Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
England und Rußland in Asten.

land gleichfalls eine Großmacht geworden ist, geht das, was sich dort vor¬
bereitet, in Wirklichkeit auch uns wesentlich an, es wird indirekt dort auch für
und gegen unsre Interessen gewirkt und gekämpft werden, sodaß wir uns davon
nicht als teilnahmlose und ununterrichtete Zuschauer betreffen lassen dürfen.
Wer uns bei der gegenwärtigen Haltung des englischen Kabinets von den beiden
Parteien mehr Sympathie einflößen sollte, kann nicht wohl zweifelhaft sein.

In Europa scheint die russische Politik seit dem letzten Kriege mit der
Pforte zu ruhen, doch übt sie in Bulgarien bedeutenden Einfluß, und daß sie
auf den Besitz Konstantinopels verzichtet habe, ist nicht zu glauben. England
hat seine dort erhobenen Ansprüche in den letzten Jahren, seit Beaeonsfields Rück¬
tritt, nicht so wie früher betont, es schien sich damit begnügen zu wollen, seine
Interessen auf den wcstasiatischcn Meeren und an deren Küsten von Ägypten
aus zu wahren, wo ihm beiläufig Frankreich gegenübersteht, und wo es sich
bis jetzt nicht rühmen konnte, befriedigende und für die Zukunft sichere Ge¬
schäfte gemacht zu haben. Sehr ins Gewicht fallende Erfolge hatte dagegen
Rußland am Schwarzen Meere und zwar auf dessen europäischem wie auf dessen
asiatischem Ufer aufzuweisen. Odessa ist in den letzten Jahrzehnten allmählich
zu einer der wichtigsten Seehandelsstädte geworden. Vor hundert Jahren stand
hier der kleine türkische Ort Hadschi Bey mit kaum zweitausend Seelen, ärmlich,
schmutzig und ohne Bedeutung für Schifffahrt und Handel. Heute nimmt dessen
Stelle eine prächtige Großstadt mit breiten Quais, mächtigen Speichern, statt¬
lichen Läden und stolzen Palästen ein, und die Zahl der Einwohner hat sich
verhundertfacht. Bis vor der Vollendung des Suezkanals verkehrte Odessa mit
Indien und China fast nur über Hamburg, seitdem aber größtenteils direkt,
und Rußland kann von hier und von andern seiner südlichen Häfen aus zu Wasser
bis zu den Besitzungen am Amur gelangen. Auch Sebastvpol ist aus der Zer¬
störung, die ihm der Krimkrieg brachte, wieder erstände"; die Trümmerhaufen
von 1865 sind schon seit geraumer Zeit verschwunden und haben neuen Straßen
und Plätzen Raum gemacht, und mit Aufwendung sehr beträchtlicher Summen
sind die Anlagen für die Marine verbessert worden. Mit Staatsunterstützung
ist eine Dampfschifffahrtsgesellschaft großen Stils bemüht, den Franzosen, Eng¬
ländern und Österreichern auf dem Schwarzen und dem Mittelländischen Meere
bis nach Ägypten hin Konkurrenz zu machen, und die Fahrzeuge derselben werden
so eingerichtet, daß sie im Notfall auch zu Kriegszwecken, d. h. als Kreuzer
zweiten Ranges und als Transportschiffe dienen können. Was die asia¬
tischen Ufer des Pontus betrifft, so haben sich hier an der Ostküste verschiedene
Handelsplätze entwickelt, welche einem unmittelbaren Verkehre Rußlands mit
dem Binnenlande dienen, der infolge dessen bereits sehr lebhaft geworden ist.
Die tscherkessische Bevölkerung dieses Teiles der Kaukasusgegenden, die unter
Schamils Führung und mit englischer und türkischer Unterstützung viele Jahre
mit Erfolg gegen die Soldaten des Zaren kämpfte, wurde endlich überwunden


England und Rußland in Asten.

land gleichfalls eine Großmacht geworden ist, geht das, was sich dort vor¬
bereitet, in Wirklichkeit auch uns wesentlich an, es wird indirekt dort auch für
und gegen unsre Interessen gewirkt und gekämpft werden, sodaß wir uns davon
nicht als teilnahmlose und ununterrichtete Zuschauer betreffen lassen dürfen.
Wer uns bei der gegenwärtigen Haltung des englischen Kabinets von den beiden
Parteien mehr Sympathie einflößen sollte, kann nicht wohl zweifelhaft sein.

