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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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"Vorbereitet" gesagt hatte, und das war richtig. Gleich nach den ersten Sätzen
wußte jeder: hier spricht ein wirklicher Redner. In ihm vereinigten sich alle
Vorbedingungen eines solchen, Kraft der Stimme, Tonfülle, Gedanken- und
Wortreichtum, Klarheit des Ausdruckes, Sicherheit, Leidenschaft, Maß, Liebe
zur Sache, Begeisterung; dazu kam ein dreißigjähriges Studium, das in ihm
den Meister der Beredsamkeit ausgebildet hatte. Er war auf der Tribüne ein
fertiger Mann, eine ungewöhnliche Erscheinung, die erobernd wirkte. Solche
Redner können großes Unheil stiften, wenn sie in dem Aufgebote des Bösen
stehen; im entgegengesetzten Falle müssen sie Segen verbreiten, nicht mir auf
die Hörer, sondern auch auf deren Hörer -- ein unbegrenztes Gebiet! Was
endlich sein Äußeres betrifft, so möge es ein Dichterwort veranschaulichen:


Denn anders scheint Ihr mir als sonst
An Stimm' und AugeiicUauz, auch hochgestreckt
Wie Recken aus der Sage.

Nachdem er seinen Plan der Behandlung kurz vorausgeschickt hatte, ging
er näher auf die nach Fächern geordneten Gebiete der Kulturentwicklung der
letzten fünfzig Jahre ein, stets in Anschluß an deu Stand des vorletzten Halb¬
jahrhunderts (1783 --1833) und indem er sich stets an die Aufgabe: seil, in
llltorik; hielt. Er behandelte zunächst die unmittelbar auf Gymnasialbildung be¬
ruhenden Wissenschaften, streifte die unmittelbar auf ihr ruhenden Fächer und
ging endlich auf die Künste ein. Seine Rede gipfelte in dem auf Gymnasien
allgemein giltigen Lieblingssatze vom clictioisss liäölitsr artss (Wissenschaft und
Kunst veredelt).

Schon während der Rede machten sich bei einzelnen Stellen Beifallsbe¬
zeigungen der durch den Gegenstand besonders Berührten Luft. Zuletzt sagte
der Redner: Hieraus ergiebt sich, daß ein Fortschritt in den letzten fünfzig
Jahren vorhanden ist fast in allen Einzelgebieten der Kulturarbeit, die auf die
Gymnasialbildung sich gründet oder mit ihr im Zusammenhange steht, ein Fort¬
schritt, der die gewaltigen Ergebnisse des vorletzten Halbjahrhunderts in eben
dem Maße übersteigt, wie dieses seinen Vorläufer an Errungenschaften über-
loffen hatte, daß also die Kulturentwicklung sich in stetiger stufenweiser Stei-
gerung befindet.

Die Blume der Kulturentwicklung aber ist die "Bildung," und zwar jene
allgemeine Bildung, die sich aus der gesamten Geistesarbeit der Zeit zusammen¬
setzt, ein Duftbouquet gleichsam, dessen Inhalt die aus dem gesamten Wissen
für den Einzelnen sich ergebende Teilnahme ist. Sie macht den Gedanken frei,
setzt die Urteilskraft in ihr oberstes Recht ein, rückt den Gesichtskreis in das
Weite hinaus, befähigt zu der Erfüllung der Pflichten, deren Gebiet mit der
fortschreitenden Entwicklung sich immer mehr ausbreitet. Sie macht tüchtig zu
der gedeihlichen Lösung des Widerstreites der sich kreuzenden Pflichten.


„Vorbereitet" gesagt hatte, und das war richtig. Gleich nach den ersten Sätzen
wußte jeder: hier spricht ein wirklicher Redner. In ihm vereinigten sich alle
Vorbedingungen eines solchen, Kraft der Stimme, Tonfülle, Gedanken- und
Wortreichtum, Klarheit des Ausdruckes, Sicherheit, Leidenschaft, Maß, Liebe
zur Sache, Begeisterung; dazu kam ein dreißigjähriges Studium, das in ihm
den Meister der Beredsamkeit ausgebildet hatte. Er war auf der Tribüne ein
fertiger Mann, eine ungewöhnliche Erscheinung, die erobernd wirkte. Solche
Redner können großes Unheil stiften, wenn sie in dem Aufgebote des Bösen
stehen; im entgegengesetzten Falle müssen sie Segen verbreiten, nicht mir auf
die Hörer, sondern auch auf deren Hörer — ein unbegrenztes Gebiet! Was
endlich sein Äußeres betrifft, so möge es ein Dichterwort veranschaulichen:


Denn anders scheint Ihr mir als sonst
An Stimm' und AugeiicUauz, auch hochgestreckt
Wie Recken aus der Sage.

Nachdem er seinen Plan der Behandlung kurz vorausgeschickt hatte, ging
er näher auf die nach Fächern geordneten Gebiete der Kulturentwicklung der
letzten fünfzig Jahre ein, stets in Anschluß an deu Stand des vorletzten Halb¬
jahrhunderts (1783 —1833) und indem er sich stets an die Aufgabe: seil, in
llltorik; hielt. Er behandelte zunächst die unmittelbar auf Gymnasialbildung be¬
ruhenden Wissenschaften, streifte die unmittelbar auf ihr ruhenden Fächer und
ging endlich auf die Künste ein. Seine Rede gipfelte in dem auf Gymnasien
allgemein giltigen Lieblingssatze vom clictioisss liäölitsr artss (Wissenschaft und
Kunst veredelt).

