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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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lung? "Versetze dir ganz ins erste Buch Moses, Leucten!" schreibt er boshaft seiner
liebenswürdigen Frau Gemahlin. "Versetze dir ganz in Sarah ihre Gefühle.
Dein Gatte ist Vater geworden -- doch noch -- endlich noch! Zwillinge sogar!"
Aber was soll er, der Geschäftsmann, mit den zwei verliebten jungen Leuten
anfangen? Da muß die Julie helfen, sie muß augenblicklich zu ihm in die
Provinz eilen (es ist etwa die Gegend von Wolfenbüttel gemeint), und die
Kinder übernehmen. Julie kommt, wann fehlte sie in solchen Dingen? Aber
die Vernünftige sagt ihm doch: "Sie sind und bleiben ein verrückter Mensch,
lieber Freund. Macht Ihnen denn der Unsinn wirklich immer noch so vielen
Spaß, Schönow?" Und mit vollster, herzlichster Gewißheit antwortet er:
"Ja! Entweder unter die Treppe jeblieben und im Verborgenen jeblüht und
verduftet -- oder alles jroßartig, alles mit volle Musik." -- Wie sich nun die
Sache weiter entwickelt, wie Frau Leucten in ihrer Eifersucht der alten Jungfer
und Freundin ihres Gatten nachreist, die sie im Verdachte hat, daß es ihre
eignen, nunmehr hervorgeholter Kinder von Schönow wären, wenn sie auch
nicht begreifen kaun, wie es möglich wäre; wie dann Julie, "daß ich liebens¬
würdig sein kaun, wissen Sie, Schönow, und ich war es jetzt ungemein," die
Alte herumkriegt und deu Hausfrieden herstellt; wie Schönow mit seinem Schütz¬
ling nach Berlin fährt und je näher er der Hauptstadt kommt, umso bescheidner
auftritt -- das möge man selbst nachlesen.

Die Analysen der beiden Erzählungen "Pfisters Mühle" und "Villa
Schönow" sollten unsre eingangs gegebene Charakteristik des weltfreudigen Hu¬
mors Wilhelm Naabes illustriren. Beide Bücher geben ein in hellsten Farben
gefaßtes Bild der aufstrebenden Gegenwart, und gewiß ist es auch einer der be¬
deutendsten Züge der beiden Handlungen, wenn der Dichter mit dem halb ver¬
rückten, rhetorisch hohlen, pessimistischen Literaten Felix Lippoldes (Pfisters
Mühle) und mit der irvnisirten Hegelei im zweiten Werke die traurigen Kenn¬
zeichen der Vergangenheit, die starken Schlagschatten zu dem Bilde der Gegen¬
wart einsetzt. Wenn es nur mehr Dichter bei uns in Deutschland gäbe, die
gleich Wilhelm Raabe mit dem tiefsten Aufgehen in der Gegenwart allen Welt¬
schmerz, allen Pessimismus überwinden möchten, den Humor der Idylle erweitern
auf das Ganze des Lebens! Wir wollten sie mit Freuden begrüßen.




lung? „Versetze dir ganz ins erste Buch Moses, Leucten!" schreibt er boshaft seiner
liebenswürdigen Frau Gemahlin. „Versetze dir ganz in Sarah ihre Gefühle.
Dein Gatte ist Vater geworden — doch noch — endlich noch! Zwillinge sogar!"
Aber was soll er, der Geschäftsmann, mit den zwei verliebten jungen Leuten
anfangen? Da muß die Julie helfen, sie muß augenblicklich zu ihm in die
Provinz eilen (es ist etwa die Gegend von Wolfenbüttel gemeint), und die
Kinder übernehmen. Julie kommt, wann fehlte sie in solchen Dingen? Aber
die Vernünftige sagt ihm doch: „Sie sind und bleiben ein verrückter Mensch,
lieber Freund. Macht Ihnen denn der Unsinn wirklich immer noch so vielen
Spaß, Schönow?" Und mit vollster, herzlichster Gewißheit antwortet er:
„Ja! Entweder unter die Treppe jeblieben und im Verborgenen jeblüht und
verduftet — oder alles jroßartig, alles mit volle Musik." — Wie sich nun die
Sache weiter entwickelt, wie Frau Leucten in ihrer Eifersucht der alten Jungfer
und Freundin ihres Gatten nachreist, die sie im Verdachte hat, daß es ihre
eignen, nunmehr hervorgeholter Kinder von Schönow wären, wenn sie auch
nicht begreifen kaun, wie es möglich wäre; wie dann Julie, „daß ich liebens¬
würdig sein kaun, wissen Sie, Schönow, und ich war es jetzt ungemein," die
Alte herumkriegt und deu Hausfrieden herstellt; wie Schönow mit seinem Schütz¬
ling nach Berlin fährt und je näher er der Hauptstadt kommt, umso bescheidner
auftritt — das möge man selbst nachlesen.

Die Analysen der beiden Erzählungen „Pfisters Mühle" und „Villa
Schönow" sollten unsre eingangs gegebene Charakteristik des weltfreudigen Hu¬
mors Wilhelm Naabes illustriren. Beide Bücher geben ein in hellsten Farben
gefaßtes Bild der aufstrebenden Gegenwart, und gewiß ist es auch einer der be¬
deutendsten Züge der beiden Handlungen, wenn der Dichter mit dem halb ver¬
rückten, rhetorisch hohlen, pessimistischen Literaten Felix Lippoldes (Pfisters
Mühle) und mit der irvnisirten Hegelei im zweiten Werke die traurigen Kenn¬
zeichen der Vergangenheit, die starken Schlagschatten zu dem Bilde der Gegen¬
wart einsetzt. Wenn es nur mehr Dichter bei uns in Deutschland gäbe, die
gleich Wilhelm Raabe mit dem tiefsten Aufgehen in der Gegenwart allen Welt¬
schmerz, allen Pessimismus überwinden möchten, den Humor der Idylle erweitern
auf das Ganze des Lebens! Wir wollten sie mit Freuden begrüßen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/251>, abgerufen am 21.05.2024.