Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Anna ttaremna.

Knabe" Serescha. Um diesen seinen Besitz dreht sich der Streit zwischen den
beiden Gatten: im Sohne sieht die ehebrecherische Frau ihren zukünftigen Richter,
ihn selbst auferziehen heißt das Urteil Gottes mildern oder doch beeinflussen.
So wenig aber Karmin auch sein Kind liebt -- er liebt eben nichts als seine
politische Karriere --, so wenig mag er es der Mutter überlassen, wobei ihn noch
zum Unglück das Gesetz unterstützt. Das illegitime Zusammenleben mit Wronsky
gedeiht indes der Karcnina auch nicht zum Heile, und es ist die Kunst des
Dichters gerade in diesen Teilen seiner Erzählung nicht genug zu bewundern.
Aus der innersten Natur des Weibes und des vorliegenden Verhältnisses scheint
sich die Katastrophe ganz notwendig zu entwickeln. Denn Anna ergreift in dem
Gefühle, Wronsky durch kein stärkeres Band als ihre jugendliche Schönheit und
die freie Liebe an sich geknüpft zu sehen, zu deu seltsamsten und oft bedenklichsten
Mitteln, ihn festzuhalten, sich ihre Schönheit zu bewahren, durch diese ihn immer
neu zu bezaubern. Da ihr eignes Gewissen sie foltert, wächst der Liebhaber selbst
ihr in ihrer Überreiztheit zum Richter ihres Thuns heraus, indes er nnr seiner
Mannesnatur treu bleibt, sie aufrichtig liebt, sich aber immerhin von ihren an¬
stachelnden Hilfsmitteln zeitweise verletzt fühlt. Eine wahnsinnige Eifersucht
beherrscht die Unglückliche, ein grenzenloses Mißtrauen in alle seine Handlungen,
in seine Treue führt die peinlichsten Szenen herbei, bis Anna durch einen
Selbstmord ihrem qualvollen Dasein ein gräßliches und doch erlösendes Ende
bereitet. Wie Tolstoi diese Vorgänge darstellt, ist es wohl eine der er¬
schütterndsten Tragödien, die je geschrieben worden! Und wie weit ist er hier
ebenso von Sentimentalität wie von Frivolität entfernt! Wronsky. der zusehends
sittlicher und edler in der Liebe zu Anna geworden, weiß nun seinem ruinirten
Leben kein andres Ziel zu geben, als die Teilnahme am Freiheitskämpfe der "sla¬
vischen Brüder," der Serben gegen die Türken. Dort will er den Tod suchen.

Die dritte Gruppe bildet das liebenswürdige und in seiner Liebe glückliche
Paar Lewin und Kiels, das erst nach manchen aufregenden Zwischenfällen sich
vereinigt. Denn, wie oben erwähnt, hatte ursprünglich das unerfahrene Mädchen,
unklar über seine eignen Gefühle, Lewins Heiratsantrag in Gedanken an
Wronsky ausgeschlagen. Und als sie dieser verließ, da verfiel das schöne Kind
in einen besorgniserregenden Zustand, der zu einer Reise in ein deutsches Bad
Anlaß gab. Hier erst, im Verkehre mit einer mannichfaltigeren Welt, reift das
Kind zum Selbstbewußtsein heran und wird sich klar, daß es den absonderlichen
Lewin eigentlich schon geliebt habe, als es ihm einen Korb gab. Absonderlich
ist Lewiu, weil er das heuchlerische, unsittliche und thatenlose Dasein der gro߬
städtischen Gesellschaft haßt und, ein Naturschwärmer, das Leben des Land¬
wirtes jedem andern vorzieht. Mit der Naivität keuscher und gerader Cha¬
raktere benimmt er sich in den Salons der Aristokratie, und es bedürfte erst
jener Läuterung, um dem von äußerem Schein leichtgcblcndeten Mädchen das
Verständnis für seine Ideale zu eröffnen. Dieses glückliche Ehepaar, bei dem


Anna ttaremna.

