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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Neue Erzählungen von Wilhelm Raabe.

Bischer führt an demselben Orte weiter die Gründe aus, warum Jean
Paul weder in seiner Theorie noch in seiner Praxis diese dritte Art des Hu¬
mors, diesen rechten Weg der Mitte gefunden hat. Er erklärt dies aus Gründen,
welche weniger in der Persönlichkeit des Dichters, als vielmehr in den Zeit¬
umständen lagen, unter denen er schuf. "Gewiß, sagt er,-ist Jean Paul dadurch
ein Bild und Typus seiner Nation, wie sie war, als sie zwischen der idealen Höhe
der weltbürgerlichen Weite ihres Geistes, ihrer innern Bildung und der Kläg¬
lichkeit ihrer äußern Zustände in tiefem Widerspruche lag, noch ohne Streben
und ohne Aussicht, sie davon zu befreien. Der Deutsche war damals wirklich
der gute, liebenswürdige, träumerische, schlechthin unpraktische Junge, und wie
der Dichter den gefühlsseligen Burschen (Gottwalt) lächelnd auf seinen dunkeln
Wegen begleitet, ohne selbst ein Ende des Weges zu finden, so blieb der Nation
in ihrem jünglinghaften Zustande nichts übrig, als die Ironie über seine halb¬
verkannte Unreife."

Auch diese Begründung des Verfehlens jener rechten Mitte des Humors,
jener Ausdehnung des Engbereuzten der gemütlichen Idylle auf das Ganze des
Lebens, paßt sehr wohl auf Wilhelm Raabe, der, diesmal wenigstens, diese
überaus glückliche Mitte gefunden hat. Denn der Deutsche ist nicht mehr träu¬
merisch, nicht mehr schlechthin unpraktisch, nicht mehr gefühlsselig, jünglinghaft
unreif: wenigstens sieht ihn der Humorist nicht mehr als solchen an. "Das
Ideale im Praktischen" -- "das Schöne, das Großartige im Verein mit dem
Nützlichen" -- so läßt Raabe in "Pfisters Mühle" (S. 193) die Tendenzen
seines Helden, des Doktors A. A. Asche, aussprechen, und so sieht er sein Volk
an, welches deu ihm ureigner Idealismus uun auch ins Gebiet der thatkräf¬
tigen Arbeit überträgt. Und weil diese am Ausgange des achtzehnten Jahr¬
hunderts in allem Praktischen, Realen so kläglich dastehende Nation nunmehr
zur wirklichen Versöhnung von Ideal und Wirklichkeit fortschreitet, weil sich
auch in der That so manche Träume unsrer Borfahren verwirklicht habe" und
weil der Humorist seinerseits mit tiefem Gemüte und tiefer Einsicht an dem
Fortschritte dieser einst so hamletartigen Deutschen teilnimmt, enthusiastisch teil¬
nimmt und sich in Einklang mit der Gegenwart stellt, darum ist ihm jener dritte
Weg zum Glück gelungen, und er füllt die Lücke aus, welche Jean Paul in der
humoristischen Weltanschauung gelassen hat.

Freilich spricht ein Humorist diesen seinen Enthusiasmus, diese seine Zu-
und Übereinstimmung mit der Gegenwart nicht unmittelbar, nicht direkt aus,
sondern verbirgt sie vielmehr oft in gar drolligen Formen. Er ist uns aber
dadurch nur umso lieber. Wie leicht wird der feine Unterschied zwischen liebe¬
voller Teilnahme und leerem Chauvinismus übersehen; ein Fehler, in den
mancher unsrer Erzähler geraten, der seine Aufgabe nicht künstlerisch genug zu
fassen vermocht hat. Bei Raabe atmet jene Grundstimmung aus der ganzen
Erfindung der Handlungen und Charaktere wohlthuend, beglückend dem Leser


Neue Erzählungen von Wilhelm Raabe.

Bischer führt an demselben Orte weiter die Gründe aus, warum Jean
Paul weder in seiner Theorie noch in seiner Praxis diese dritte Art des Hu¬
mors, diesen rechten Weg der Mitte gefunden hat. Er erklärt dies aus Gründen,
welche weniger in der Persönlichkeit des Dichters, als vielmehr in den Zeit¬
umständen lagen, unter denen er schuf. „Gewiß, sagt er,-ist Jean Paul dadurch
ein Bild und Typus seiner Nation, wie sie war, als sie zwischen der idealen Höhe
der weltbürgerlichen Weite ihres Geistes, ihrer innern Bildung und der Kläg¬
lichkeit ihrer äußern Zustände in tiefem Widerspruche lag, noch ohne Streben
und ohne Aussicht, sie davon zu befreien. Der Deutsche war damals wirklich
der gute, liebenswürdige, träumerische, schlechthin unpraktische Junge, und wie
der Dichter den gefühlsseligen Burschen (Gottwalt) lächelnd auf seinen dunkeln
Wegen begleitet, ohne selbst ein Ende des Weges zu finden, so blieb der Nation
in ihrem jünglinghaften Zustande nichts übrig, als die Ironie über seine halb¬
verkannte Unreife."

