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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Ans der französischen Revolution.

erworben. Seine Studien unterscheiden sich wesentlich von ähnlichen Studien
andrer. Nicht bloß, daß die äußern Ereignisse ganz aus dem Kreise seiner Be¬
trachtung geblieben sind, auch im Innern werden die Thatsachen nicht in der
bisher üblichen Darstellung geschildert. Was Taine darbietet, ist eine fort¬
laufende Reihe getreuester Augenblicksbilder, bei denen auch nicht eine einzige
Figur fehlt; selbst der entlegenste Winkel ist seiner Beobachtung nicht entgangen.
Es ist, wie wenn man das Panorama einer großen Stadt, etwa Konstantinopels
betrachtete; jedes Blatt ist ein abgeschlossenes Bild für sich; erst wenn man die
ganze Reihe aufrollt und das eine an das andre fügt, gewinnt man einen Über¬
blick über das Ganze und nimmt in Geist und Seele den ganzen unermeßlich
scheinenden Anblick ans. Das ist ein mühevolles Unternehmen, denn jedes ein¬
zelne Blatt des großen Panoramas hält uns gefangen. Bis in das kleinste Detail
und stets an der Hand der in den Archiven niedergelegten Urkunden, oft mit
deu eignen Worten der Berichte, rollt Taine die Zustände des revolutionären
Frankreichs auf, und es ist nicht zu vermeiden, daß diese gewissenhafte Ge¬
nauigkeit, die unter den gleichen Verhältnissen an den verschiednen Orten des
Landes sich wiederholenden Ereignisse, die dem französischen Stilisten angeborne
Häufung der Synonyma oft ermüden. Aber der Eindruck des Ganzen wird da¬
durch umso gigantischer; wie mit einem "diirÄeter indelebilis prägen sich die
Schilderungen ein, und unvergessen wird das Buch einem jeden bleiben, der sich
von seinem großen Umfange nicht zurückschrecken läßt.

Taine geht den Ursprüngen des heutigen Frankreichs bis auf die letzten
Quellen nach. In dem vom imoioir ressiino hnndeludeu ersten Bande werden
die Grundlagen gezeigt, auf denen sich das vorrevolutionäre Frankreich ciuf-
bcinte, und die französische Gesellschaft mit ihrem Geiste, ihrer Anmut und ihrem
Leichtsinn geschildert, der eine schwache Negierung und ein unter den Mißbräuchen
der Feudalität seufzendes Volk gegenüberstand. Aus der Schilderung ist gleich¬
zeitig zu entnehmen, wie leicht es war, bei der Opferfreudigkeit der privilegirten
Klaffen die bessernde Hand anzulegen, wie alle Elemente gegeben waren, die
berechtigten Forderungen aus dem Reiche der Wünsche in das Gebiet der Wirk¬
lichkeit hin überzuführen. Allein die praktischen Männer waren zu schwach und
zu scheu vor Gewaltmaßregeln, der Doktrinarismus behielt die Oberhand, und
die von Rousseau formulirten Dogmen des "zorckrat soviel von der Souveränetcit
des Volkes und den Menschenrechten erhielten von Fanatikern und Thoren eine
Ausführung, daß die Ergebnisse der ersten konstituirenden Versammlung eine
vollständige Anarchie alles Bestehenden waren. Die Schilderung hiervon bildet
den ersten Band des von der französischen Revolution handelnden zweiten Teiles.
Die Anarchie führte zu der Herrschaft des Jakobinismus, jener teils geistesarmen,
teils blutigen Sekte Nvussecius, die, wie alle Fanatiker intolerant und vor keiner
Gewaltthätigkeit zurückschreckend, unter dem Dogma der Gleichheit, Freiheit und
Brüderlichkeit dem Einzelnen wie dem Ganzen ihre Lehrsätze aufzwang. Wie


Ans der französischen Revolution.

erworben. Seine Studien unterscheiden sich wesentlich von ähnlichen Studien
andrer. Nicht bloß, daß die äußern Ereignisse ganz aus dem Kreise seiner Be¬
trachtung geblieben sind, auch im Innern werden die Thatsachen nicht in der
bisher üblichen Darstellung geschildert. Was Taine darbietet, ist eine fort¬
laufende Reihe getreuester Augenblicksbilder, bei denen auch nicht eine einzige
Figur fehlt; selbst der entlegenste Winkel ist seiner Beobachtung nicht entgangen.
Es ist, wie wenn man das Panorama einer großen Stadt, etwa Konstantinopels
betrachtete; jedes Blatt ist ein abgeschlossenes Bild für sich; erst wenn man die
ganze Reihe aufrollt und das eine an das andre fügt, gewinnt man einen Über¬
blick über das Ganze und nimmt in Geist und Seele den ganzen unermeßlich
scheinenden Anblick ans. Das ist ein mühevolles Unternehmen, denn jedes ein¬
zelne Blatt des großen Panoramas hält uns gefangen. Bis in das kleinste Detail
und stets an der Hand der in den Archiven niedergelegten Urkunden, oft mit
deu eignen Worten der Berichte, rollt Taine die Zustände des revolutionären
Frankreichs auf, und es ist nicht zu vermeiden, daß diese gewissenhafte Ge¬
nauigkeit, die unter den gleichen Verhältnissen an den verschiednen Orten des
Landes sich wiederholenden Ereignisse, die dem französischen Stilisten angeborne
Häufung der Synonyma oft ermüden. Aber der Eindruck des Ganzen wird da¬
durch umso gigantischer; wie mit einem «diirÄeter indelebilis prägen sich die
Schilderungen ein, und unvergessen wird das Buch einem jeden bleiben, der sich
von seinem großen Umfange nicht zurückschrecken läßt.

