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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Seiten der menschlichen Natur im Zaume zu halten und die höhern Seiten
entweder zu unterdrücken oder zu korrumpiren. "In dieser philosophischen Ka¬
serne -- so schließt Taine seine Betrachtung -- leben wir seit achtzig Jahren."

Die französische Revolution wird für den Geschichtschreiber, den Psycho¬
logen und den Dichter, der uns die Gestalten der Wirklichkeit menschlich näher
bringen soll, stets eine unerschöpfliche Fundgrube bleiben. An den Resultaten
der Forschung wird wenig mehr geändert werden, aber in den Einzelheiten
bieten sich dem Studium neue interessante Punkte dar, da in Memoiren und
Urkunden immer wieder neue Quellen mit neuen Aufschlüssen im Detail ent¬
deckt werden. Meistenteils aber hat man bisher die Zustände, die sich aus
jener Revolution entwickelten und in denen man einen Vorteil für die bürger¬
liche Gesellschaft zu sehen glaubte, als die verdienstvollen Folgen dieser Epoche
hingestellt und hat den Trümmer- und Leichenhaufen, den sie sichtbar zurück¬
gelassen hatte, teils wenig beachtet, teils für den bösen Tropfen erklärt, den
man gleichzeitig mit dem guten in den Kauf nehmen müsse. Taine hat das
große Verdienst, namentlich bei seineu der Phrase so zugänglichen Landsleuten
diese Legende zerstört zu haben; er hat mit eisernem Fleiß und mit einer
Energie, die übermenschlich zu sein scheint, alle authentischen Berichte der Zeit
zusammengetragen und liefert bis ins kleinste Detail das trostlose Bild der
damaligen inissru. xlods. Wie aber sein Buch über die Vergangenheit aufklärt,
so soll es auch sür die Gegenwart und Zukunft belehren. Leider sind diese
Lehren von den Völkern noch immer nicht beherzigt, und sollte die jetzige fran¬
zösische Republik, wie es deu Anschein hat, das Jahr 1889 erleben, so wird
unzweifelhaft die Wiederkehr des hundertjährigen Geburtstages der "Ideen von
1789" mit rauschenden Festen und Schaugeprängen aller Art gefeiert werden.
Und diese Feier wird vermutlich in einer Menge von leeren Köpfen und leeren
Herzen auch diesseits der Vogesen ihren vollen Wiederhall finden. Zum
größten Teile unbewußt und vou verbohrten oder selbstsüchtigen Führern ge¬
leitet, steuert auch unter uns eine große Masse jenen Zielen zu, wie wir sie
in dem jakobinischen Programm geschildert finden. In dem Hochverratsprozeß,
der sich in diesen Tagen vor dem Reichsgericht abgespielt hat, sehen wir bereits
Repräsentanten jener anarchischen Richtung, und wenn wir näher auf die Sache
eingehen, so sind die Reden von Neinsdorf nach den berühmten Mustern eines
französischen Jakobiners gehalten. Diese anarchische Richtung ist nur ein Ab¬
leger der Sozialdemokratie; sie entwickelt sich aus ihr mit derselben Notwendigkeit,
wie der Konvent aus der Legislative hervorgehen mußte, und wie auf die giron¬
distischen Republikaner die Schreckensmänner gefolgt siud. Dem kompakten und
energischen Vorgehen der Sozialdemokratie mit ihrer anarchischen Gefolgschaft
gegenüber wird die Mehrheit des übrigen Volkes so sehr von den Fraktions¬
führern bearbeitet, daß das höhere Interesse des großen Ganzen dem niedrigen
Parteivvrteil geopfert wird. Der oft wiederholte Ausspruch des Reichskanzlers,


Seiten der menschlichen Natur im Zaume zu halten und die höhern Seiten
entweder zu unterdrücken oder zu korrumpiren. „In dieser philosophischen Ka¬
serne — so schließt Taine seine Betrachtung — leben wir seit achtzig Jahren."

