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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Art, wie er die allerneuesten, von den Franzosen vertretenen Prinzipien eines
die Wirklichkeit streng festhaltenden Naturalismus mit dem sittlichen Adel des
wahrhaften Dichters und nicht bloß Kopisten der Außenwelt verbindet, steht er
wohl einzig da. Als Künstler zeichnet ihn eine merkwürdig objektive Haltung
in der Erzählung ans; nie tritt er selbst hervor, immer spricht er durch das
Bild, den Gang der Handlung, die Entwicklung der Charaktere und Schicksale
aus, was er will. Er ist ferner -- was noch seltener vorkommt -- niemals
abstrakt. Und hat man Ursache gehabt, sein älteres Werk "Krieg und Frieden"
von feiten der Komposition zu tadeln, so zeichnet sich "Anna Karenina" durch
eine vollendete Einheit der Handlung und eine wohlabgewogne, auf die Wirkung
des Kontrastes aufgebaute Erfindung aus. Dabei ist die Darstellung immer
erfüllt, ja übersättigt von malerischem, der Natur abgelauschtem Detail, und es
ist wahrhaft entzückend, was Tolstoi alles in den Bereich seines liebevoll be¬
obachtenden Künstleranges zieht- Und den Menschen Tolstoi kennzeichnet der
ganz schlicht hingestellte und vielleicht einzige abstrakte Satz in dein Werke, der
ans der letzten Seite des Romans erscheint, in einer Stimmung der süß er¬
frischenden Ruhe nach einem stürmisch ausgetobten Gewitter: "Die einzige Offen¬
barung des Göttlichen ist das Gesetz des Guten," Zabel spricht in dem Vor¬
worte zu dem Romane von einem Hang zum Mystizismus in Tolstoi, einem
Hang, dem jedes in der Empfindung reiche Gemüt früher oder später ein Opfer
bringt, und dem auch Turgenjew in seinen phantastischen Erzählungen seinen
Tribut zahlt. Indes ist Tolstoi niemals freier von Mystik als in dem von
der größten Klarheit getragenen und von allen Vorurteilen seiner Kirche und
Nation freien Roman "Anna Karenina." Hier erscheint er als echter Tragiker,
der den schweren Ernst des Sittengesetzes mit dem tiefsten Gefühl für die Ge¬
walt der Leidenschaft in einer Empfindung zugleich im Busen trägt. Wohl
geht ein Nousseauscher Zug durch sein Werk: der ironisch und satirisch geschil¬
derten Gesellschaft der Großstädte Moskau und Petersburg steht das mit Be¬
hagen und Begeisterung gezeichnete Leben auf dem Lande, dein sittenlosen, egoi¬
stischen Junggesellenleben das mit unendlicher Liebe und mit der Vertiefung
derselben geschilderte Familienleben gegenüber. Aber Tolstoi ist auch ebenso
weit entferut, mit Rousseau die Rückkehr zur Natur durch Verachtung aller
Zivilisation erkaufen zu wollen. Sein Held, der die Liebe zum Landleben ver¬
tritt und nnr in der landwirtschaftlichen Thätigkeit die wahre Arbeit erkennt,
Macht sich alle Erfindungen der modernen Technik zu nutze, und sein größter
Jammer ist, daß seine Arbeiter, die Bauern, darauf nicht eingehen wollen,
sondern im alten Schlendrian träge verharren. Auf dem Lande und seiner der
Zerstreuung fernen Einsamkeit ergiebt er sich tiefen philosophischen Studien.
Nur die Prvtektiouswirtschaft der russischem Beamtenhierarchie haßt Tolstoi und
behandelt sie demgemäß mit feiner Ironie. Auch sonst ist er nichts weniger als
um Doktrinär; in derselben Leidenschaft, welche zu tragischen Ende eines



Art, wie er die allerneuesten, von den Franzosen vertretenen Prinzipien eines
die Wirklichkeit streng festhaltenden Naturalismus mit dem sittlichen Adel des
wahrhaften Dichters und nicht bloß Kopisten der Außenwelt verbindet, steht er
wohl einzig da. Als Künstler zeichnet ihn eine merkwürdig objektive Haltung
in der Erzählung ans; nie tritt er selbst hervor, immer spricht er durch das
Bild, den Gang der Handlung, die Entwicklung der Charaktere und Schicksale
aus, was er will. Er ist ferner — was noch seltener vorkommt — niemals
abstrakt. Und hat man Ursache gehabt, sein älteres Werk „Krieg und Frieden"
von feiten der Komposition zu tadeln, so zeichnet sich „Anna Karenina" durch
eine vollendete Einheit der Handlung und eine wohlabgewogne, auf die Wirkung
des Kontrastes aufgebaute Erfindung aus. Dabei ist die Darstellung immer
erfüllt, ja übersättigt von malerischem, der Natur abgelauschtem Detail, und es
ist wahrhaft entzückend, was Tolstoi alles in den Bereich seines liebevoll be¬
obachtenden Künstleranges zieht- Und den Menschen Tolstoi kennzeichnet der
ganz schlicht hingestellte und vielleicht einzige abstrakte Satz in dein Werke, der
ans der letzten Seite des Romans erscheint, in einer Stimmung der süß er¬
frischenden Ruhe nach einem stürmisch ausgetobten Gewitter: „Die einzige Offen¬
barung des Göttlichen ist das Gesetz des Guten," Zabel spricht in dem Vor¬
worte zu dem Romane von einem Hang zum Mystizismus in Tolstoi, einem
Hang, dem jedes in der Empfindung reiche Gemüt früher oder später ein Opfer
bringt, und dem auch Turgenjew in seinen phantastischen Erzählungen seinen
Tribut zahlt. Indes ist Tolstoi niemals freier von Mystik als in dem von
der größten Klarheit getragenen und von allen Vorurteilen seiner Kirche und
Nation freien Roman „Anna Karenina." Hier erscheint er als echter Tragiker,
der den schweren Ernst des Sittengesetzes mit dem tiefsten Gefühl für die Ge¬
walt der Leidenschaft in einer Empfindung zugleich im Busen trägt. Wohl
geht ein Nousseauscher Zug durch sein Werk: der ironisch und satirisch geschil¬
derten Gesellschaft der Großstädte Moskau und Petersburg steht das mit Be¬
hagen und Begeisterung gezeichnete Leben auf dem Lande, dein sittenlosen, egoi¬
stischen Junggesellenleben das mit unendlicher Liebe und mit der Vertiefung
derselben geschilderte Familienleben gegenüber. Aber Tolstoi ist auch ebenso
weit entferut, mit Rousseau die Rückkehr zur Natur durch Verachtung aller
Zivilisation erkaufen zu wollen. Sein Held, der die Liebe zum Landleben ver¬
tritt und nnr in der landwirtschaftlichen Thätigkeit die wahre Arbeit erkennt,
Macht sich alle Erfindungen der modernen Technik zu nutze, und sein größter
Jammer ist, daß seine Arbeiter, die Bauern, darauf nicht eingehen wollen,
sondern im alten Schlendrian träge verharren. Auf dem Lande und seiner der
Zerstreuung fernen Einsamkeit ergiebt er sich tiefen philosophischen Studien.
Nur die Prvtektiouswirtschaft der russischem Beamtenhierarchie haßt Tolstoi und
behandelt sie demgemäß mit feiner Ironie. Auch sonst ist er nichts weniger als
um Doktrinär; in derselben Leidenschaft, welche zu tragischen Ende eines


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/583>, abgerufen am 21.05.2024.