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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Freisinnige Sünden.

wegung Von 1848 in einen Sieg des Cäsarismus ausmündete, belehren können.
Insofern aber diese Worte außerdem eine Prophezeiung für die Zukunft be¬
deuten sollten, ist wohl selten eine solche schneller und glänzender Lügen gestraft
worden. Nur wenige Jahre weiter, und eben jene italienischen und deutschen
Einheitsbestrebungen, welche das ganze Jahrhundert hindurch immer wieder auf¬
getaucht und immer von neuem gescheitert waren, halten sich durchgesetzt, nicht
sowohl durch die Wucht der ihnen zugrunde liegenden Volksstimmung, als viel¬
mehr durch die Genialität zweier hochbedeutenden Individuen, Cavours und
Bismarcks, welche sich dieser Bewegung zu bemächtigen und dieselbe in richtiger
Weise zu lenken verstanden hatten. Und ein weiteres Moment, welches den
Sieg dieser Bestrebungen wenn nicht möglich gemacht, so doch jedenfalls er¬
leichtert hat, haben wir zu suchen in der ganz individuellen Charakterbeschaffen-
heit einer dritten, immerhin hervorragenden, wenn auch jenen beiden andern nicht
gleichzustellenden Persönlichkeit, Napoleon des Dritten, der im Gegensatz zu der
Stimmung seiner Nation das Nationalitätsprinzip innerhalb gewisser Grenzen
wirksam gefördert hat.

Jenem Ausspruche von Gewinns, welcher durch die unmittelbar folgenden
Ereignisse eine so beschämende Widerlegung gefunden hat, kommt aber insofern
eine gewisse höhere Bedeutung zu, als in ihm nach dem alten Satze, daß der
Wunsch der Vater des Gedankens sei, eine weitverbreitete Lieblingsmeinung
unsrer Zeit zu tage tritt. Die demokratische Stimmung unsers Jahrhunderts,
nicht zufrieden damit, mit dem blinden Autoritätsglauben früherer Zeiten gründ¬
lich gebrochen zu haben, ist allmählich dazu vorgeschritten, gegen jede über das
Mittelmaß hinausragende Kapazität eine Art von instinktiver Abneigung zu
empfinden. Es macht sich dieser Zug auf allen Gebieten ohne Ausnahme be¬
merkbar. Wer auf gewöhnliche Weise mit den gewöhnlichen Mitteln und der
gewöhnlichen Technik Mittelmäßiges leistet, wird beifällig begrüßt, wer es ver¬
sucht, auf selbstgebahntem Wege wandelnd ein Neues zu schaffen, wird verkannt
und bleibt unverstanden. Sieht man sich schließlich kraft der unwiderruflichen
Macht, welche dem Genius innewohnt, zu einer halb widerwilligen Anerkennung
gezwungen, so sucht man diese sofort nach Kräften abzuschwächen, indem man
das nicht abzuleugnende Gute soviel als möglich ans fremde Einflüsse, ans schon
Dagewesenes zurückführt, dagegen mit Vorliebe bei den etwa vorhandenen Män¬
geln verweilt und die unbestreitbaren Vorzüge mit einigen lobenden Prädikaten
kurz abfertigt. Die immer mehr überwuchernde Neigung zur Kritik, welche unser
Zeitalter charakterisirt, scheint ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber großen und
segensreichen Leistungen garnicht mehr aufkommen lassen zu wollen.

Einen bezeichnenden Ausdruck hat dieser immer mehr überhandnehmende Hang
zur Undankbarkeit neuerdings gefunden in einem Aufsatze des englischen Philo¬
sophen Herbert Spencer. Derselbe wendet sich gegen den von August Comte,
den Begründer des Positivismus, ausgehenden Vorschlag, künftig an die Stelle


Freisinnige Sünden.

wegung Von 1848 in einen Sieg des Cäsarismus ausmündete, belehren können.
Insofern aber diese Worte außerdem eine Prophezeiung für die Zukunft be¬
deuten sollten, ist wohl selten eine solche schneller und glänzender Lügen gestraft
worden. Nur wenige Jahre weiter, und eben jene italienischen und deutschen
Einheitsbestrebungen, welche das ganze Jahrhundert hindurch immer wieder auf¬
getaucht und immer von neuem gescheitert waren, halten sich durchgesetzt, nicht
sowohl durch die Wucht der ihnen zugrunde liegenden Volksstimmung, als viel¬
mehr durch die Genialität zweier hochbedeutenden Individuen, Cavours und
Bismarcks, welche sich dieser Bewegung zu bemächtigen und dieselbe in richtiger
Weise zu lenken verstanden hatten. Und ein weiteres Moment, welches den
Sieg dieser Bestrebungen wenn nicht möglich gemacht, so doch jedenfalls er¬
leichtert hat, haben wir zu suchen in der ganz individuellen Charakterbeschaffen-
heit einer dritten, immerhin hervorragenden, wenn auch jenen beiden andern nicht
gleichzustellenden Persönlichkeit, Napoleon des Dritten, der im Gegensatz zu der
Stimmung seiner Nation das Nationalitätsprinzip innerhalb gewisser Grenzen
wirksam gefördert hat.

