformplan Weitlings. Da außer¬
dem die Umwälzung eine gewaltige und außerordentliche rapide wäre, so müßte
sie in der nächsten Zeit fortwährend Verschwörungen und Revolutionen der früher
bevorzugten Klassen und ihres Anhanges erzeugen; also ein vierter vernichtender
Einwand gegen das vorgeschlagene Projekt.

Unser Kommunist hat wirklich mit seltenem Ungeschick in seinen Vorschlägen
zur Überleitung des heutigen Staates in den Svzialstaat alles vereinigt, was
denselben nur irgend zur Utopie machen kann. Aber der ärgste ist der, daß,
falls der Plan nicht zur Ausführung gelangen sollte, der Krieg gegen das
Eigentum, d. h. der rote Hahn und der Diebstahl, gepredigt werden soll. Aus


Ein Vorläufer Tassalles.

lieu der Harmonie und Freiheit" bildet der Appell an die Könige, das Werk
der Erlösung der Menschheit zu übernehmen.

Die Kritik steht einen Augenblick ratlos: sie weiß nicht, wo sie zuerst
anfangen soll. Die Vorschläge Weitlings zur Überführung der heutigen Gesell¬
schaft in den Sozialstaat sind wohl mit das Verrückteste, was überhaupt in
dieser Hinsicht auf deutschem Boden gediehen ist. Die deutsche Sozialdemokratie
hat nicht entfernt ähnliches geleistet. In diesen Plänen Weitlings geht „Fixig¬
keit" über alles. Wie dürre Blätter vom Wirbelwind, so werden die bestehenden
Institutionen von der Weitlingschen „Reform" hinweggefegt. An ihre Stelle
tritt ein tolles Durcheinander, die denkbar wüsteste Anarchie. Fast alle wohl¬
erworbenen Rechte werden auf einmal vernichtet, die kümmerlichen Reste der¬
selben können jederzeit mit einem Schlage demselben Schicksale anheimfallen.
Die radikalste Umgestaltung, welche die Weltgeschichte sehen würde, soll in einem
Augenblicke vorgenommen werden, und zwar noch dazu in der denkbar unge¬
schicktesten Art, nämlich nach Gemeinden. Da es diesen eventuell freisteht, die
Gemeinschaft abzulehnen, so würde man die Privat- und die Gemeinschafts¬
produktion in demselben Zweige nebeneinander haben können. Alle Beamten
der Gemeinschaft sollen gleichen Lohn erhalten. Aber wie wird man dann für
die Ämter Mitglieder der besitzenden Klassen gewinnen können, die heute doch
unbestritten allein zur Leitung der Produktion fähig sind? Diese werden jeden¬
falls lieber ins Ausland gehen, wo sie sich mit ihren Fähigkeiten und ihrer
Bildung immerhin eine bessere Lebenslage werden erwerben können als im In¬
lands. Dadurch würde die Gemeinschaft vollständig unmöglich werden. Auf
welche Weise wäre es denn durchzuführen, daß die bisher nur mit mechanischen
Arbeiten beschäftigten Personen mit einemmale die Funktionen der Buchhalter,
Ingenieure, Baumeister, Techniker u. s. w. versahen? Schon aus diesem Grunde
ist die Gemeinschaft absolut unmöglich. Da sie daneben noch alle die großen
Mängel hat, die wir bei der Betrachtung des Weitlingschen Svzialstaates fanden,
so ist sie auch aus diesem zweiten Grunde unmöglich. Da sie ferner noch den
Fehler hat, nicht das ganze Staatsgebiet zu umfassen, sondern nur Teile des¬
selben, während andre privatwirtschaftlich organisirt sind, so giebt das einen
dritten durchschlagenden Grund gegen den Reformplan Weitlings. Da außer¬
dem die Umwälzung eine gewaltige und außerordentliche rapide wäre, so müßte
sie in der nächsten Zeit fortwährend Verschwörungen und Revolutionen der früher
bevorzugten Klassen und ihres Anhanges erzeugen; also ein vierter vernichtender
Einwand gegen das vorgeschlagene Projekt.