Taine geht den Ursprüngen des heutigen Frankreichs bis auf die letzten
Quellen nach. In dem vom imoioir ressiino hnndeludeu ersten Bande werden
die Grundlagen gezeigt, auf denen sich das vorrevolutionäre Frankreich ciuf-
bcinte, und die französische Gesellschaft mit ihrem Geiste, ihrer Anmut und ihrem
Leichtsinn geschildert, der eine schwache Negierung und ein unter den Mißbräuchen
der Feudalität seufzendes Volk gegenüberstand. Aus der Schilderung ist gleich¬
zeitig zu entnehmen, wie leicht es war, bei der Opferfreudigkeit der privilegirten
Klaffen die bessernde Hand anzulegen, wie alle Elemente gegeben waren, die
berechtigten Forderungen aus dem Reiche der Wünsche in das Gebiet der Wirk¬
lichkeit hin überzuführen. Allein die praktischen Männer waren zu schwach und
zu scheu vor Gewaltmaßregeln, der Doktrinarismus behielt die Oberhand, und
die von Rousseau formulirten Dogmen des «zorckrat soviel von der Souveränetcit
des Volkes und den Menschenrechten erhielten von Fanatikern und Thoren eine
Ausführung, daß die Ergebnisse der ersten konstituirenden Versammlung eine
vollständige Anarchie alles Bestehenden waren. Die Schilderung hiervon bildet
den ersten Band des von der französischen Revolution handelnden zweiten Teiles.
Die Anarchie führte zu der Herrschaft des Jakobinismus, jener teils geistesarmen,
teils blutigen Sekte Nvussecius, die, wie alle Fanatiker intolerant und vor keiner
Gewaltthätigkeit zurückschreckend, unter dem Dogma der Gleichheit, Freiheit und
Brüderlichkeit dem Einzelnen wie dem Ganzen ihre Lehrsätze aufzwang. Wie


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[0024] Ans der französischen Revolution. erworben. Seine Studien unterscheiden sich wesentlich von ähnlichen Studien andrer. Nicht bloß, daß die äußern Ereignisse ganz aus dem Kreise seiner Be¬ trachtung geblieben sind, auch im Innern werden die Thatsachen nicht in der bisher üblichen Darstellung geschildert. Was Taine darbietet, ist eine fort¬ laufende Reihe getreuester Augenblicksbilder, bei denen auch nicht eine einzige Figur fehlt; selbst der entlegenste Winkel ist seiner Beobachtung nicht entgangen. Es ist, wie wenn man das Panorama einer großen Stadt, etwa Konstantinopels betrachtete; jedes Blatt ist ein abgeschlossenes Bild für sich; erst wenn man die ganze Reihe aufrollt und das eine an das andre fügt, gewinnt man einen Über¬ blick über das Ganze und nimmt in Geist und Seele den ganzen unermeßlich scheinenden Anblick ans. Das ist ein mühevolles Unternehmen, denn jedes ein¬ zelne Blatt des großen Panoramas hält uns gefangen. Bis in das kleinste Detail und stets an der Hand der in den Archiven niedergelegten Urkunden, oft mit deu eignen Worten der Berichte, rollt Taine die Zustände des revolutionären Frankreichs auf, und es ist nicht zu vermeiden, daß diese gewissenhafte Ge¬ nauigkeit, die unter den gleichen Verhältnissen an den verschiednen Orten des Landes sich wiederholenden Ereignisse, die dem französischen Stilisten angeborne Häufung der Synonyma oft ermüden. Aber der Eindruck des Ganzen wird da¬ durch umso gigantischer; wie mit einem «diirÄeter indelebilis prägen sich die Schilderungen ein, und unvergessen wird das Buch einem jeden bleiben, der sich von seinem großen Umfange nicht zurückschrecken läßt. Taine geht den Ursprüngen des heutigen Frankreichs bis auf die letzten Quellen nach. In dem vom imoioir ressiino hnndeludeu ersten Bande werden die Grundlagen gezeigt, auf denen sich das vorrevolutionäre Frankreich ciuf- bcinte, und die französische Gesellschaft mit ihrem Geiste, ihrer Anmut und ihrem Leichtsinn geschildert, der eine schwache Negierung und ein unter den Mißbräuchen der Feudalität seufzendes Volk gegenüberstand. Aus der Schilderung ist gleich¬ zeitig zu entnehmen, wie leicht es war, bei der Opferfreudigkeit der privilegirten Klaffen die bessernde Hand anzulegen, wie alle Elemente gegeben waren, die berechtigten Forderungen aus dem Reiche der Wünsche in das Gebiet der Wirk¬ lichkeit hin überzuführen. Allein die praktischen Männer waren zu schwach und zu scheu vor Gewaltmaßregeln, der Doktrinarismus behielt die Oberhand, und die von Rousseau formulirten Dogmen des «zorckrat soviel von der Souveränetcit des Volkes und den Menschenrechten erhielten von Fanatikern und Thoren eine Ausführung, daß die Ergebnisse der ersten konstituirenden Versammlung eine vollständige Anarchie alles Bestehenden waren. Die Schilderung hiervon bildet den ersten Band des von der französischen Revolution handelnden zweiten Teiles. Die Anarchie führte zu der Herrschaft des Jakobinismus, jener teils geistesarmen, teils blutigen Sekte Nvussecius, die, wie alle Fanatiker intolerant und vor keiner Gewaltthätigkeit zurückschreckend, unter dem Dogma der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit dem Einzelnen wie dem Ganzen ihre Lehrsätze aufzwang. Wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/24>, abgerufen am 21.05.2024.