Die französische Revolution wird für den Geschichtschreiber, den Psycho¬
logen und den Dichter, der uns die Gestalten der Wirklichkeit menschlich näher
bringen soll, stets eine unerschöpfliche Fundgrube bleiben. An den Resultaten
der Forschung wird wenig mehr geändert werden, aber in den Einzelheiten
bieten sich dem Studium neue interessante Punkte dar, da in Memoiren und
Urkunden immer wieder neue Quellen mit neuen Aufschlüssen im Detail ent¬
deckt werden. Meistenteils aber hat man bisher die Zustände, die sich aus
jener Revolution entwickelten und in denen man einen Vorteil für die bürger¬
liche Gesellschaft zu sehen glaubte, als die verdienstvollen Folgen dieser Epoche
hingestellt und hat den Trümmer- und Leichenhaufen, den sie sichtbar zurück¬
gelassen hatte, teils wenig beachtet, teils für den bösen Tropfen erklärt, den
man gleichzeitig mit dem guten in den Kauf nehmen müsse. Taine hat das
große Verdienst, namentlich bei seineu der Phrase so zugänglichen Landsleuten
diese Legende zerstört zu haben; er hat mit eisernem Fleiß und mit einer
Energie, die übermenschlich zu sein scheint, alle authentischen Berichte der Zeit
zusammengetragen und liefert bis ins kleinste Detail das trostlose Bild der
damaligen inissru. xlods. Wie aber sein Buch über die Vergangenheit aufklärt,
so soll es auch sür die Gegenwart und Zukunft belehren. Leider sind diese
Lehren von den Völkern noch immer nicht beherzigt, und sollte die jetzige fran¬
zösische Republik, wie es deu Anschein hat, das Jahr 1889 erleben, so wird
unzweifelhaft die Wiederkehr des hundertjährigen Geburtstages der „Ideen von
1789" mit rauschenden Festen und Schaugeprängen aller Art gefeiert werden.
Und diese Feier wird vermutlich in einer Menge von leeren Köpfen und leeren
Herzen auch diesseits der Vogesen ihren vollen Wiederhall finden. Zum
größten Teile unbewußt und vou verbohrten oder selbstsüchtigen Führern ge¬
leitet, steuert auch unter uns eine große Masse jenen Zielen zu, wie wir sie
in dem jakobinischen Programm geschildert finden. In dem Hochverratsprozeß,
der sich in diesen Tagen vor dem Reichsgericht abgespielt hat, sehen wir bereits
Repräsentanten jener anarchischen Richtung, und wenn wir näher auf die Sache
eingehen, so sind die Reden von Neinsdorf nach den berühmten Mustern eines
französischen Jakobiners gehalten. Diese anarchische Richtung ist nur ein Ab¬
leger der Sozialdemokratie; sie entwickelt sich aus ihr mit derselben Notwendigkeit,
wie der Konvent aus der Legislative hervorgehen mußte, und wie auf die giron¬
distischen Republikaner die Schreckensmänner gefolgt siud. Dem kompakten und
energischen Vorgehen der Sozialdemokratie mit ihrer anarchischen Gefolgschaft
gegenüber wird die Mehrheit des übrigen Volkes so sehr von den Fraktions¬
führern bearbeitet, daß das höhere Interesse des großen Ganzen dem niedrigen
Parteivvrteil geopfert wird. Der oft wiederholte Ausspruch des Reichskanzlers,


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[0032] Seiten der menschlichen Natur im Zaume zu halten und die höhern Seiten entweder zu unterdrücken oder zu korrumpiren. „In dieser philosophischen Ka¬ serne — so schließt Taine seine Betrachtung — leben wir seit achtzig Jahren." Die französische Revolution wird für den Geschichtschreiber, den Psycho¬ logen und den Dichter, der uns die Gestalten der Wirklichkeit menschlich näher bringen soll, stets eine unerschöpfliche Fundgrube bleiben. An den Resultaten der Forschung wird wenig mehr geändert werden, aber in den Einzelheiten bieten sich dem Studium neue interessante Punkte dar, da in Memoiren und Urkunden immer wieder neue Quellen mit neuen Aufschlüssen im Detail ent¬ deckt werden. Meistenteils aber hat man bisher die Zustände, die sich aus jener Revolution entwickelten und in denen man einen Vorteil für die bürger¬ liche Gesellschaft zu sehen glaubte, als die verdienstvollen Folgen dieser Epoche hingestellt und hat den Trümmer- und Leichenhaufen, den sie sichtbar zurück¬ gelassen hatte, teils wenig beachtet, teils für den bösen Tropfen erklärt, den man gleichzeitig mit dem guten in den Kauf nehmen müsse. Taine hat das große Verdienst, namentlich bei seineu der Phrase so zugänglichen Landsleuten diese Legende zerstört zu haben; er hat mit eisernem Fleiß und mit einer Energie, die übermenschlich zu sein scheint, alle authentischen Berichte der Zeit zusammengetragen und liefert bis ins kleinste Detail das trostlose Bild der damaligen inissru. xlods. Wie aber sein Buch über die Vergangenheit aufklärt, so soll es auch sür die Gegenwart und Zukunft belehren. Leider sind diese Lehren von den Völkern noch immer nicht beherzigt, und sollte die jetzige fran¬ zösische Republik, wie es deu Anschein hat, das Jahr 1889 erleben, so wird unzweifelhaft die Wiederkehr des hundertjährigen Geburtstages der „Ideen von 1789" mit rauschenden Festen und Schaugeprängen aller Art gefeiert werden. Und diese Feier wird vermutlich in einer Menge von leeren Köpfen und leeren Herzen auch diesseits der Vogesen ihren vollen Wiederhall finden. Zum größten Teile unbewußt und vou verbohrten oder selbstsüchtigen Führern ge¬ leitet, steuert auch unter uns eine große Masse jenen Zielen zu, wie wir sie in dem jakobinischen Programm geschildert finden. In dem Hochverratsprozeß, der sich in diesen Tagen vor dem Reichsgericht abgespielt hat, sehen wir bereits Repräsentanten jener anarchischen Richtung, und wenn wir näher auf die Sache eingehen, so sind die Reden von Neinsdorf nach den berühmten Mustern eines französischen Jakobiners gehalten. Diese anarchische Richtung ist nur ein Ab¬ leger der Sozialdemokratie; sie entwickelt sich aus ihr mit derselben Notwendigkeit, wie der Konvent aus der Legislative hervorgehen mußte, und wie auf die giron¬ distischen Republikaner die Schreckensmänner gefolgt siud. Dem kompakten und energischen Vorgehen der Sozialdemokratie mit ihrer anarchischen Gefolgschaft gegenüber wird die Mehrheit des übrigen Volkes so sehr von den Fraktions¬ führern bearbeitet, daß das höhere Interesse des großen Ganzen dem niedrigen Parteivvrteil geopfert wird. Der oft wiederholte Ausspruch des Reichskanzlers,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/32>, abgerufen am 21.05.2024.