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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Zur Revision manchostorlicher Lehren.

die Verstorbenen Platz gemacht haben. Dann steigen die Löhne!" Aber das
Behagen des gemeinen Mannes hat vermehrte Heiraten und eine stärkere Kinder¬
erzeugung, also Vermehrung des Angebotes von Arbeitern zur Folge, und die
arme Menschheit kehrt zurück zum Fallen der Löhne, zum Elend, zu den Epi¬
demien, zur Hungersnot, und so mit Grazie fort in alle Ewigkeit!

Es ist eines der schönsten Kapitel, welches George in seinem oft ange¬
führten Werke der Widerlegung der schrecklichen Theorie von Malthus widmet.
Er hätte diesem Kapitel den schönen Ausspruch Goethes zum Motto geben
können: "Ich bete den an, der eine solche Produktionskraft in die Welt gelegt
hat, daß, wenn auch nur der millionste Teil davon ins Leben tritt, die Welt
von Geschöpfen wimmelt, sodaß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts an¬
zuhaben vermögen. Das ist mein Gott!" Georges Kritik des Malthusschen
Gesetzes versöhnt uns mit den Geschicken der Menschheit, mit den Gesetzen der
Natur und mit dem Walten Gottes, zumal wenn wir jenes entsetzliche Buch
des anonymen englischen Arztes gelesen haben, der als ein beinahe fanatischer
Anhänger jener Lehre die äußersten und trostlosesten Konsequenzen zieht.*)

Es ist indessen nicht zu verkennen, daß rein praktisch genommen, d. h. so¬
viel die Diagnose der Krankheit des sozialen Körpers anlangt, die beiden schroff
entgegenstehenden Ansichten doch auf eins und dasselbe hinauslaufen.

Nach Malthus ist die Vermehrungsfähigkeit der Menschen weit größer
als diejenige der Natur in bezug auf Nahrungsmittel; daher strebe die Volks¬
zahl das Ernährungsgebict zu überschreiten. Die Ausgleichung, d. h. das Heil¬
mittel der Krankheit bestehe in Hemmnissen der Volkszuucihme, die Malthus
teils positive nennt, hohe Sterblichkeit durch Krieg, Pest, Hungersnot, teils vor¬
bauende, worunter er neben Prostitution u. dergl. besonders die geschlechtliche
Enthaltsamkeit versteht.

George leugnet eine unaufhaltsame Vermehrungstendenz des menschlichen
Geschlechtes, weil im Zustande der Zivilisation die Triebe des Menschen sich
vervielfältigen und veredeln. Er glaubt, daß die Vermehrungstendenz nur da
stark sei, wo eine größere Bevölkerung erhöhten Wohlstand erzeugen würde und
wo die Fortdauer des Geschlechts von der durch ungünstige Verhältnisse her¬
beigeführten Sterblichkeit bedroht ist; sie schwache sich ab, sobald die höhere
Entwicklung des Menschen möglich werde und die Fortdauer des Geschlechts
gesichert sei.



Die "Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft oder physische, geschlechtliche und natür¬
liche Religion. Eine Darstellung der wahren Ursache und eine Heilung der drei Grundübel
der Gesellschaft! der Armut, der Prostitution und der Ehelosigkeit. Von einem Doktor der
Medizin." Das Buch ist nach der zweiundzwanzigsten Auflage des englischen Originals
deutsch bereits in achter Auflage erschienen. Es ist gut geschrieben und enthält im einzelnen
vorzügliche Darstellungen.
Zur Revision manchostorlicher Lehren.

die Verstorbenen Platz gemacht haben. Dann steigen die Löhne!" Aber das
Behagen des gemeinen Mannes hat vermehrte Heiraten und eine stärkere Kinder¬
erzeugung, also Vermehrung des Angebotes von Arbeitern zur Folge, und die
arme Menschheit kehrt zurück zum Fallen der Löhne, zum Elend, zu den Epi¬
demien, zur Hungersnot, und so mit Grazie fort in alle Ewigkeit!

Es ist eines der schönsten Kapitel, welches George in seinem oft ange¬
führten Werke der Widerlegung der schrecklichen Theorie von Malthus widmet.
Er hätte diesem Kapitel den schönen Ausspruch Goethes zum Motto geben
können: „Ich bete den an, der eine solche Produktionskraft in die Welt gelegt
hat, daß, wenn auch nur der millionste Teil davon ins Leben tritt, die Welt
von Geschöpfen wimmelt, sodaß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts an¬
zuhaben vermögen. Das ist mein Gott!" Georges Kritik des Malthusschen
Gesetzes versöhnt uns mit den Geschicken der Menschheit, mit den Gesetzen der
Natur und mit dem Walten Gottes, zumal wenn wir jenes entsetzliche Buch
des anonymen englischen Arztes gelesen haben, der als ein beinahe fanatischer
Anhänger jener Lehre die äußersten und trostlosesten Konsequenzen zieht.*)

Es ist indessen nicht zu verkennen, daß rein praktisch genommen, d. h. so¬
viel die Diagnose der Krankheit des sozialen Körpers anlangt, die beiden schroff
entgegenstehenden Ansichten doch auf eins und dasselbe hinauslaufen.

Nach Malthus ist die Vermehrungsfähigkeit der Menschen weit größer
als diejenige der Natur in bezug auf Nahrungsmittel; daher strebe die Volks¬
zahl das Ernährungsgebict zu überschreiten. Die Ausgleichung, d. h. das Heil¬
mittel der Krankheit bestehe in Hemmnissen der Volkszuucihme, die Malthus
teils positive nennt, hohe Sterblichkeit durch Krieg, Pest, Hungersnot, teils vor¬
bauende, worunter er neben Prostitution u. dergl. besonders die geschlechtliche
Enthaltsamkeit versteht.

George leugnet eine unaufhaltsame Vermehrungstendenz des menschlichen
Geschlechtes, weil im Zustande der Zivilisation die Triebe des Menschen sich
vervielfältigen und veredeln. Er glaubt, daß die Vermehrungstendenz nur da
stark sei, wo eine größere Bevölkerung erhöhten Wohlstand erzeugen würde und
wo die Fortdauer des Geschlechts von der durch ungünstige Verhältnisse her¬
beigeführten Sterblichkeit bedroht ist; sie schwache sich ab, sobald die höhere
Entwicklung des Menschen möglich werde und die Fortdauer des Geschlechts
gesichert sei.



Die „Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft oder physische, geschlechtliche und natür¬
liche Religion. Eine Darstellung der wahren Ursache und eine Heilung der drei Grundübel
der Gesellschaft! der Armut, der Prostitution und der Ehelosigkeit. Von einem Doktor der
Medizin." Das Buch ist nach der zweiundzwanzigsten Auflage des englischen Originals
deutsch bereits in achter Auflage erschienen. Es ist gut geschrieben und enthält im einzelnen
vorzügliche Darstellungen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/514>, abgerufen am 21.05.2024.