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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Zur Revision manchesterlicher Lehren.

Die regelmäßige Zunahme der Bevölkerung wird in allen zivilisirten Staaten
beobachtet und dürfte demnach wohl ein Zeichen, sei es Ursache oder Wirkung,
der Kulturentwicklung sein. Jedenfalls ist es eine Thatsache, mit welcher wir
rechnen müssen. Was die Natur dieser Vermehrung anlangt, so ist es zwar
nicht durch die Statistik ziffermäßig bewiesen, aber doch unleugbar, daß die
untersten Schichten der Gesellschaft daran den hervorragenden Anteil haben. Je
mehr dies der Fall ist, desto weniger haben die sogenannten arbeitenden Klassen
eine irgendwie begründete Aussicht, ihre Lage durch ein Überwiegen der Nach¬
frage nach Arbeit über das Angebot zu erzielen. Vielleicht könnte man ein¬
wenden, daß die intensiv soviel erhöhte Arbeitsthätigkeit unsrer Zeit steigernd
ans die Nachfrage wirken müsse, und allerdings kann nicht geleugnet werden, daß
die Ansprüche, welche die moderne Industrie an die Arbeit macht, nicht nur ab¬
solut, sondern auch relativ weit größer sind als in vergangenen Perioden. Allein
dieses Mehr wird jedenfalls ausgeglichen' durch die intensiv höhere Leistung
der vollkommneren Maschinen und die dadurch verursachte größere Wirkung der
menschlichen Arbeit/")

Ich habe darauf hingewiesen, daß die tiefsten Schichten der Gesellschaft
einen größern Anteil an dem Wachstum der Vvlkszcihl haben. Nähere Be¬
obachtung zeigt aber, daß das verschiedene Verhalten wahrscheinlich ganz aus¬
geglichen wird, durch das fortwährende Aufsteigen von Untenstehenden in die
Stufen der Höherstehenden. Die immer zunehmende Verbreitung und Zugänglich¬
keit der Schulen und Bildungsanstalten, verbunden mit der zunehmenden Ge¬
wohnheit, Ersparnisse anzusammeln, haben in sehr ausgedehntem Maße die Wir¬
kung -- und dies ist gewiß an und für sich ein sehr erfreuliches Zeichen unsrer
Zustände --, jeder höheren Schicht fortwährend neue Elemente von untenher
zuzuführen. Auf diesem Wege wird das Arbeitsangebot in den höheren Stufen
vermehrt. Es darf nicht übersehen werden, daß bei diesem Aufsteigen die Neu¬
ankommenden im Vorteil gegen diejenigen sind, welche der höhern Stufe durch
Geburt und Erziehung angehören. Denn sie bringen die geringern Bedürfnisse
der tiefern Schichten mit in die höheren und können daher mit den üblichen
Lohnsätzen der letztern besser auskommen, ja sich eine Herabsetzung derselben ohne
Nachteil gefallen lassen. Ein gewöhnlicher Arbeiter, der zum Werkmeister auf¬
steigt, kann, solange er die frühern Lebensgewohnheiten nicht ablegt, mit'einem
geringern Lohn auskommen als ein solcher, dessen Eltern schon eine dem Werk¬
meister gleichwertige Stellung eingenommen haben. Ein Landrichter, der aus
kleinbürgerlichen Kreisen hervorgegangen ist, wird mit einem Gehalte behaglich aus¬
kommen, der für seinen Kollegen aus höherer Stufe, mit verwickelteren und
verfeinerten Bedürfnissen, sich als unzureichend erweist, und dergleichen.



Solch höhere Leistung der Arbeiter bei verbesserten Maschinen (und erhöhtem Lohn)
konstatirt Philippi in den Preußischen Jahrbüchern, Bd. 54, S. 413.
Zur Revision manchesterlicher Lehren.

Die regelmäßige Zunahme der Bevölkerung wird in allen zivilisirten Staaten
beobachtet und dürfte demnach wohl ein Zeichen, sei es Ursache oder Wirkung,
der Kulturentwicklung sein. Jedenfalls ist es eine Thatsache, mit welcher wir
rechnen müssen. Was die Natur dieser Vermehrung anlangt, so ist es zwar
nicht durch die Statistik ziffermäßig bewiesen, aber doch unleugbar, daß die
untersten Schichten der Gesellschaft daran den hervorragenden Anteil haben. Je
mehr dies der Fall ist, desto weniger haben die sogenannten arbeitenden Klassen
eine irgendwie begründete Aussicht, ihre Lage durch ein Überwiegen der Nach¬
frage nach Arbeit über das Angebot zu erzielen. Vielleicht könnte man ein¬
wenden, daß die intensiv soviel erhöhte Arbeitsthätigkeit unsrer Zeit steigernd
ans die Nachfrage wirken müsse, und allerdings kann nicht geleugnet werden, daß
die Ansprüche, welche die moderne Industrie an die Arbeit macht, nicht nur ab¬
solut, sondern auch relativ weit größer sind als in vergangenen Perioden. Allein
dieses Mehr wird jedenfalls ausgeglichen' durch die intensiv höhere Leistung
der vollkommneren Maschinen und die dadurch verursachte größere Wirkung der
menschlichen Arbeit/")

