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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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haben sich die Hilfsmittel unsrer Beobachtung vervollkommnet; es kann daher
nicht ausbleiben, daß, wenn wir von neuem zur Untersuchung derselben That¬
sachen schreiten, wir zu andern Ergebnissen gelangen. Aus diesem Grnnde
trägt die induktive Methode das Bedürfnis und die Notwendigkeit wiederholter
Revision der grundlegenden Beobachtungen in sich. Dies entging auch der Wel>,
dem Volke, der Wissenschaft keineswegs,

Adam Smith war kein einseitiger Kopf. Er hatte die menschlichen Hand¬
lungen unter sein philosophisches Sezirmesser gelegt und hatte gefunden, daß
dieselben eine doppelte Natur hätten, eine sittliche und eine materielle. Er be¬
handelte zuerst in seinem Werke 'Illöorie- ok moM "eirtimvnt" das moralische
Element der Handlungen und gelangte zu einem sittlichen Gebote, zu einem
kategorischen Imperativ, der etwa so lautet: "Nichte deine Handlungen so ein,
daß sie sich des Beifalls der Nebenmenschen erfreuen können." Später unter-
suchte er die materielle Seite der Handlungen und fand in seinem Werke ^Vvaltn
ok nMon", daß hier die Selbstsucht die Triebfeder sei. Während er in den
Noi'in söntimsnts den Menschen als Glied der Gesellschaft betrachtete, nach deren
Anforderungen er sich zu richten, deren "Sympathie" er zu erwerben habe,
war ihm in seinem Werke Vo-tilli ot' nu.ti0N8 der Mensch nichts weiter als ein
Individuum, das vom Staate, von der Gesellschaft nichts andres zu verlangen
habe, als daß man ihm keine Hindernisse bereite. /

Man sieht, Adam Smith hatte sich seinen Gegenstand von zwei Seiten
betrachtet; aber er verkannte, daß dies eben doch nur zwei Seiten eines und
desselben Gegenstandes waren, daß es zwar möglich ist, den Menschen einmal
als Glied der Gesellschaft, ein andermal als freies Individuum zu betrachten,
daß aber in Wirklichkeit der Mensch beides zugleich ist und daß mau ihn
ebensowenig seiner Zugehörigkeit, seiner Mitgliedschaft zur Gesellschaft, als seiner
Individualität entäußern kann.

Vielleicht aber hat dies Smith auch garnicht verkannt, vielleicht war es
seine Absicht, in einem dritten Werke die Auflösung, die Versöhnung der in den
menschlichen Handlungen liegenden Gegensätze zu behandeln und damit eine wahre
Gesellschaftswissenschaft zu begründen. Wenigstens ist es schwer zu glauben,
daß der nämliche Mann die Menschen lediglich auf ihre Selbstsucht verwiesen
hätte, der in seinen NorÄ sontiinour" folgende, eines echten Sozialisten würdige
Worte schrieb: "Wessen Herz sich den Gefühlen der Menschlichkeit niemals
öffnet, der sollte auf gleiche Weise von aller Teilnahme seiner Mitgeschöpfe
ausgeschlossen werden und inmitten der Gesellschaft wie in einer großen Einöde
leben, wo niemand nach ihm fragt und niemand sich um ihn kümmert. Freilich
ist ein jeder von Natur sich selbst der Nächste, sich selbst ist er die nächste
Rücksicht schuldig, und da niemand tauglicher ist, für ihn zu sorgen, als er
selbst, so ist es auch recht und billig, daß er für sich sorge. Allein wenn "us
auch unsers Nächsten Untergang nicht mehr rühren mag, als irgendein kleiner


haben sich die Hilfsmittel unsrer Beobachtung vervollkommnet; es kann daher
nicht ausbleiben, daß, wenn wir von neuem zur Untersuchung derselben That¬
sachen schreiten, wir zu andern Ergebnissen gelangen. Aus diesem Grnnde
trägt die induktive Methode das Bedürfnis und die Notwendigkeit wiederholter
Revision der grundlegenden Beobachtungen in sich. Dies entging auch der Wel>,
dem Volke, der Wissenschaft keineswegs,

Adam Smith war kein einseitiger Kopf. Er hatte die menschlichen Hand¬
lungen unter sein philosophisches Sezirmesser gelegt und hatte gefunden, daß
dieselben eine doppelte Natur hätten, eine sittliche und eine materielle. Er be¬
handelte zuerst in seinem Werke 'Illöorie- ok moM «eirtimvnt« das moralische
Element der Handlungen und gelangte zu einem sittlichen Gebote, zu einem
kategorischen Imperativ, der etwa so lautet: „Nichte deine Handlungen so ein,
daß sie sich des Beifalls der Nebenmenschen erfreuen können." Später unter-
suchte er die materielle Seite der Handlungen und fand in seinem Werke ^Vvaltn
ok nMon», daß hier die Selbstsucht die Triebfeder sei. Während er in den
Noi'in söntimsnts den Menschen als Glied der Gesellschaft betrachtete, nach deren
Anforderungen er sich zu richten, deren „Sympathie" er zu erwerben habe,
war ihm in seinem Werke Vo-tilli ot' nu.ti0N8 der Mensch nichts weiter als ein
Individuum, das vom Staate, von der Gesellschaft nichts andres zu verlangen
habe, als daß man ihm keine Hindernisse bereite. /

Man sieht, Adam Smith hatte sich seinen Gegenstand von zwei Seiten
betrachtet; aber er verkannte, daß dies eben doch nur zwei Seiten eines und
desselben Gegenstandes waren, daß es zwar möglich ist, den Menschen einmal
als Glied der Gesellschaft, ein andermal als freies Individuum zu betrachten,
daß aber in Wirklichkeit der Mensch beides zugleich ist und daß mau ihn
ebensowenig seiner Zugehörigkeit, seiner Mitgliedschaft zur Gesellschaft, als seiner
Individualität entäußern kann.