Schon während der Rede machten sich bei einzelnen Stellen Beifallsbe¬
zeigungen der durch den Gegenstand besonders Berührten Luft. Zuletzt sagte
der Redner: Hieraus ergiebt sich, daß ein Fortschritt in den letzten fünfzig
Jahren vorhanden ist fast in allen Einzelgebieten der Kulturarbeit, die auf die
Gymnasialbildung sich gründet oder mit ihr im Zusammenhange steht, ein Fort¬
schritt, der die gewaltigen Ergebnisse des vorletzten Halbjahrhunderts in eben
dem Maße übersteigt, wie dieses seinen Vorläufer an Errungenschaften über-
loffen hatte, daß also die Kulturentwicklung sich in stetiger stufenweiser Stei-
gerung befindet.

Die Blume der Kulturentwicklung aber ist die „Bildung," und zwar jene
allgemeine Bildung, die sich aus der gesamten Geistesarbeit der Zeit zusammen¬
setzt, ein Duftbouquet gleichsam, dessen Inhalt die aus dem gesamten Wissen
für den Einzelnen sich ergebende Teilnahme ist. Sie macht den Gedanken frei,
setzt die Urteilskraft in ihr oberstes Recht ein, rückt den Gesichtskreis in das
Weite hinaus, befähigt zu der Erfüllung der Pflichten, deren Gebiet mit der
fortschreitenden Entwicklung sich immer mehr ausbreitet. Sie macht tüchtig zu
der gedeihlichen Lösung des Widerstreites der sich kreuzenden Pflichten.


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[0111] „Vorbereitet" gesagt hatte, und das war richtig. Gleich nach den ersten Sätzen wußte jeder: hier spricht ein wirklicher Redner. In ihm vereinigten sich alle Vorbedingungen eines solchen, Kraft der Stimme, Tonfülle, Gedanken- und Wortreichtum, Klarheit des Ausdruckes, Sicherheit, Leidenschaft, Maß, Liebe zur Sache, Begeisterung; dazu kam ein dreißigjähriges Studium, das in ihm den Meister der Beredsamkeit ausgebildet hatte. Er war auf der Tribüne ein fertiger Mann, eine ungewöhnliche Erscheinung, die erobernd wirkte. Solche Redner können großes Unheil stiften, wenn sie in dem Aufgebote des Bösen stehen; im entgegengesetzten Falle müssen sie Segen verbreiten, nicht mir auf die Hörer, sondern auch auf deren Hörer — ein unbegrenztes Gebiet! Was endlich sein Äußeres betrifft, so möge es ein Dichterwort veranschaulichen: Denn anders scheint Ihr mir als sonst An Stimm' und AugeiicUauz, auch hochgestreckt Wie Recken aus der Sage. Nachdem er seinen Plan der Behandlung kurz vorausgeschickt hatte, ging er näher auf die nach Fächern geordneten Gebiete der Kulturentwicklung der letzten fünfzig Jahre ein, stets in Anschluß an deu Stand des vorletzten Halb¬ jahrhunderts (1783 —1833) und indem er sich stets an die Aufgabe: seil, in llltorik; hielt. Er behandelte zunächst die unmittelbar auf Gymnasialbildung be¬ ruhenden Wissenschaften, streifte die unmittelbar auf ihr ruhenden Fächer und ging endlich auf die Künste ein. Seine Rede gipfelte in dem auf Gymnasien allgemein giltigen Lieblingssatze vom clictioisss liäölitsr artss (Wissenschaft und Kunst veredelt). Schon während der Rede machten sich bei einzelnen Stellen Beifallsbe¬ zeigungen der durch den Gegenstand besonders Berührten Luft. Zuletzt sagte der Redner: Hieraus ergiebt sich, daß ein Fortschritt in den letzten fünfzig Jahren vorhanden ist fast in allen Einzelgebieten der Kulturarbeit, die auf die Gymnasialbildung sich gründet oder mit ihr im Zusammenhange steht, ein Fort¬ schritt, der die gewaltigen Ergebnisse des vorletzten Halbjahrhunderts in eben dem Maße übersteigt, wie dieses seinen Vorläufer an Errungenschaften über- loffen hatte, daß also die Kulturentwicklung sich in stetiger stufenweiser Stei- gerung befindet. Die Blume der Kulturentwicklung aber ist die „Bildung," und zwar jene allgemeine Bildung, die sich aus der gesamten Geistesarbeit der Zeit zusammen¬ setzt, ein Duftbouquet gleichsam, dessen Inhalt die aus dem gesamten Wissen für den Einzelnen sich ergebende Teilnahme ist. Sie macht den Gedanken frei, setzt die Urteilskraft in ihr oberstes Recht ein, rückt den Gesichtskreis in das Weite hinaus, befähigt zu der Erfüllung der Pflichten, deren Gebiet mit der fortschreitenden Entwicklung sich immer mehr ausbreitet. Sie macht tüchtig zu der gedeihlichen Lösung des Widerstreites der sich kreuzenden Pflichten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/111>, abgerufen am 21.05.2024.