In Europa scheint die russische Politik seit dem letzten Kriege mit der
Pforte zu ruhen, doch übt sie in Bulgarien bedeutenden Einfluß, und daß sie
auf den Besitz Konstantinopels verzichtet habe, ist nicht zu glauben. England
hat seine dort erhobenen Ansprüche in den letzten Jahren, seit Beaeonsfields Rück¬
tritt, nicht so wie früher betont, es schien sich damit begnügen zu wollen, seine
Interessen auf den wcstasiatischcn Meeren und an deren Küsten von Ägypten
aus zu wahren, wo ihm beiläufig Frankreich gegenübersteht, und wo es sich
bis jetzt nicht rühmen konnte, befriedigende und für die Zukunft sichere Ge¬
schäfte gemacht zu haben. Sehr ins Gewicht fallende Erfolge hatte dagegen
Rußland am Schwarzen Meere und zwar auf dessen europäischem wie auf dessen
asiatischem Ufer aufzuweisen. Odessa ist in den letzten Jahrzehnten allmählich
zu einer der wichtigsten Seehandelsstädte geworden. Vor hundert Jahren stand
hier der kleine türkische Ort Hadschi Bey mit kaum zweitausend Seelen, ärmlich,
schmutzig und ohne Bedeutung für Schifffahrt und Handel. Heute nimmt dessen
Stelle eine prächtige Großstadt mit breiten Quais, mächtigen Speichern, statt¬
lichen Läden und stolzen Palästen ein, und die Zahl der Einwohner hat sich
verhundertfacht. Bis vor der Vollendung des Suezkanals verkehrte Odessa mit
Indien und China fast nur über Hamburg, seitdem aber größtenteils direkt,
und Rußland kann von hier und von andern seiner südlichen Häfen aus zu Wasser
bis zu den Besitzungen am Amur gelangen. Auch Sebastvpol ist aus der Zer¬
störung, die ihm der Krimkrieg brachte, wieder erstände»; die Trümmerhaufen
von 1865 sind schon seit geraumer Zeit verschwunden und haben neuen Straßen
und Plätzen Raum gemacht, und mit Aufwendung sehr beträchtlicher Summen
sind die Anlagen für die Marine verbessert worden. Mit Staatsunterstützung
ist eine Dampfschifffahrtsgesellschaft großen Stils bemüht, den Franzosen, Eng¬
ländern und Österreichern auf dem Schwarzen und dem Mittelländischen Meere
bis nach Ägypten hin Konkurrenz zu machen, und die Fahrzeuge derselben werden
so eingerichtet, daß sie im Notfall auch zu Kriegszwecken, d. h. als Kreuzer
zweiten Ranges und als Transportschiffe dienen können. Was die asia¬
tischen Ufer des Pontus betrifft, so haben sich hier an der Ostküste verschiedene
Handelsplätze entwickelt, welche einem unmittelbaren Verkehre Rußlands mit
dem Binnenlande dienen, der infolge dessen bereits sehr lebhaft geworden ist.
Die tscherkessische Bevölkerung dieses Teiles der Kaukasusgegenden, die unter
Schamils Führung und mit englischer und türkischer Unterstützung viele Jahre
mit Erfolg gegen die Soldaten des Zaren kämpfte, wurde endlich überwunden