Auch diese Begründung des Verfehlens jener rechten Mitte des Humors,
jener Ausdehnung des Engbereuzten der gemütlichen Idylle auf das Ganze des
Lebens, paßt sehr wohl auf Wilhelm Raabe, der, diesmal wenigstens, diese
überaus glückliche Mitte gefunden hat. Denn der Deutsche ist nicht mehr träu¬
merisch, nicht mehr schlechthin unpraktisch, nicht mehr gefühlsselig, jünglinghaft
unreif: wenigstens sieht ihn der Humorist nicht mehr als solchen an. „Das
Ideale im Praktischen" — „das Schöne, das Großartige im Verein mit dem
Nützlichen" — so läßt Raabe in „Pfisters Mühle" (S. 193) die Tendenzen
seines Helden, des Doktors A. A. Asche, aussprechen, und so sieht er sein Volk
an, welches deu ihm ureigner Idealismus uun auch ins Gebiet der thatkräf¬
tigen Arbeit überträgt. Und weil diese am Ausgange des achtzehnten Jahr¬
hunderts in allem Praktischen, Realen so kläglich dastehende Nation nunmehr
zur wirklichen Versöhnung von Ideal und Wirklichkeit fortschreitet, weil sich
auch in der That so manche Träume unsrer Borfahren verwirklicht habe» und
weil der Humorist seinerseits mit tiefem Gemüte und tiefer Einsicht an dem
Fortschritte dieser einst so hamletartigen Deutschen teilnimmt, enthusiastisch teil¬
nimmt und sich in Einklang mit der Gegenwart stellt, darum ist ihm jener dritte
Weg zum Glück gelungen, und er füllt die Lücke aus, welche Jean Paul in der
humoristischen Weltanschauung gelassen hat.

Freilich spricht ein Humorist diesen seinen Enthusiasmus, diese seine Zu-
und Übereinstimmung mit der Gegenwart nicht unmittelbar, nicht direkt aus,
sondern verbirgt sie vielmehr oft in gar drolligen Formen. Er ist uns aber
dadurch nur umso lieber. Wie leicht wird der feine Unterschied zwischen liebe¬
voller Teilnahme und leerem Chauvinismus übersehen; ein Fehler, in den
mancher unsrer Erzähler geraten, der seine Aufgabe nicht künstlerisch genug zu
fassen vermocht hat. Bei Raabe atmet jene Grundstimmung aus der ganzen
Erfindung der Handlungen und Charaktere wohlthuend, beglückend dem Leser


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[0244] Neue Erzählungen von Wilhelm Raabe. Bischer führt an demselben Orte weiter die Gründe aus, warum Jean Paul weder in seiner Theorie noch in seiner Praxis diese dritte Art des Hu¬ mors, diesen rechten Weg der Mitte gefunden hat. Er erklärt dies aus Gründen, welche weniger in der Persönlichkeit des Dichters, als vielmehr in den Zeit¬ umständen lagen, unter denen er schuf. „Gewiß, sagt er,-ist Jean Paul dadurch ein Bild und Typus seiner Nation, wie sie war, als sie zwischen der idealen Höhe der weltbürgerlichen Weite ihres Geistes, ihrer innern Bildung und der Kläg¬ lichkeit ihrer äußern Zustände in tiefem Widerspruche lag, noch ohne Streben und ohne Aussicht, sie davon zu befreien. Der Deutsche war damals wirklich der gute, liebenswürdige, träumerische, schlechthin unpraktische Junge, und wie der Dichter den gefühlsseligen Burschen (Gottwalt) lächelnd auf seinen dunkeln Wegen begleitet, ohne selbst ein Ende des Weges zu finden, so blieb der Nation in ihrem jünglinghaften Zustande nichts übrig, als die Ironie über seine halb¬ verkannte Unreife." Auch diese Begründung des Verfehlens jener rechten Mitte des Humors, jener Ausdehnung des Engbereuzten der gemütlichen Idylle auf das Ganze des Lebens, paßt sehr wohl auf Wilhelm Raabe, der, diesmal wenigstens, diese überaus glückliche Mitte gefunden hat. Denn der Deutsche ist nicht mehr träu¬ merisch, nicht mehr schlechthin unpraktisch, nicht mehr gefühlsselig, jünglinghaft unreif: wenigstens sieht ihn der Humorist nicht mehr als solchen an. „Das Ideale im Praktischen" — „das Schöne, das Großartige im Verein mit dem Nützlichen" — so läßt Raabe in „Pfisters Mühle" (S. 193) die Tendenzen seines Helden, des Doktors A. A. Asche, aussprechen, und so sieht er sein Volk an, welches deu ihm ureigner Idealismus uun auch ins Gebiet der thatkräf¬ tigen Arbeit überträgt. Und weil diese am Ausgange des achtzehnten Jahr¬ hunderts in allem Praktischen, Realen so kläglich dastehende Nation nunmehr zur wirklichen Versöhnung von Ideal und Wirklichkeit fortschreitet, weil sich auch in der That so manche Träume unsrer Borfahren verwirklicht habe» und weil der Humorist seinerseits mit tiefem Gemüte und tiefer Einsicht an dem Fortschritte dieser einst so hamletartigen Deutschen teilnimmt, enthusiastisch teil¬ nimmt und sich in Einklang mit der Gegenwart stellt, darum ist ihm jener dritte Weg zum Glück gelungen, und er füllt die Lücke aus, welche Jean Paul in der humoristischen Weltanschauung gelassen hat. Freilich spricht ein Humorist diesen seinen Enthusiasmus, diese seine Zu- und Übereinstimmung mit der Gegenwart nicht unmittelbar, nicht direkt aus, sondern verbirgt sie vielmehr oft in gar drolligen Formen. Er ist uns aber dadurch nur umso lieber. Wie leicht wird der feine Unterschied zwischen liebe¬ voller Teilnahme und leerem Chauvinismus übersehen; ein Fehler, in den mancher unsrer Erzähler geraten, der seine Aufgabe nicht künstlerisch genug zu fassen vermocht hat. Bei Raabe atmet jene Grundstimmung aus der ganzen Erfindung der Handlungen und Charaktere wohlthuend, beglückend dem Leser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/244>, abgerufen am 15.05.2024.