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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Lierlegende Säugetiere.

Wesen glaubt er als selbstverständlich entnehmen zu dürfen, daß alle Tiere,
welche ihre Jungen nicht säugen, Eier legen. Es ist dies jedoch eine Annahme,
welche eine genauere Beobachtung der Thatsachen längst als irrig erwiesen hat.
Der Tierkuudige kennt eine stattliche Zahl von Tieren fast aus allen Klassen
des Reiches, hohen und niederen, deren Fortpflanzung auf ein Lcbendiggebciren
hinausläuft. So unwahrscheinlich es dem Laien auch erscheinen mag, es giebt
in der That Reptilien, Fische, Schnecken, Insekten und Krebse, welche ihre
Jungen lebendig zur Welt bringen, und was das auffallendste dabei ist, es sind
gar oft Tiere, die in andrer Beziehung einander sehr nahe stehen, in der Art
der Fortpflanzung jedoch sich scheinbar so weit von einander entfernen.

Bei einer Erwägung dieser Verhältnisse drängt sich nun bald die Frage
auf, ob denn in der That, wie es zuerst den Anschein hat, die beiden Arten
der Fortpflanzung, um die es sich hier handelt, so weit von einander verschieden
seien, ob nicht vielmehr, ermöglicht durch ein beiden gemeinsames Prinzip, ein
Übergang von der einen zur andern verständlich sei? Die vergleichende Ent¬
wicklungsgeschichte hat in der That diese Fragen im Sinne der Fragestellung
beantwortet. Ob eine Eidechse Eier legt, ob sie die Eier im mütterlichen
Körper bis zur Vollendung der embryonalen Entwicklung bewahrt, hängt von
verhältnismäßig nebensächlichen Umständen der Organisation ab; beiden Fort¬
pflanzungsarten gemeinsam und das wichtigste dabei ist das Vorhandensein des
Eies. Lebendiggebären bei einem niederen Tiere, also z. B. bei der Eidechse,
und Lcbendiggebciren bei einem Säugetiere ist zwar bei weitem nicht dasselbe,
aber eines finden wir auch hier als beiden gemeinsam, und dies ist -- das El.
Auch das Säugetier, auch der Mensch entsteht aus einem El.

Den Begriff des Eies allerdings, den der Laie gewöhnlich mitbringt und
den er lediglich vom Vogelei abgezogen zu haben pflegt, hat die Wissenschaft
längst berichtigt. Das Vogelei mit seinem großen gelben Dotter und der
mächtigen umlagernden Eiweißschicht, mit seiner festen, kalkigen Schale ist nicht
das El im wissenschaftlichen Sinne. Das eigentliche El, welches fast allen
Tieren, auch dem Menschen zukommt, und welches uns im Vogelei, wenn auch
in schon fortgeschritteneren Entwicklungsstadium, in einer kleinen weißlichen Scheibe
des Dotters entgegentritt, ist -- eine Zelle, ein kleines, oft mikroskopisches
Bläschen mit zähflüssigem Inhalte und eingelagerten! festerem Kerne; alles andre
sind Zuthaten, die auftreten oder wegfallen können, je nach den verschiednen
Umständen, unter denen sich die Eizelle entwickelt. Denn die Eizelle ist es,
welche durch tausend- und abertausendfache Teilung in weitere Zellen bei gleich¬
zeitigem Wachstum derselben und dnrch Verschiedenwerden dieser Zellen nach
den vielfachsten Richtungen hin große wie kleine Organismen entstehen läßt.

Die Umstände nun, unter welchen sich die Eizellen der verschiednen Tiere
entwickeln, sind verschieden genug. Die einen bringen ihre Eizellen in ihrer
ursprünglichen Gestalt, und dann meist in großer, oft ungeheurer Zahl, in die


Lierlegende Säugetiere.

Wesen glaubt er als selbstverständlich entnehmen zu dürfen, daß alle Tiere,
welche ihre Jungen nicht säugen, Eier legen. Es ist dies jedoch eine Annahme,
welche eine genauere Beobachtung der Thatsachen längst als irrig erwiesen hat.
Der Tierkuudige kennt eine stattliche Zahl von Tieren fast aus allen Klassen
des Reiches, hohen und niederen, deren Fortpflanzung auf ein Lcbendiggebciren
hinausläuft. So unwahrscheinlich es dem Laien auch erscheinen mag, es giebt
in der That Reptilien, Fische, Schnecken, Insekten und Krebse, welche ihre
Jungen lebendig zur Welt bringen, und was das auffallendste dabei ist, es sind
gar oft Tiere, die in andrer Beziehung einander sehr nahe stehen, in der Art
der Fortpflanzung jedoch sich scheinbar so weit von einander entfernen.

Bei einer Erwägung dieser Verhältnisse drängt sich nun bald die Frage
auf, ob denn in der That, wie es zuerst den Anschein hat, die beiden Arten
der Fortpflanzung, um die es sich hier handelt, so weit von einander verschieden
seien, ob nicht vielmehr, ermöglicht durch ein beiden gemeinsames Prinzip, ein
Übergang von der einen zur andern verständlich sei? Die vergleichende Ent¬
wicklungsgeschichte hat in der That diese Fragen im Sinne der Fragestellung
beantwortet. Ob eine Eidechse Eier legt, ob sie die Eier im mütterlichen
Körper bis zur Vollendung der embryonalen Entwicklung bewahrt, hängt von
verhältnismäßig nebensächlichen Umständen der Organisation ab; beiden Fort¬
pflanzungsarten gemeinsam und das wichtigste dabei ist das Vorhandensein des
Eies. Lebendiggebären bei einem niederen Tiere, also z. B. bei der Eidechse,
und Lcbendiggebciren bei einem Säugetiere ist zwar bei weitem nicht dasselbe,
aber eines finden wir auch hier als beiden gemeinsam, und dies ist — das El.
Auch das Säugetier, auch der Mensch entsteht aus einem El.

Den Begriff des Eies allerdings, den der Laie gewöhnlich mitbringt und
den er lediglich vom Vogelei abgezogen zu haben pflegt, hat die Wissenschaft
längst berichtigt. Das Vogelei mit seinem großen gelben Dotter und der
mächtigen umlagernden Eiweißschicht, mit seiner festen, kalkigen Schale ist nicht
das El im wissenschaftlichen Sinne. Das eigentliche El, welches fast allen
Tieren, auch dem Menschen zukommt, und welches uns im Vogelei, wenn auch
in schon fortgeschritteneren Entwicklungsstadium, in einer kleinen weißlichen Scheibe
des Dotters entgegentritt, ist — eine Zelle, ein kleines, oft mikroskopisches
Bläschen mit zähflüssigem Inhalte und eingelagerten! festerem Kerne; alles andre
sind Zuthaten, die auftreten oder wegfallen können, je nach den verschiednen
Umständen, unter denen sich die Eizelle entwickelt. Denn die Eizelle ist es,
welche durch tausend- und abertausendfache Teilung in weitere Zellen bei gleich¬
zeitigem Wachstum derselben und dnrch Verschiedenwerden dieser Zellen nach
den vielfachsten Richtungen hin große wie kleine Organismen entstehen läßt.

Die Umstände nun, unter welchen sich die Eizellen der verschiednen Tiere
entwickeln, sind verschieden genug. Die einen bringen ihre Eizellen in ihrer
ursprünglichen Gestalt, und dann meist in großer, oft ungeheurer Zahl, in die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/186>, abgerufen am 22.05.2024.