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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Anzongrubers Schandfleck,

lebendige Menschen in Bewegung und Leidenschaft vorzuführen. Die Schilde¬
rung der Werbung der Müllerin um Leni für ihren Sohn und die daraus
folgende Entdeckung des "Schandfleckes," die Schilderung des Eintritts der
Leni in den Grasbodenhof und die Werbung des spröden Witwers um ihre
Liebe: das sind die Höhepunkte der Dichtung, Meisterhaft ist die Kunst zu
chciraktcrisiren bei Anzcngruber: der Humor, die Tiefe, die "Schneid." Meister¬
haft ist seine Behandlung des Dialektes /°) der im zweiten Teile merklich anders
ist als im ersten, wo er sich mehr dem Schriftdeutsch nähert; im Dialekt findet
Anzcngruber seinen Naturlaut, da spricht er, wie die bisher angeführten Zitate
zeigen, auch oft in drastischen Bildern. Am feinsinnigsten jedoch scheint uns
die Art zu sein, in der er die eigentlich schuldigen und die am Ehebruch zu¬
nächst beteiligten Personen dargestellt hat. Die Reindorferin, ein schwaches
Weib, bleibt im Hintergründe, und ebenso ihr Verführer. Aber der Ncindorfer,
der als Hahnrei so leicht die komische Figur hätte werden können, wurde zur
bedeutendsten Gestalt der Dichtung. Der Autor motivirt seine Handlungsweise
mit seinem Alter und seiner philosophischen Vcdachtsamkeit. Daß er freilich diesen
Thpus der Biederkeit und Bravheit bis zu tragischer Größe in die Höhe ge¬
trieben hat, hat auf uns nicht den Eindruck organischen Zusammenhanges oder
Wachstums machen wollen. Den Mann, der sich so groß in der Selbstver¬
leugnung und Rechtlichkeit gezeigt hat, läßt nämlich Anzcngruber schließlich auch
noch den Lohn des leidenschaftlichen Königs Lear gewinnen. Als er seinem
mißratenen Sohne nach dessen Verheiratung mit einem übclbeleumundeten
Frauenzimmer den Hof abgetreten, da duldet thu die saubere Schwiegertochter
nicht lange mehr im Hause, und der bald achtzigjährige Greis wird auf die
Gasse getrieben, zum Bettler gemacht. Auch die andre verheiratete Tochter
will ihn nicht ins Haus nehmen, bis er an seinem unechten Kinde, der Leni,
die Cordelia findet, welche dem Greise ein Kissen zum Sterben zurichten will!
Sein Tod stiftet noch Gutes: denn Burgerl, welches sein Nervenleiden durch den
Anblick der sterbenden Mutter bekommen, wird durch den Anblick des selig
scheidenden Greises, den sie standhaft aushält, geheilt.

So legt man den Roman, der jedenfalls dem Bedeutendsten beizuzählen ist,
was die Dorfpoesie der neueren Zeit geschaffen hat, mit ernsten, wenn auch nicht
rein tragisch erschütternden Empfindungen aus der Hand.





D. Red. Nach den hier mitgeteilten Proben nicht.
Anzongrubers Schandfleck,

lebendige Menschen in Bewegung und Leidenschaft vorzuführen. Die Schilde¬
rung der Werbung der Müllerin um Leni für ihren Sohn und die daraus
folgende Entdeckung des „Schandfleckes," die Schilderung des Eintritts der
Leni in den Grasbodenhof und die Werbung des spröden Witwers um ihre
Liebe: das sind die Höhepunkte der Dichtung, Meisterhaft ist die Kunst zu
chciraktcrisiren bei Anzcngruber: der Humor, die Tiefe, die „Schneid." Meister¬
haft ist seine Behandlung des Dialektes /°) der im zweiten Teile merklich anders
ist als im ersten, wo er sich mehr dem Schriftdeutsch nähert; im Dialekt findet
Anzcngruber seinen Naturlaut, da spricht er, wie die bisher angeführten Zitate
zeigen, auch oft in drastischen Bildern. Am feinsinnigsten jedoch scheint uns
die Art zu sein, in der er die eigentlich schuldigen und die am Ehebruch zu¬
nächst beteiligten Personen dargestellt hat. Die Reindorferin, ein schwaches
Weib, bleibt im Hintergründe, und ebenso ihr Verführer. Aber der Ncindorfer,
der als Hahnrei so leicht die komische Figur hätte werden können, wurde zur
bedeutendsten Gestalt der Dichtung. Der Autor motivirt seine Handlungsweise
mit seinem Alter und seiner philosophischen Vcdachtsamkeit. Daß er freilich diesen
Thpus der Biederkeit und Bravheit bis zu tragischer Größe in die Höhe ge¬
trieben hat, hat auf uns nicht den Eindruck organischen Zusammenhanges oder
Wachstums machen wollen. Den Mann, der sich so groß in der Selbstver¬
leugnung und Rechtlichkeit gezeigt hat, läßt nämlich Anzcngruber schließlich auch
noch den Lohn des leidenschaftlichen Königs Lear gewinnen. Als er seinem
mißratenen Sohne nach dessen Verheiratung mit einem übclbeleumundeten
Frauenzimmer den Hof abgetreten, da duldet thu die saubere Schwiegertochter
nicht lange mehr im Hause, und der bald achtzigjährige Greis wird auf die
Gasse getrieben, zum Bettler gemacht. Auch die andre verheiratete Tochter
will ihn nicht ins Haus nehmen, bis er an seinem unechten Kinde, der Leni,
die Cordelia findet, welche dem Greise ein Kissen zum Sterben zurichten will!
Sein Tod stiftet noch Gutes: denn Burgerl, welches sein Nervenleiden durch den
Anblick der sterbenden Mutter bekommen, wird durch den Anblick des selig
scheidenden Greises, den sie standhaft aushält, geheilt.