Knabe» Serescha. Um diesen seinen Besitz dreht sich der Streit zwischen den
beiden Gatten: im Sohne sieht die ehebrecherische Frau ihren zukünftigen Richter,
ihn selbst auferziehen heißt das Urteil Gottes mildern oder doch beeinflussen.
So wenig aber Karmin auch sein Kind liebt — er liebt eben nichts als seine
politische Karriere —, so wenig mag er es der Mutter überlassen, wobei ihn noch
zum Unglück das Gesetz unterstützt. Das illegitime Zusammenleben mit Wronsky
gedeiht indes der Karcnina auch nicht zum Heile, und es ist die Kunst des
Dichters gerade in diesen Teilen seiner Erzählung nicht genug zu bewundern.
Aus der innersten Natur des Weibes und des vorliegenden Verhältnisses scheint
sich die Katastrophe ganz notwendig zu entwickeln. Denn Anna ergreift in dem
Gefühle, Wronsky durch kein stärkeres Band als ihre jugendliche Schönheit und
die freie Liebe an sich geknüpft zu sehen, zu deu seltsamsten und oft bedenklichsten
Mitteln, ihn festzuhalten, sich ihre Schönheit zu bewahren, durch diese ihn immer
neu zu bezaubern. Da ihr eignes Gewissen sie foltert, wächst der Liebhaber selbst
ihr in ihrer Überreiztheit zum Richter ihres Thuns heraus, indes er nnr seiner
Mannesnatur treu bleibt, sie aufrichtig liebt, sich aber immerhin von ihren an¬
stachelnden Hilfsmitteln zeitweise verletzt fühlt. Eine wahnsinnige Eifersucht
beherrscht die Unglückliche, ein grenzenloses Mißtrauen in alle seine Handlungen,
in seine Treue führt die peinlichsten Szenen herbei, bis Anna durch einen
Selbstmord ihrem qualvollen Dasein ein gräßliches und doch erlösendes Ende
bereitet. Wie Tolstoi diese Vorgänge darstellt, ist es wohl eine der er¬
schütterndsten Tragödien, die je geschrieben worden! Und wie weit ist er hier
ebenso von Sentimentalität wie von Frivolität entfernt! Wronsky. der zusehends
sittlicher und edler in der Liebe zu Anna geworden, weiß nun seinem ruinirten
Leben kein andres Ziel zu geben, als die Teilnahme am Freiheitskämpfe der „sla¬
vischen Brüder," der Serben gegen die Türken. Dort will er den Tod suchen.