Jenem Ausspruche von Gewinns, welcher durch die unmittelbar folgenden
Ereignisse eine so beschämende Widerlegung gefunden hat, kommt aber insofern
eine gewisse höhere Bedeutung zu, als in ihm nach dem alten Satze, daß der
Wunsch der Vater des Gedankens sei, eine weitverbreitete Lieblingsmeinung
unsrer Zeit zu tage tritt. Die demokratische Stimmung unsers Jahrhunderts,
nicht zufrieden damit, mit dem blinden Autoritätsglauben früherer Zeiten gründ¬
lich gebrochen zu haben, ist allmählich dazu vorgeschritten, gegen jede über das
Mittelmaß hinausragende Kapazität eine Art von instinktiver Abneigung zu
empfinden. Es macht sich dieser Zug auf allen Gebieten ohne Ausnahme be¬
merkbar. Wer auf gewöhnliche Weise mit den gewöhnlichen Mitteln und der
gewöhnlichen Technik Mittelmäßiges leistet, wird beifällig begrüßt, wer es ver¬
sucht, auf selbstgebahntem Wege wandelnd ein Neues zu schaffen, wird verkannt
und bleibt unverstanden. Sieht man sich schließlich kraft der unwiderruflichen
Macht, welche dem Genius innewohnt, zu einer halb widerwilligen Anerkennung
gezwungen, so sucht man diese sofort nach Kräften abzuschwächen, indem man
das nicht abzuleugnende Gute soviel als möglich ans fremde Einflüsse, ans schon
Dagewesenes zurückführt, dagegen mit Vorliebe bei den etwa vorhandenen Män¬
geln verweilt und die unbestreitbaren Vorzüge mit einigen lobenden Prädikaten
kurz abfertigt. Die immer mehr überwuchernde Neigung zur Kritik, welche unser
Zeitalter charakterisirt, scheint ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber großen und
segensreichen Leistungen garnicht mehr aufkommen lassen zu wollen.

Einen bezeichnenden Ausdruck hat dieser immer mehr überhandnehmende Hang
zur Undankbarkeit neuerdings gefunden in einem Aufsatze des englischen Philo¬
sophen Herbert Spencer. Derselbe wendet sich gegen den von August Comte,
den Begründer des Positivismus, ausgehenden Vorschlag, künftig an die Stelle


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[0222] Freisinnige Sünden. wegung Von 1848 in einen Sieg des Cäsarismus ausmündete, belehren können. Insofern aber diese Worte außerdem eine Prophezeiung für die Zukunft be¬ deuten sollten, ist wohl selten eine solche schneller und glänzender Lügen gestraft worden. Nur wenige Jahre weiter, und eben jene italienischen und deutschen Einheitsbestrebungen, welche das ganze Jahrhundert hindurch immer wieder auf¬ getaucht und immer von neuem gescheitert waren, halten sich durchgesetzt, nicht sowohl durch die Wucht der ihnen zugrunde liegenden Volksstimmung, als viel¬ mehr durch die Genialität zweier hochbedeutenden Individuen, Cavours und Bismarcks, welche sich dieser Bewegung zu bemächtigen und dieselbe in richtiger Weise zu lenken verstanden hatten. Und ein weiteres Moment, welches den Sieg dieser Bestrebungen wenn nicht möglich gemacht, so doch jedenfalls er¬ leichtert hat, haben wir zu suchen in der ganz individuellen Charakterbeschaffen- heit einer dritten, immerhin hervorragenden, wenn auch jenen beiden andern nicht gleichzustellenden Persönlichkeit, Napoleon des Dritten, der im Gegensatz zu der Stimmung seiner Nation das Nationalitätsprinzip innerhalb gewisser Grenzen wirksam gefördert hat. Jenem Ausspruche von Gewinns, welcher durch die unmittelbar folgenden Ereignisse eine so beschämende Widerlegung gefunden hat, kommt aber insofern eine gewisse höhere Bedeutung zu, als in ihm nach dem alten Satze, daß der Wunsch der Vater des Gedankens sei, eine weitverbreitete Lieblingsmeinung unsrer Zeit zu tage tritt. Die demokratische Stimmung unsers Jahrhunderts, nicht zufrieden damit, mit dem blinden Autoritätsglauben früherer Zeiten gründ¬ lich gebrochen zu haben, ist allmählich dazu vorgeschritten, gegen jede über das Mittelmaß hinausragende Kapazität eine Art von instinktiver Abneigung zu empfinden. Es macht sich dieser Zug auf allen Gebieten ohne Ausnahme be¬ merkbar. Wer auf gewöhnliche Weise mit den gewöhnlichen Mitteln und der gewöhnlichen Technik Mittelmäßiges leistet, wird beifällig begrüßt, wer es ver¬ sucht, auf selbstgebahntem Wege wandelnd ein Neues zu schaffen, wird verkannt und bleibt unverstanden. Sieht man sich schließlich kraft der unwiderruflichen Macht, welche dem Genius innewohnt, zu einer halb widerwilligen Anerkennung gezwungen, so sucht man diese sofort nach Kräften abzuschwächen, indem man das nicht abzuleugnende Gute soviel als möglich ans fremde Einflüsse, ans schon Dagewesenes zurückführt, dagegen mit Vorliebe bei den etwa vorhandenen Män¬ geln verweilt und die unbestreitbaren Vorzüge mit einigen lobenden Prädikaten kurz abfertigt. Die immer mehr überwuchernde Neigung zur Kritik, welche unser Zeitalter charakterisirt, scheint ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber großen und segensreichen Leistungen garnicht mehr aufkommen lassen zu wollen. Einen bezeichnenden Ausdruck hat dieser immer mehr überhandnehmende Hang zur Undankbarkeit neuerdings gefunden in einem Aufsatze des englischen Philo¬ sophen Herbert Spencer. Derselbe wendet sich gegen den von August Comte, den Begründer des Positivismus, ausgehenden Vorschlag, künftig an die Stelle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/222>, abgerufen am 21.05.2024.