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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Die Kommilitonen.

Auch die Achtzehuhundertneunundvierziger hatten verabredet, sich zurück
zuziehen, Kautschuk und Archimedes übernahmen die Beschaffung eines Sonder-
zimmers. Dem ersteren lag viel daran, diese Vesperstunde, in welcher die
Schulfreunde ihren Lebenslauf erzählen sollten, in möglichster Abgeschiedenheit
zuzubringen, er fürchtete dabei das Lautwerden von fortschrittlichen Ideen, die
ihm in seiner Stellung schaden könnten. Durch irgendwelche Vorkehrungen hoffte
er vor allen den "blassen Heinrich" und Mirbl zu beseitigen, auch sich des "Juden"
Cohn zu entledigen. Das letztere glückte ihm sofort; er hatte Cohn auf dessen
Frage so ausweichend über die Wahl des Sonderzimmers geantwortet, daß
dieser die Absicht merkte und wegblieb.

Eben teilte Cohn diesen Entschluß Mirbl mit, der in einem Polsterstuhle
neben einem Spiegel lag und seine Haartour und den am Halse hängenden
Maltheserorden zurechtzupfte. Mirbl zeigte sich infolge dieser Mitteilung höchst
aufgebracht über Kautschuks Gesinnung; er sprach von "bornirten Antipathien,"
von "Idiosynkrasie," und von dem Servilismus, Egoismus und Cynismus,
durch welchen Kautschuk Karriere gemacht habe. Er selbst hatte das freilich
vergeblich versucht, und so stand ihm am allerwenigsten solches Verurteilen des
andern zu, der ihm überdies in einem wirklich voraus war, denn Kautschuk
leistete in seinem Fache als Jurist wirklich tüchtiges, während Mirbl doch nur
als Drohne in dem Honiggenusse schwelgte, den ihm die von ihm übel behan¬
delte Gattin durch ihre Reichtümer verschafft hatte.

Cohn mißfiel die prahlerische, mit Flitter aufgeputzte Art des Schulgefährten,
er wollte gehen und bat nur noch, die ihm aufgetragene Verzugsentschuldigung
des "blassen Heinrich" bei den Genossen auszurichten. Mirbl aber hielt ihn fest,
um sich noch einiger auf der Zunge prickelnden Schönrednereien zu entledigen.
Er übernehme, sagte er, den Auftrag in betreff des "blassen Heinrichs," aber der
Schulfreund müsse uun auch seine "diskret kommunizirten" Ansichten über dessen
Standpunkt erfahren; und dann führte er aus, daß ihn der Frühvortrag
"tragisch" berührt habe; wo bleibe bei solche" edeln Redeübungen das praktisch
Verteilbare in unsrer korrumpirten Ära, dem Zeitalter ohne ethischen Gehalt?

Einen Widerspruch Cohns ließ er garnicht zu. Cohn! wer wie ich sein
Herzblut für Ideen geopfert hat! unterbrach er ihn. Dann atmete er tief auf,
machte die Augen so auf, als wenn er in das Weite schaute, hielt die Hand
vor das Gesicht und flüsterte: Eine Afterbildung ist unsre gegenwärtige
Bildung, rctrvgrad; allerorten sind hierarchische Interessen sieghaft (das Wort
"sieghaft" brauchte er gern und stets unter Augenaufsperren), Mirakel, Intole¬
ranz, Antisemitismus, Nationalitäten, Denunziantentum, maroder Parlamen¬
tarismus, legislatorische Impotenz, relaxirtcr Sozialismus! Noch andre Kunst¬
ausdrücke von Zeitungsschreibern, wie elidiren, insuffiziente Palliative, exorbi¬
tant, Velleitäten ließ er durcheinander schwirren. Zu seiner Entschuldigung sei
gesagt, daß er einen kleinen Champagnerspitz hatte.


Die Kommilitonen.

Auch die Achtzehuhundertneunundvierziger hatten verabredet, sich zurück
zuziehen, Kautschuk und Archimedes übernahmen die Beschaffung eines Sonder-
zimmers. Dem ersteren lag viel daran, diese Vesperstunde, in welcher die
Schulfreunde ihren Lebenslauf erzählen sollten, in möglichster Abgeschiedenheit
zuzubringen, er fürchtete dabei das Lautwerden von fortschrittlichen Ideen, die
ihm in seiner Stellung schaden könnten. Durch irgendwelche Vorkehrungen hoffte
er vor allen den „blassen Heinrich" und Mirbl zu beseitigen, auch sich des „Juden"
Cohn zu entledigen. Das letztere glückte ihm sofort; er hatte Cohn auf dessen
Frage so ausweichend über die Wahl des Sonderzimmers geantwortet, daß
dieser die Absicht merkte und wegblieb.

Eben teilte Cohn diesen Entschluß Mirbl mit, der in einem Polsterstuhle
neben einem Spiegel lag und seine Haartour und den am Halse hängenden
Maltheserorden zurechtzupfte. Mirbl zeigte sich infolge dieser Mitteilung höchst
aufgebracht über Kautschuks Gesinnung; er sprach von „bornirten Antipathien,"
von „Idiosynkrasie," und von dem Servilismus, Egoismus und Cynismus,
durch welchen Kautschuk Karriere gemacht habe. Er selbst hatte das freilich
vergeblich versucht, und so stand ihm am allerwenigsten solches Verurteilen des
andern zu, der ihm überdies in einem wirklich voraus war, denn Kautschuk
leistete in seinem Fache als Jurist wirklich tüchtiges, während Mirbl doch nur
als Drohne in dem Honiggenusse schwelgte, den ihm die von ihm übel behan¬
delte Gattin durch ihre Reichtümer verschafft hatte.

Cohn mißfiel die prahlerische, mit Flitter aufgeputzte Art des Schulgefährten,
er wollte gehen und bat nur noch, die ihm aufgetragene Verzugsentschuldigung
des „blassen Heinrich" bei den Genossen auszurichten. Mirbl aber hielt ihn fest,
um sich noch einiger auf der Zunge prickelnden Schönrednereien zu entledigen.
Er übernehme, sagte er, den Auftrag in betreff des „blassen Heinrichs," aber der
Schulfreund müsse uun auch seine „diskret kommunizirten" Ansichten über dessen
Standpunkt erfahren; und dann führte er aus, daß ihn der Frühvortrag
„tragisch" berührt habe; wo bleibe bei solche» edeln Redeübungen das praktisch
Verteilbare in unsrer korrumpirten Ära, dem Zeitalter ohne ethischen Gehalt?

Einen Widerspruch Cohns ließ er garnicht zu. Cohn! wer wie ich sein
Herzblut für Ideen geopfert hat! unterbrach er ihn. Dann atmete er tief auf,
machte die Augen so auf, als wenn er in das Weite schaute, hielt die Hand
vor das Gesicht und flüsterte: Eine Afterbildung ist unsre gegenwärtige
Bildung, rctrvgrad; allerorten sind hierarchische Interessen sieghaft (das Wort
„sieghaft" brauchte er gern und stets unter Augenaufsperren), Mirakel, Intole¬
ranz, Antisemitismus, Nationalitäten, Denunziantentum, maroder Parlamen¬
tarismus, legislatorische Impotenz, relaxirtcr Sozialismus! Noch andre Kunst¬
ausdrücke von Zeitungsschreibern, wie elidiren, insuffiziente Palliative, exorbi¬
tant, Velleitäten ließ er durcheinander schwirren. Zu seiner Entschuldigung sei
gesagt, daß er einen kleinen Champagnerspitz hatte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/167>, abgerufen am 21.05.2024.