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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Hat die deutsche Renaissance eine Zukunft?

zcntriren. Die italienische Renaissance hat -- nach den aus den Ruinen der
alten Kaiserpaläste hergeleiteten Mustern -- Treppeuhäuscr, Korridore, bedeckte
und offene Hallen, Prunkgemächer und Säle geschaffen, wie sie das Mittelalter
nicht kannte. Sie hat ein dekoratives System von einer Schönheit, einem Reich¬
tum und einer festlichen Anmut erfunden, wie sie der gothischen und der roma¬
nischen Bauweise fremd waren. Aber neue konstruktive Elemente hat sie nicht
erdacht, und darin war schon der Keim ihres Verfalls begründet. In Deutsch¬
land wurden die dekorativen Eigentümlichkeiten der Renaissance mit den Bau¬
grundsätzen der Gothik mehr oder weniger äußerlich verflochten. Wo, wie es
in mehreren Städten Süddeutschlands der Fall war, namentlich in Landshut
und Augsburg, italienische Kräfte herangezogen wurden, entstanden zum Teil
prächtige Gebilde aus einem Guß. Wo sich aber nationale Künstler der "anti¬
kischen Art" bemächtigten, wuchsen krause, wunderliche und seltsame Schöpfungen
aus dem Boden empor, wenn sie überhaupt organisch erwuchsen und uicht etwa
das neue dekorative System, an welchem man allerorten eine naive Freude
hatte, mit der größten Unbefangenheit auf mittelalterliche, notdürftig reparirte
Bauten aufgepfropft wurde. An den zahllosen Rat- und Bürgerhäusern,
welche man nach der neuen Mode erbaute, wurden bestimmte Elemente des
mittelalterlichen Stils, die Lauben, Erker und Spitzgiebel und im Innern die
horizontalen Balkendecken streng festgehalten und nur mit der cmtikisirenden
Dekoration wie mit einem edeln Gespinnst überzogen. Die Großräumigkeit
italienischer Paläste wurde im Innern der Häuser ganz und gar nicht nach¬
gebildet. Selbst in Rathäusern kommen große Säle nur sehr vereinzelt vor,
und auch diese machen keineswegs einen imposanten Eindruck, weil es ihnen
an der entsprechenden Höhenentwicklung fehlt. Für Deutschland bedeutet die
Renaissance in der Architektur also nicht viel mehr als ein verändertes
Dekorationssystem, und daher machte die deutsche Baukunst auch im sieb¬
zehnten Jahrhundert jene Stilphasen durch, die man jetzt gewöhnlich als Barock-,
Rokoko- und Zopfstil bezeichnet. Dem Auge des vergleichenden, den Zu¬
sammenhang der Dinge klar erfassender Historikers haben sich diese drei Ent¬
wicklungsphasen längst als Abwandlungen des Renaissancestils ergeben. Derselbe
hatte sich in Italien zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts noch keineswegs
ausgelebt, sondern im Barvcco nur eine kräftigere Blüte getrieben, die sich
dort ungestört entfalten konnte, während das übrige Europa, insbesondre
Deutschland, von den Stürmen des dreißigjährigen Krieges erschüttert wurde.
Als sich diese gelegt hatten, zog mit der katholischen Reaktion auch ihre künst¬
lerische Ausdrucksform, der Barockstil, in Deutschland ein, wo er sich so lange
behauptete, bis der französische Einfluß die Oberhand gewann und die schwer¬
fälligen Formen des Barockstils durch den gallischen Esprit gemildert wurden.
War schon in der Architektur der Frührenaissance dem malerischen Element
ein weiter Spielraum gelassen, so trat dasselbe in den folgenden Stilepochen


Hat die deutsche Renaissance eine Zukunft?

zcntriren. Die italienische Renaissance hat — nach den aus den Ruinen der
alten Kaiserpaläste hergeleiteten Mustern — Treppeuhäuscr, Korridore, bedeckte
und offene Hallen, Prunkgemächer und Säle geschaffen, wie sie das Mittelalter
nicht kannte. Sie hat ein dekoratives System von einer Schönheit, einem Reich¬
tum und einer festlichen Anmut erfunden, wie sie der gothischen und der roma¬
nischen Bauweise fremd waren. Aber neue konstruktive Elemente hat sie nicht
erdacht, und darin war schon der Keim ihres Verfalls begründet. In Deutsch¬
land wurden die dekorativen Eigentümlichkeiten der Renaissance mit den Bau¬
grundsätzen der Gothik mehr oder weniger äußerlich verflochten. Wo, wie es
in mehreren Städten Süddeutschlands der Fall war, namentlich in Landshut
und Augsburg, italienische Kräfte herangezogen wurden, entstanden zum Teil
prächtige Gebilde aus einem Guß. Wo sich aber nationale Künstler der „anti¬
kischen Art" bemächtigten, wuchsen krause, wunderliche und seltsame Schöpfungen
aus dem Boden empor, wenn sie überhaupt organisch erwuchsen und uicht etwa
das neue dekorative System, an welchem man allerorten eine naive Freude
hatte, mit der größten Unbefangenheit auf mittelalterliche, notdürftig reparirte
Bauten aufgepfropft wurde. An den zahllosen Rat- und Bürgerhäusern,
welche man nach der neuen Mode erbaute, wurden bestimmte Elemente des
mittelalterlichen Stils, die Lauben, Erker und Spitzgiebel und im Innern die
horizontalen Balkendecken streng festgehalten und nur mit der cmtikisirenden
Dekoration wie mit einem edeln Gespinnst überzogen. Die Großräumigkeit
italienischer Paläste wurde im Innern der Häuser ganz und gar nicht nach¬
gebildet. Selbst in Rathäusern kommen große Säle nur sehr vereinzelt vor,
und auch diese machen keineswegs einen imposanten Eindruck, weil es ihnen
an der entsprechenden Höhenentwicklung fehlt. Für Deutschland bedeutet die
Renaissance in der Architektur also nicht viel mehr als ein verändertes
Dekorationssystem, und daher machte die deutsche Baukunst auch im sieb¬
zehnten Jahrhundert jene Stilphasen durch, die man jetzt gewöhnlich als Barock-,
Rokoko- und Zopfstil bezeichnet. Dem Auge des vergleichenden, den Zu¬
sammenhang der Dinge klar erfassender Historikers haben sich diese drei Ent¬
wicklungsphasen längst als Abwandlungen des Renaissancestils ergeben. Derselbe
hatte sich in Italien zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts noch keineswegs
ausgelebt, sondern im Barvcco nur eine kräftigere Blüte getrieben, die sich
dort ungestört entfalten konnte, während das übrige Europa, insbesondre
Deutschland, von den Stürmen des dreißigjährigen Krieges erschüttert wurde.
Als sich diese gelegt hatten, zog mit der katholischen Reaktion auch ihre künst¬
lerische Ausdrucksform, der Barockstil, in Deutschland ein, wo er sich so lange
behauptete, bis der französische Einfluß die Oberhand gewann und die schwer¬
fälligen Formen des Barockstils durch den gallischen Esprit gemildert wurden.
War schon in der Architektur der Frührenaissance dem malerischen Element
ein weiter Spielraum gelassen, so trat dasselbe in den folgenden Stilepochen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/50>, abgerufen am 21.05.2024.