Vielleicht aber hat dies Smith auch garnicht verkannt, vielleicht war es
seine Absicht, in einem dritten Werke die Auflösung, die Versöhnung der in den
menschlichen Handlungen liegenden Gegensätze zu behandeln und damit eine wahre
Gesellschaftswissenschaft zu begründen. Wenigstens ist es schwer zu glauben,
daß der nämliche Mann die Menschen lediglich auf ihre Selbstsucht verwiesen
hätte, der in seinen NorÄ sontiinour« folgende, eines echten Sozialisten würdige
Worte schrieb: „Wessen Herz sich den Gefühlen der Menschlichkeit niemals
öffnet, der sollte auf gleiche Weise von aller Teilnahme seiner Mitgeschöpfe
ausgeschlossen werden und inmitten der Gesellschaft wie in einer großen Einöde
leben, wo niemand nach ihm fragt und niemand sich um ihn kümmert. Freilich
ist ein jeder von Natur sich selbst der Nächste, sich selbst ist er die nächste
Rücksicht schuldig, und da niemand tauglicher ist, für ihn zu sorgen, als er
selbst, so ist es auch recht und billig, daß er für sich sorge. Allein wenn »us
auch unsers Nächsten Untergang nicht mehr rühren mag, als irgendein kleiner


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[0390] haben sich die Hilfsmittel unsrer Beobachtung vervollkommnet; es kann daher nicht ausbleiben, daß, wenn wir von neuem zur Untersuchung derselben That¬ sachen schreiten, wir zu andern Ergebnissen gelangen. Aus diesem Grnnde trägt die induktive Methode das Bedürfnis und die Notwendigkeit wiederholter Revision der grundlegenden Beobachtungen in sich. Dies entging auch der Wel>, dem Volke, der Wissenschaft keineswegs, Adam Smith war kein einseitiger Kopf. Er hatte die menschlichen Hand¬ lungen unter sein philosophisches Sezirmesser gelegt und hatte gefunden, daß dieselben eine doppelte Natur hätten, eine sittliche und eine materielle. Er be¬ handelte zuerst in seinem Werke 'Illöorie- ok moM «eirtimvnt« das moralische Element der Handlungen und gelangte zu einem sittlichen Gebote, zu einem kategorischen Imperativ, der etwa so lautet: „Nichte deine Handlungen so ein, daß sie sich des Beifalls der Nebenmenschen erfreuen können." Später unter- suchte er die materielle Seite der Handlungen und fand in seinem Werke ^Vvaltn ok nMon», daß hier die Selbstsucht die Triebfeder sei. Während er in den Noi'in söntimsnts den Menschen als Glied der Gesellschaft betrachtete, nach deren Anforderungen er sich zu richten, deren „Sympathie" er zu erwerben habe, war ihm in seinem Werke Vo-tilli ot' nu.ti0N8 der Mensch nichts weiter als ein Individuum, das vom Staate, von der Gesellschaft nichts andres zu verlangen habe, als daß man ihm keine Hindernisse bereite. / Man sieht, Adam Smith hatte sich seinen Gegenstand von zwei Seiten betrachtet; aber er verkannte, daß dies eben doch nur zwei Seiten eines und desselben Gegenstandes waren, daß es zwar möglich ist, den Menschen einmal als Glied der Gesellschaft, ein andermal als freies Individuum zu betrachten, daß aber in Wirklichkeit der Mensch beides zugleich ist und daß mau ihn ebensowenig seiner Zugehörigkeit, seiner Mitgliedschaft zur Gesellschaft, als seiner Individualität entäußern kann. Vielleicht aber hat dies Smith auch garnicht verkannt, vielleicht war es seine Absicht, in einem dritten Werke die Auflösung, die Versöhnung der in den menschlichen Handlungen liegenden Gegensätze zu behandeln und damit eine wahre Gesellschaftswissenschaft zu begründen. Wenigstens ist es schwer zu glauben, daß der nämliche Mann die Menschen lediglich auf ihre Selbstsucht verwiesen hätte, der in seinen NorÄ sontiinour« folgende, eines echten Sozialisten würdige Worte schrieb: „Wessen Herz sich den Gefühlen der Menschlichkeit niemals öffnet, der sollte auf gleiche Weise von aller Teilnahme seiner Mitgeschöpfe ausgeschlossen werden und inmitten der Gesellschaft wie in einer großen Einöde leben, wo niemand nach ihm fragt und niemand sich um ihn kümmert. Freilich ist ein jeder von Natur sich selbst der Nächste, sich selbst ist er die nächste Rücksicht schuldig, und da niemand tauglicher ist, für ihn zu sorgen, als er selbst, so ist es auch recht und billig, daß er für sich sorge. Allein wenn »us auch unsers Nächsten Untergang nicht mehr rühren mag, als irgendein kleiner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/390>, abgerufen am 22.05.2024.