So legt man den Roman, der jedenfalls dem Bedeutendsten beizuzählen ist,
was die Dorfpoesie der neueren Zeit geschaffen hat, mit ernsten, wenn auch nicht
rein tragisch erschütternden Empfindungen aus der Hand.





D. Red. Nach den hier mitgeteilten Proben nicht.
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[0100] Anzongrubers Schandfleck, lebendige Menschen in Bewegung und Leidenschaft vorzuführen. Die Schilde¬ rung der Werbung der Müllerin um Leni für ihren Sohn und die daraus folgende Entdeckung des „Schandfleckes," die Schilderung des Eintritts der Leni in den Grasbodenhof und die Werbung des spröden Witwers um ihre Liebe: das sind die Höhepunkte der Dichtung, Meisterhaft ist die Kunst zu chciraktcrisiren bei Anzcngruber: der Humor, die Tiefe, die „Schneid." Meister¬ haft ist seine Behandlung des Dialektes /°) der im zweiten Teile merklich anders ist als im ersten, wo er sich mehr dem Schriftdeutsch nähert; im Dialekt findet Anzcngruber seinen Naturlaut, da spricht er, wie die bisher angeführten Zitate zeigen, auch oft in drastischen Bildern. Am feinsinnigsten jedoch scheint uns die Art zu sein, in der er die eigentlich schuldigen und die am Ehebruch zu¬ nächst beteiligten Personen dargestellt hat. Die Reindorferin, ein schwaches Weib, bleibt im Hintergründe, und ebenso ihr Verführer. Aber der Ncindorfer, der als Hahnrei so leicht die komische Figur hätte werden können, wurde zur bedeutendsten Gestalt der Dichtung. Der Autor motivirt seine Handlungsweise mit seinem Alter und seiner philosophischen Vcdachtsamkeit. Daß er freilich diesen Thpus der Biederkeit und Bravheit bis zu tragischer Größe in die Höhe ge¬ trieben hat, hat auf uns nicht den Eindruck organischen Zusammenhanges oder Wachstums machen wollen. Den Mann, der sich so groß in der Selbstver¬ leugnung und Rechtlichkeit gezeigt hat, läßt nämlich Anzcngruber schließlich auch noch den Lohn des leidenschaftlichen Königs Lear gewinnen. Als er seinem mißratenen Sohne nach dessen Verheiratung mit einem übclbeleumundeten Frauenzimmer den Hof abgetreten, da duldet thu die saubere Schwiegertochter nicht lange mehr im Hause, und der bald achtzigjährige Greis wird auf die Gasse getrieben, zum Bettler gemacht. Auch die andre verheiratete Tochter will ihn nicht ins Haus nehmen, bis er an seinem unechten Kinde, der Leni, die Cordelia findet, welche dem Greise ein Kissen zum Sterben zurichten will! Sein Tod stiftet noch Gutes: denn Burgerl, welches sein Nervenleiden durch den Anblick der sterbenden Mutter bekommen, wird durch den Anblick des selig scheidenden Greises, den sie standhaft aushält, geheilt. So legt man den Roman, der jedenfalls dem Bedeutendsten beizuzählen ist, was die Dorfpoesie der neueren Zeit geschaffen hat, mit ernsten, wenn auch nicht rein tragisch erschütternden Empfindungen aus der Hand. D. Red. Nach den hier mitgeteilten Proben nicht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/100>, abgerufen am 22.05.2024.