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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Ungehaltene Reden eines Nichtgowählten.

und Radikalmittel für alle sozialen Übelstände giebt: Aufhebung der Maigesetz¬
gebung. Das ist kurz und bündig und zeichnet sich außerdem vor dem Ar-
kanum der befreundeten Partei auf dem linken Flügel: Etablirung des sozia¬
listischen Staates durch eine jeden Zweifel ausschließende Klarheit aus. Ich bin
zwar auch überzeugt von der Unfehlbarkeit des Mittels, welches die Sozialdemo¬
kraten mit der ebengenannten Etikette bezeichnen. Aber leider lassen sie uns
immer nur die Aufschrift sehen, und die gelegentlichen Mitteilungen über den
Inhalt der Wunderflasche widersprechen einander gewöhnlich. Bei der Forderung
des Zentrums hingegen sieht man Wie und Wo. "Schafft die Maigesetze ab,
und alles ist wieder gut," singen die Herren. Und haben sie nicht Recht?
Ich will nicht von der guten alten Zeit sprechen, als noch der Papst Fürsten
ein- und absetzte, es keine Cholera gab, höchstens ein bischen Pest, keine
Kartoffelkrankheit und Zuckerkrise, höchstens Hungersnöte, welche auf die ein¬
fachste Art der Übervölkerung steuerten, nicht von der Einfalt der Sitten, der
Zucht und Ehrbarkeit, welche herrschten, bis Luther den unseligen Einfall hatte,
reformiren zu Wollen, wo keine Reform Vonnöten war. Wir können ja in der
Gegenwart bleiben, brauchen nur die Zustände in Ländern, welche von der Pest
der Reformation verschont geblieben oder doch wieder befreit worden sind, mit
denen andrer, weniger glücklicher Länder zu vergleichen. Nehmen wir z. B.
Holland und Belgien: dort eine langweilige Wohlhäbigkeit, welche die Herzen
gleichgiltig und hart macht, hier auf Schritt und Tritt die Mahnung, Werke
der Barmherzigkeit zu üben, viel energischer an uns herantretend als durch die
Schildereien am Spital zu Pistoja. Oder gehen wir nach Italien. Hören wir
da von Sklavenarbeit der Kinder und Weiber in dunstigen Fabriken? Nein,
unter freiem Himmel, im goldenen Sonnenschein verdienen sie ihr tägliches
Brot in Gestalt einer Armensteuer, welche dem Forestiere, dem reichen Mossiou
oder Mylord nicht wchethut, die Finanzen des Landes nicht belastet. Die ver¬
blendete italienische Regierung macht Wohl Anstrengungen, diese natürliche
Ordnung der Dinge abzustellen, allein es wird ihr nicht gelingen, diese freie,
zwanglose Art des Erwerbes, dem die Leute auch gern an Sonn- und Feier¬
tagen nachgehen, auszurotten, oder den stolzen Freiheitssinn des Calabrcsen
und Sizilicmers zu brechen, die geduldig tagelang hinter einem Busche lauern,
bis sie einem gutsituirten Wanderer ihr: ?A<zoiÄ g. t,srra>! zudonnern können, aber
niemals dem schnöden Mammon Knechtesdienste leisten werden. Der schlichte,
fromme Sinn, welcher vor jedem Raube die Madonna anrufen läßt, die heitere
Thätigkeit der durch keinen Schulzwang geknechteten Jugend können freilich in
einem Polizeistaate nicht gedeihen! Ich begreife es, daß der Abgeordnete
Windthorst endlich müde geworden ist, auf die Wurzel alles Übels hinzuweisen,
und sich bescheidet, Wendungen anzubringen, wie: "Wo der Grund für solche
Zustände liegt, will ich nicht untersuchen." Wissen wir es doch alle, und es
mangelt nur an einem frischen Entschlüsse. Darum sage ich: Heben wir die


Ungehaltene Reden eines Nichtgowählten.

und Radikalmittel für alle sozialen Übelstände giebt: Aufhebung der Maigesetz¬
gebung. Das ist kurz und bündig und zeichnet sich außerdem vor dem Ar-
kanum der befreundeten Partei auf dem linken Flügel: Etablirung des sozia¬
listischen Staates durch eine jeden Zweifel ausschließende Klarheit aus. Ich bin
zwar auch überzeugt von der Unfehlbarkeit des Mittels, welches die Sozialdemo¬
kraten mit der ebengenannten Etikette bezeichnen. Aber leider lassen sie uns
immer nur die Aufschrift sehen, und die gelegentlichen Mitteilungen über den
Inhalt der Wunderflasche widersprechen einander gewöhnlich. Bei der Forderung
des Zentrums hingegen sieht man Wie und Wo. „Schafft die Maigesetze ab,
und alles ist wieder gut," singen die Herren. Und haben sie nicht Recht?
Ich will nicht von der guten alten Zeit sprechen, als noch der Papst Fürsten
ein- und absetzte, es keine Cholera gab, höchstens ein bischen Pest, keine
Kartoffelkrankheit und Zuckerkrise, höchstens Hungersnöte, welche auf die ein¬
fachste Art der Übervölkerung steuerten, nicht von der Einfalt der Sitten, der
Zucht und Ehrbarkeit, welche herrschten, bis Luther den unseligen Einfall hatte,
reformiren zu Wollen, wo keine Reform Vonnöten war. Wir können ja in der
Gegenwart bleiben, brauchen nur die Zustände in Ländern, welche von der Pest
der Reformation verschont geblieben oder doch wieder befreit worden sind, mit
denen andrer, weniger glücklicher Länder zu vergleichen. Nehmen wir z. B.
Holland und Belgien: dort eine langweilige Wohlhäbigkeit, welche die Herzen
gleichgiltig und hart macht, hier auf Schritt und Tritt die Mahnung, Werke
der Barmherzigkeit zu üben, viel energischer an uns herantretend als durch die
Schildereien am Spital zu Pistoja. Oder gehen wir nach Italien. Hören wir
da von Sklavenarbeit der Kinder und Weiber in dunstigen Fabriken? Nein,
unter freiem Himmel, im goldenen Sonnenschein verdienen sie ihr tägliches
Brot in Gestalt einer Armensteuer, welche dem Forestiere, dem reichen Mossiou
oder Mylord nicht wchethut, die Finanzen des Landes nicht belastet. Die ver¬
blendete italienische Regierung macht Wohl Anstrengungen, diese natürliche
Ordnung der Dinge abzustellen, allein es wird ihr nicht gelingen, diese freie,
zwanglose Art des Erwerbes, dem die Leute auch gern an Sonn- und Feier¬
tagen nachgehen, auszurotten, oder den stolzen Freiheitssinn des Calabrcsen
und Sizilicmers zu brechen, die geduldig tagelang hinter einem Busche lauern,
bis sie einem gutsituirten Wanderer ihr: ?A<zoiÄ g. t,srra>! zudonnern können, aber
niemals dem schnöden Mammon Knechtesdienste leisten werden. Der schlichte,
fromme Sinn, welcher vor jedem Raube die Madonna anrufen läßt, die heitere
Thätigkeit der durch keinen Schulzwang geknechteten Jugend können freilich in
einem Polizeistaate nicht gedeihen! Ich begreife es, daß der Abgeordnete
Windthorst endlich müde geworden ist, auf die Wurzel alles Übels hinzuweisen,
und sich bescheidet, Wendungen anzubringen, wie: „Wo der Grund für solche
Zustände liegt, will ich nicht untersuchen." Wissen wir es doch alle, und es
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/322>, abgerufen am 22.05.2024.