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0280" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194956"/>
          <fw type="header" place="top"> England und Rußland in Asten.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1010" prev="#ID_1009"> land gleichfalls eine Großmacht geworden ist, geht das, was sich dort vor¬<lb/>
bereitet, in Wirklichkeit auch uns wesentlich an, es wird indirekt dort auch für<lb/>
und gegen unsre Interessen gewirkt und gekämpft werden, sodaß wir uns davon<lb/>
nicht als teilnahmlose und ununterrichtete Zuschauer betreffen lassen dürfen.<lb/>
Wer uns bei der gegenwärtigen Haltung des englischen Kabinets von den beiden<lb/>
Parteien mehr Sympathie einflößen sollte, kann nicht wohl zweifelhaft sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1011" next="#ID_1012"> In Europa scheint die russische Politik seit dem letzten Kriege mit der<lb/>
Pforte zu ruhen, doch übt sie in Bulgarien bedeutenden Einfluß, und daß sie<lb/>
auf den Besitz Konstantinopels verzichtet habe, ist nicht zu glauben. England<lb/>
hat seine dort erhobenen Ansprüche in den letzten Jahren, seit Beaeonsfields Rück¬<lb/>
tritt, nicht so wie früher betont, es schien sich damit begnügen zu wollen, seine<lb/>
Interessen auf den wcstasiatischcn Meeren und an deren Küsten von Ägypten<lb/>
aus zu wahren, wo ihm beiläufig Frankreich gegenübersteht, und wo es sich<lb/>
bis jetzt nicht rühmen konnte, befriedigende und für die Zukunft sichere Ge¬<lb/>
schäfte gemacht zu haben. Sehr ins Gewicht fallende Erfolge hatte dagegen<lb/>
Rußland am Schwarzen Meere und zwar auf dessen europäischem wie auf dessen<lb/>
asiatischem Ufer aufzuweisen. Odessa ist in den letzten Jahrzehnten allmählich<lb/>
zu einer der wichtigsten Seehandelsstädte geworden. Vor hundert Jahren stand<lb/>
hier der kleine türkische Ort Hadschi Bey mit kaum zweitausend Seelen, ärmlich,<lb/>
schmutzig und ohne Bedeutung für Schifffahrt und Handel. Heute nimmt dessen<lb/>
Stelle eine prächtige Großstadt mit breiten Quais, mächtigen Speichern, statt¬<lb/>
lichen Läden und stolzen Palästen ein, und die Zahl der Einwohner hat sich<lb/>
verhundertfacht. Bis vor der Vollendung des Suezkanals verkehrte Odessa mit<lb/>
Indien und China fast nur über Hamburg, seitdem aber größtenteils direkt,<lb/>
und Rußland kann von hier und von andern seiner südlichen Häfen aus zu Wasser<lb/>
bis zu den Besitzungen am Amur gelangen. Auch Sebastvpol ist aus der Zer¬<lb/>
störung, die ihm der Krimkrieg brachte, wieder erstände»; die Trümmerhaufen<lb/>
von 1865 sind schon seit geraumer Zeit verschwunden und haben neuen Straßen<lb/>
und Plätzen Raum gemacht, und mit Aufwendung sehr beträchtlicher Summen<lb/>
sind die Anlagen für die Marine verbessert worden. Mit Staatsunterstützung<lb/>
ist eine Dampfschifffahrtsgesellschaft großen Stils bemüht, den Franzosen, Eng¬<lb/>
ländern und Österreichern auf dem Schwarzen und dem Mittelländischen Meere<lb/>
bis nach Ägypten hin Konkurrenz zu machen, und die Fahrzeuge derselben werden<lb/>
so eingerichtet, daß sie im Notfall auch zu Kriegszwecken, d. h. als Kreuzer<lb/>
zweiten Ranges und als Transportschiffe dienen können. Was die asia¬<lb/>
tischen Ufer des Pontus betrifft, so haben sich hier an der Ostküste verschiedene<lb/>
Handelsplätze entwickelt, welche einem unmittelbaren Verkehre Rußlands mit<lb/>
dem Binnenlande dienen, der infolge dessen bereits sehr lebhaft geworden ist.<lb/>
Die tscherkessische Bevölkerung dieses Teiles der Kaukasusgegenden, die unter<lb/>