Ich habe darauf hingewiesen, daß die tiefsten Schichten der Gesellschaft
einen größern Anteil an dem Wachstum der Vvlkszcihl haben. Nähere Be¬
obachtung zeigt aber, daß das verschiedene Verhalten wahrscheinlich ganz aus¬
geglichen wird, durch das fortwährende Aufsteigen von Untenstehenden in die
Stufen der Höherstehenden. Die immer zunehmende Verbreitung und Zugänglich¬
keit der Schulen und Bildungsanstalten, verbunden mit der zunehmenden Ge¬
wohnheit, Ersparnisse anzusammeln, haben in sehr ausgedehntem Maße die Wir¬
kung — und dies ist gewiß an und für sich ein sehr erfreuliches Zeichen unsrer
Zustände —, jeder höheren Schicht fortwährend neue Elemente von untenher
zuzuführen. Auf diesem Wege wird das Arbeitsangebot in den höheren Stufen
vermehrt. Es darf nicht übersehen werden, daß bei diesem Aufsteigen die Neu¬
ankommenden im Vorteil gegen diejenigen sind, welche der höhern Stufe durch
Geburt und Erziehung angehören. Denn sie bringen die geringern Bedürfnisse
der tiefern Schichten mit in die höheren und können daher mit den üblichen
Lohnsätzen der letztern besser auskommen, ja sich eine Herabsetzung derselben ohne
Nachteil gefallen lassen. Ein gewöhnlicher Arbeiter, der zum Werkmeister auf¬
steigt, kann, solange er die frühern Lebensgewohnheiten nicht ablegt, mit'einem
geringern Lohn auskommen als ein solcher, dessen Eltern schon eine dem Werk¬
meister gleichwertige Stellung eingenommen haben. Ein Landrichter, der aus
kleinbürgerlichen Kreisen hervorgegangen ist, wird mit einem Gehalte behaglich aus¬
kommen, der für seinen Kollegen aus höherer Stufe, mit verwickelteren und
verfeinerten Bedürfnissen, sich als unzureichend erweist, und dergleichen.



Solch höhere Leistung der Arbeiter bei verbesserten Maschinen (und erhöhtem Lohn)
konstatirt Philippi in den Preußischen Jahrbüchern, Bd. 54, S. 413.
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[0516] Zur Revision manchesterlicher Lehren. Die regelmäßige Zunahme der Bevölkerung wird in allen zivilisirten Staaten beobachtet und dürfte demnach wohl ein Zeichen, sei es Ursache oder Wirkung, der Kulturentwicklung sein. Jedenfalls ist es eine Thatsache, mit welcher wir rechnen müssen. Was die Natur dieser Vermehrung anlangt, so ist es zwar nicht durch die Statistik ziffermäßig bewiesen, aber doch unleugbar, daß die untersten Schichten der Gesellschaft daran den hervorragenden Anteil haben. Je mehr dies der Fall ist, desto weniger haben die sogenannten arbeitenden Klassen eine irgendwie begründete Aussicht, ihre Lage durch ein Überwiegen der Nach¬ frage nach Arbeit über das Angebot zu erzielen. Vielleicht könnte man ein¬ wenden, daß die intensiv soviel erhöhte Arbeitsthätigkeit unsrer Zeit steigernd ans die Nachfrage wirken müsse, und allerdings kann nicht geleugnet werden, daß die Ansprüche, welche die moderne Industrie an die Arbeit macht, nicht nur ab¬ solut, sondern auch relativ weit größer sind als in vergangenen Perioden. Allein dieses Mehr wird jedenfalls ausgeglichen' durch die intensiv höhere Leistung der vollkommneren Maschinen und die dadurch verursachte größere Wirkung der menschlichen Arbeit/") Ich habe darauf hingewiesen, daß die tiefsten Schichten der Gesellschaft einen größern Anteil an dem Wachstum der Vvlkszcihl haben. Nähere Be¬ obachtung zeigt aber, daß das verschiedene Verhalten wahrscheinlich ganz aus¬ geglichen wird, durch das fortwährende Aufsteigen von Untenstehenden in die Stufen der Höherstehenden. Die immer zunehmende Verbreitung und Zugänglich¬ keit der Schulen und Bildungsanstalten, verbunden mit der zunehmenden Ge¬ wohnheit, Ersparnisse anzusammeln, haben in sehr ausgedehntem Maße die Wir¬ kung — und dies ist gewiß an und für sich ein sehr erfreuliches Zeichen unsrer Zustände —, jeder höheren Schicht fortwährend neue Elemente von untenher zuzuführen. Auf diesem Wege wird das Arbeitsangebot in den höheren Stufen vermehrt. Es darf nicht übersehen werden, daß bei diesem Aufsteigen die Neu¬ ankommenden im Vorteil gegen diejenigen sind, welche der höhern Stufe durch Geburt und Erziehung angehören. Denn sie bringen die geringern Bedürfnisse der tiefern Schichten mit in die höheren und können daher mit den üblichen Lohnsätzen der letztern besser auskommen, ja sich eine Herabsetzung derselben ohne Nachteil gefallen lassen. Ein gewöhnlicher Arbeiter, der zum Werkmeister auf¬ steigt, kann, solange er die frühern Lebensgewohnheiten nicht ablegt, mit'einem geringern Lohn auskommen als ein solcher, dessen Eltern schon eine dem Werk¬ meister gleichwertige Stellung eingenommen haben. Ein Landrichter, der aus kleinbürgerlichen Kreisen hervorgegangen ist, wird mit einem Gehalte behaglich aus¬ kommen, der für seinen Kollegen aus höherer Stufe, mit verwickelteren und verfeinerten Bedürfnissen, sich als unzureichend erweist, und dergleichen. Solch höhere Leistung der Arbeiter bei verbesserten Maschinen (und erhöhtem Lohn) konstatirt Philippi in den Preußischen Jahrbüchern, Bd. 54, S. 413.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/516>, abgerufen am 21.05.2024.