Unser Kommunist hat wirklich mit seltenem Ungeschick in seinen Vorschlägen
zur Überleitung des heutigen Staates in den Svzialstaat alles vereinigt, was
denselben nur irgend zur Utopie machen kann. Aber der ärgste ist der, daß,
falls der Plan nicht zur Ausführung gelangen sollte, der Krieg gegen das
Eigentum, d. h. der rote Hahn und der Diebstahl, gepredigt werden soll. Aus


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[0266] Ein Vorläufer Tassalles. lieu der Harmonie und Freiheit" bildet der Appell an die Könige, das Werk der Erlösung der Menschheit zu übernehmen. Die Kritik steht einen Augenblick ratlos: sie weiß nicht, wo sie zuerst anfangen soll. Die Vorschläge Weitlings zur Überführung der heutigen Gesell¬ schaft in den Sozialstaat sind wohl mit das Verrückteste, was überhaupt in dieser Hinsicht auf deutschem Boden gediehen ist. Die deutsche Sozialdemokratie hat nicht entfernt ähnliches geleistet. In diesen Plänen Weitlings geht „Fixig¬ keit" über alles. Wie dürre Blätter vom Wirbelwind, so werden die bestehenden Institutionen von der Weitlingschen „Reform" hinweggefegt. An ihre Stelle tritt ein tolles Durcheinander, die denkbar wüsteste Anarchie. Fast alle wohl¬ erworbenen Rechte werden auf einmal vernichtet, die kümmerlichen Reste der¬ selben können jederzeit mit einem Schlage demselben Schicksale anheimfallen. Die radikalste Umgestaltung, welche die Weltgeschichte sehen würde, soll in einem Augenblicke vorgenommen werden, und zwar noch dazu in der denkbar unge¬ schicktesten Art, nämlich nach Gemeinden. Da es diesen eventuell freisteht, die Gemeinschaft abzulehnen, so würde man die Privat- und die Gemeinschafts¬ produktion in demselben Zweige nebeneinander haben können. Alle Beamten der Gemeinschaft sollen gleichen Lohn erhalten. Aber wie wird man dann für die Ämter Mitglieder der besitzenden Klassen gewinnen können, die heute doch unbestritten allein zur Leitung der Produktion fähig sind? Diese werden jeden¬ falls lieber ins Ausland gehen, wo sie sich mit ihren Fähigkeiten und ihrer Bildung immerhin eine bessere Lebenslage werden erwerben können als im In¬ lands. Dadurch würde die Gemeinschaft vollständig unmöglich werden. Auf welche Weise wäre es denn durchzuführen, daß die bisher nur mit mechanischen Arbeiten beschäftigten Personen mit einemmale die Funktionen der Buchhalter, Ingenieure, Baumeister, Techniker u. s. w. versahen? Schon aus diesem Grunde ist die Gemeinschaft absolut unmöglich. Da sie daneben noch alle die großen Mängel hat, die wir bei der Betrachtung des Weitlingschen Svzialstaates fanden, so ist sie auch aus diesem zweiten Grunde unmöglich. Da sie ferner noch den Fehler hat, nicht das ganze Staatsgebiet zu umfassen, sondern nur Teile des¬ selben, während andre privatwirtschaftlich organisirt sind, so giebt das einen dritten durchschlagenden Grund gegen den Reformplan Weitlings. Da außer¬ dem die Umwälzung eine gewaltige und außerordentliche rapide wäre, so müßte sie in der nächsten Zeit fortwährend Verschwörungen und Revolutionen der früher bevorzugten Klassen und ihres Anhanges erzeugen; also ein vierter vernichtender Einwand gegen das vorgeschlagene Projekt. Unser Kommunist hat wirklich mit seltenem Ungeschick in seinen Vorschlägen zur Überleitung des heutigen Staates in den Svzialstaat alles vereinigt, was denselben nur irgend zur Utopie machen kann. Aber der ärgste ist der, daß, falls der Plan nicht zur Ausführung gelangen sollte, der Krieg gegen das Eigentum, d. h. der rote Hahn und der Diebstahl, gepredigt werden soll. Aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/266>, abgerufen am 22.05.2024.