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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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genannten ewigen Gedächtnis dafür, daß die, welche die streitigen Vorgänge mit¬
erlebt haben, noch vor ihrem Abscheiden darlegen, wie sich ihnen diese Vorgänge
eingeprägt haben und wie sie dieselben erklären zu können meinen. So mag
es denn auch seinen Wert für die künftige Geschichtschreibung haben, wenn immer
wieder ein Alter nach dem andern auftritt und berichtet, was er Anno 1848
wahrgenommen hat und worin er die Gründe von den wunderbaren Dingen,
die damals geschahen, gefunden zu haben glaubt. Müssen doch sonst manche
dieser Dinge der jetzigen und den späteren Generationen, die mit andern An¬
schauungen und unter ganz andern Verhältnissen aufgewachsen sind, schier un¬
verständlich sein, und es gilt daher, ihnen rechtzeitig die Brücken für ihr Ver¬
ständnis zu bauen. Und so mögen auch die nachfolgenden Darlegungen eines
Alten freundliche Beachtung finden.

Was mit den jetzigen Anschauungen und der herrschenden Denkweise glück¬
licherweise aufs schärfste im Widerspruche steht, das ist die unbestreitbare That¬
sache, daß die ganze Umwälzung von 1848 zunächst durch einen Vorgang her¬
vorgerufen wurde, welcher allein die innere Politik Frankreichs betraf. Wie
konnte es geschehen, fragt man verwundert, daß aus dem Streite, ob dort der
Zensus für die Wahl zur zweiten Kammer durch "Reform" heruntergesetzt
werden solle oder nicht, ein Brand entstehen konnte, der halb Enropa und zumal
unser bis dahin friedliches Deutschland in Flammen setzen konnte, und wie war
es überhaupt möglich, daß sich in so unglaublich kurzer Zeit aus ruhigen und
wohlgeordneten Verhältnissen ein so wirrer revolutionärer Zustand entwickeln
konnte, wie er vom März bis spät in den Herbst hinein in Deutschland
herrschte?

Was Frankreich betrifft, so ist es, ja bekannt, wie der Ruf nach Reform
des Wahlgesetzes zunächst nur ein Mittel in der Hand der parlamentarischen
Opposition gewesen war, um der herrschenden Partei Verlegenheiten zu bereiten,
wie sie durch die Reform-Bankette die Massen in den parlamentarischen Kampf
verwickelte, und wie daraus die Emeute wurde, als die Negierung die Bankette
verbot und es doch unterließ, alle Kraft und alle Energie daran zu setzen, um
ihrem Verbot Geltung zu verschaffen. Als der König vor der Emeute zurück¬
wich und erst sein Ministerium wechselte, daun zu gunsten seines Enkels ab¬
dankte, ward sie schnell zur Revolution, und die Republik war fertig, allen un¬
erwartet und vielen unerwünscht, ehe der Tag geendigt hatte.

Daß dieser lokale Wirbelwind zum Sturm ward, der mit rasender Gewalt
durch die Länder fegte und vieles niederriß, was morsch geworden war, aber
auch gar manches kräftige Leben brach, wurde nur dadurch möglich, daß Frank¬
reich damals eine ganz andre Macht über die Geister übte als jetzt. Jeder,
der Zeitungen las, folgte den französischen Kammerverhandlungen mit dem leb"
haftesteu Interesse; sie und die englischen Parlamentsverhandlungen hatten uns
lange Zeit dafür entschädigen müssen, daß es in Deutschland keine parlamen-


Aus dem Jahre ^3^3.

genannten ewigen Gedächtnis dafür, daß die, welche die streitigen Vorgänge mit¬
erlebt haben, noch vor ihrem Abscheiden darlegen, wie sich ihnen diese Vorgänge
eingeprägt haben und wie sie dieselben erklären zu können meinen. So mag
es denn auch seinen Wert für die künftige Geschichtschreibung haben, wenn immer
wieder ein Alter nach dem andern auftritt und berichtet, was er Anno 1848
wahrgenommen hat und worin er die Gründe von den wunderbaren Dingen,
die damals geschahen, gefunden zu haben glaubt. Müssen doch sonst manche
dieser Dinge der jetzigen und den späteren Generationen, die mit andern An¬
schauungen und unter ganz andern Verhältnissen aufgewachsen sind, schier un¬
verständlich sein, und es gilt daher, ihnen rechtzeitig die Brücken für ihr Ver¬
ständnis zu bauen. Und so mögen auch die nachfolgenden Darlegungen eines
Alten freundliche Beachtung finden.

Was mit den jetzigen Anschauungen und der herrschenden Denkweise glück¬
licherweise aufs schärfste im Widerspruche steht, das ist die unbestreitbare That¬
sache, daß die ganze Umwälzung von 1848 zunächst durch einen Vorgang her¬
vorgerufen wurde, welcher allein die innere Politik Frankreichs betraf. Wie
konnte es geschehen, fragt man verwundert, daß aus dem Streite, ob dort der
Zensus für die Wahl zur zweiten Kammer durch „Reform" heruntergesetzt
werden solle oder nicht, ein Brand entstehen konnte, der halb Enropa und zumal
unser bis dahin friedliches Deutschland in Flammen setzen konnte, und wie war
es überhaupt möglich, daß sich in so unglaublich kurzer Zeit aus ruhigen und
wohlgeordneten Verhältnissen ein so wirrer revolutionärer Zustand entwickeln
konnte, wie er vom März bis spät in den Herbst hinein in Deutschland
herrschte?

Was Frankreich betrifft, so ist es, ja bekannt, wie der Ruf nach Reform
des Wahlgesetzes zunächst nur ein Mittel in der Hand der parlamentarischen
Opposition gewesen war, um der herrschenden Partei Verlegenheiten zu bereiten,
wie sie durch die Reform-Bankette die Massen in den parlamentarischen Kampf
verwickelte, und wie daraus die Emeute wurde, als die Negierung die Bankette
verbot und es doch unterließ, alle Kraft und alle Energie daran zu setzen, um
ihrem Verbot Geltung zu verschaffen. Als der König vor der Emeute zurück¬
wich und erst sein Ministerium wechselte, daun zu gunsten seines Enkels ab¬
dankte, ward sie schnell zur Revolution, und die Republik war fertig, allen un¬
erwartet und vielen unerwünscht, ehe der Tag geendigt hatte.

Daß dieser lokale Wirbelwind zum Sturm ward, der mit rasender Gewalt
durch die Länder fegte und vieles niederriß, was morsch geworden war, aber
auch gar manches kräftige Leben brach, wurde nur dadurch möglich, daß Frank¬
reich damals eine ganz andre Macht über die Geister übte als jetzt. Jeder,
der Zeitungen las, folgte den französischen Kammerverhandlungen mit dem leb»
haftesteu Interesse; sie und die englischen Parlamentsverhandlungen hatten uns
lange Zeit dafür entschädigen müssen, daß es in Deutschland keine parlamen-


Aus dem Jahre ^3^3.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/518>, abgerufen am 21.05.2024.