Schamils Führung und mit englischer und türkischer Unterstützung viele Jahre<lb/>
mit Erfolg gegen die Soldaten des Zaren kämpfte, wurde endlich überwunden</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0280] England und Rußland in Asten. land gleichfalls eine Großmacht geworden ist, geht das, was sich dort vor¬ bereitet, in Wirklichkeit auch uns wesentlich an, es wird indirekt dort auch für und gegen unsre Interessen gewirkt und gekämpft werden, sodaß wir uns davon nicht als teilnahmlose und ununterrichtete Zuschauer betreffen lassen dürfen. Wer uns bei der gegenwärtigen Haltung des englischen Kabinets von den beiden Parteien mehr Sympathie einflößen sollte, kann nicht wohl zweifelhaft sein. In Europa scheint die russische Politik seit dem letzten Kriege mit der Pforte zu ruhen, doch übt sie in Bulgarien bedeutenden Einfluß, und daß sie auf den Besitz Konstantinopels verzichtet habe, ist nicht zu glauben. England hat seine dort erhobenen Ansprüche in den letzten Jahren, seit Beaeonsfields Rück¬ tritt, nicht so wie früher betont, es schien sich damit begnügen zu wollen, seine Interessen auf den wcstasiatischcn Meeren und an deren Küsten von Ägypten aus zu wahren, wo ihm beiläufig Frankreich gegenübersteht, und wo es sich bis jetzt nicht rühmen konnte, befriedigende und für die Zukunft sichere Ge¬ schäfte gemacht zu haben. Sehr ins Gewicht fallende Erfolge hatte dagegen Rußland am Schwarzen Meere und zwar auf dessen europäischem wie auf dessen asiatischem Ufer aufzuweisen. Odessa ist in den letzten Jahrzehnten allmählich zu einer der wichtigsten Seehandelsstädte geworden. Vor hundert Jahren stand hier der kleine türkische Ort Hadschi Bey mit kaum zweitausend Seelen, ärmlich, schmutzig und ohne Bedeutung für Schifffahrt und Handel. Heute nimmt dessen Stelle eine prächtige Großstadt mit breiten Quais, mächtigen Speichern, statt¬ lichen Läden und stolzen Palästen ein, und die Zahl der Einwohner hat sich verhundertfacht. Bis vor der Vollendung des Suezkanals verkehrte Odessa mit Indien und China fast nur über Hamburg, seitdem aber größtenteils direkt, und Rußland kann von hier und von andern seiner südlichen Häfen aus zu Wasser bis zu den Besitzungen am Amur gelangen. Auch Sebastvpol ist aus der Zer¬ störung, die ihm der Krimkrieg brachte, wieder erstände»; die Trümmerhaufen von 1865 sind schon seit geraumer Zeit verschwunden und haben neuen Straßen und Plätzen Raum gemacht, und mit Aufwendung sehr beträchtlicher Summen sind die Anlagen für die Marine verbessert worden. Mit Staatsunterstützung ist eine Dampfschifffahrtsgesellschaft großen Stils bemüht, den Franzosen, Eng¬ ländern und Österreichern auf dem Schwarzen und dem Mittelländischen Meere bis nach Ägypten hin Konkurrenz zu machen, und die Fahrzeuge derselben werden so eingerichtet, daß sie im Notfall auch zu Kriegszwecken, d. h. als Kreuzer zweiten Ranges und als Transportschiffe dienen können. Was die asia¬ tischen Ufer des Pontus betrifft, so haben sich hier an der Ostküste verschiedene Handelsplätze entwickelt, welche einem unmittelbaren Verkehre Rußlands mit dem Binnenlande dienen, der infolge dessen bereits sehr lebhaft geworden ist. Die tscherkessische Bevölkerung dieses Teiles der Kaukasusgegenden, die unter Schamils Führung und mit englischer und türkischer Unterstützung viele Jahre mit Erfolg gegen die Soldaten des Zaren kämpfte, wurde endlich überwunden

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/280
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/280>, abgerufen am 21.05.2024.