Die dritte Gruppe bildet das liebenswürdige und in seiner Liebe glückliche
Paar Lewin und Kiels, das erst nach manchen aufregenden Zwischenfällen sich
vereinigt. Denn, wie oben erwähnt, hatte ursprünglich das unerfahrene Mädchen,
unklar über seine eignen Gefühle, Lewins Heiratsantrag in Gedanken an
Wronsky ausgeschlagen. Und als sie dieser verließ, da verfiel das schöne Kind
in einen besorgniserregenden Zustand, der zu einer Reise in ein deutsches Bad
Anlaß gab. Hier erst, im Verkehre mit einer mannichfaltigeren Welt, reift das
Kind zum Selbstbewußtsein heran und wird sich klar, daß es den absonderlichen
Lewin eigentlich schon geliebt habe, als es ihm einen Korb gab. Absonderlich
ist Lewiu, weil er das heuchlerische, unsittliche und thatenlose Dasein der gro߬
städtischen Gesellschaft haßt und, ein Naturschwärmer, das Leben des Land¬
wirtes jedem andern vorzieht. Mit der Naivität keuscher und gerader Cha¬
raktere benimmt er sich in den Salons der Aristokratie, und es bedürfte erst
jener Läuterung, um dem von äußerem Schein leichtgcblcndeten Mädchen das
Verständnis für seine Ideale zu eröffnen. Dieses glückliche Ehepaar, bei dem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0586" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195262"/>
          <fw type="header" place="top"> Anna ttaremna.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2160" prev="#ID_2159"> Knabe» Serescha. Um diesen seinen Besitz dreht sich der Streit zwischen den<lb/>
beiden Gatten: im Sohne sieht die ehebrecherische Frau ihren zukünftigen Richter,<lb/>
ihn selbst auferziehen heißt das Urteil Gottes mildern oder doch beeinflussen.<lb/>
So wenig aber Karmin auch sein Kind liebt &#x2014; er liebt eben nichts als seine<lb/>
politische Karriere &#x2014;, so wenig mag er es der Mutter überlassen, wobei ihn noch<lb/>
zum Unglück das Gesetz unterstützt. Das illegitime Zusammenleben mit Wronsky<lb/>
gedeiht indes der Karcnina auch nicht zum Heile, und es ist die Kunst des<lb/>
Dichters gerade in diesen Teilen seiner Erzählung nicht genug zu bewundern.<lb/>
Aus der innersten Natur des Weibes und des vorliegenden Verhältnisses scheint<lb/>
sich die Katastrophe ganz notwendig zu entwickeln. Denn Anna ergreift in dem<lb/>
Gefühle, Wronsky durch kein stärkeres Band als ihre jugendliche Schönheit und<lb/>
die freie Liebe an sich geknüpft zu sehen, zu deu seltsamsten und oft bedenklichsten<lb/>
Mitteln, ihn festzuhalten, sich ihre Schönheit zu bewahren, durch diese ihn immer<lb/>
neu zu bezaubern. Da ihr eignes Gewissen sie foltert, wächst der Liebhaber selbst<lb/>
ihr in ihrer Überreiztheit zum Richter ihres Thuns heraus, indes er nnr seiner<lb/>
Mannesnatur treu bleibt, sie aufrichtig liebt, sich aber immerhin von ihren an¬<lb/>
stachelnden Hilfsmitteln zeitweise verletzt fühlt. Eine wahnsinnige Eifersucht<lb/>
beherrscht die Unglückliche, ein grenzenloses Mißtrauen in alle seine Handlungen,<lb/>
in seine Treue führt die peinlichsten Szenen herbei, bis Anna durch einen<lb/>
Selbstmord ihrem qualvollen Dasein ein gräßliches und doch erlösendes Ende<lb/>
bereitet. Wie Tolstoi diese Vorgänge darstellt, ist es wohl eine der er¬<lb/>
schütterndsten Tragödien, die je geschrieben worden! Und wie weit ist er hier<lb/>
ebenso von Sentimentalität wie von Frivolität entfernt! Wronsky. der zusehends<lb/>
sittlicher und edler in der Liebe zu Anna geworden, weiß nun seinem ruinirten<lb/>
Leben kein andres Ziel zu geben, als die Teilnahme am Freiheitskämpfe der &#x201E;sla¬<lb/>
vischen Brüder," der Serben gegen die Türken. Dort will er den Tod suchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2161" next="#ID_2162"> Die dritte Gruppe bildet das liebenswürdige und in seiner Liebe glückliche<lb/>
Paar Lewin und Kiels, das erst nach manchen aufregenden Zwischenfällen sich<lb/>
vereinigt. Denn, wie oben erwähnt, hatte ursprünglich das unerfahrene Mädchen,<lb/>
unklar über seine eignen Gefühle, Lewins Heiratsantrag in Gedanken an<lb/>
Wronsky ausgeschlagen. Und als sie dieser verließ, da verfiel das schöne Kind<lb/>
in einen besorgniserregenden Zustand, der zu einer Reise in ein deutsches Bad<lb/>
Anlaß gab. Hier erst, im Verkehre mit einer mannichfaltigeren Welt, reift das<lb/>
Kind zum Selbstbewußtsein heran und wird sich klar, daß es den absonderlichen<lb/>
Lewin eigentlich schon geliebt habe, als es ihm einen Korb gab. Absonderlich<lb/>
ist Lewiu, weil er das heuchlerische, unsittliche und thatenlose Dasein der gro߬<lb/>
städtischen Gesellschaft haßt und, ein Naturschwärmer, das Leben des Land¬<lb/>
wirtes jedem andern vorzieht. Mit der Naivität keuscher und gerader Cha¬<lb/>
raktere benimmt er sich in den Salons der Aristokratie, und es bedürfte erst<lb/>
jener Läuterung, um dem von äußerem Schein leichtgcblcndeten Mädchen das<lb/>
Verständnis für seine Ideale zu eröffnen. Dieses glückliche Ehepaar, bei dem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0586] Anna ttaremna. Knabe» Serescha. Um diesen seinen Besitz dreht sich der Streit zwischen den beiden Gatten: im Sohne sieht die ehebrecherische Frau ihren zukünftigen Richter, ihn selbst auferziehen heißt das Urteil Gottes mildern oder doch beeinflussen. So wenig aber Karmin auch sein Kind liebt — er liebt eben nichts als seine politische Karriere —, so wenig mag er es der Mutter überlassen, wobei ihn noch zum Unglück das Gesetz unterstützt. Das illegitime Zusammenleben mit Wronsky gedeiht indes der Karcnina auch nicht zum Heile, und es ist die Kunst des Dichters gerade in diesen Teilen seiner Erzählung nicht genug zu bewundern. Aus der innersten Natur des Weibes und des vorliegenden Verhältnisses scheint sich die Katastrophe ganz notwendig zu entwickeln. Denn Anna ergreift in dem Gefühle, Wronsky durch kein stärkeres Band als ihre jugendliche Schönheit und die freie Liebe an sich geknüpft zu sehen, zu deu seltsamsten und oft bedenklichsten Mitteln, ihn festzuhalten, sich ihre Schönheit zu bewahren, durch diese ihn immer neu zu bezaubern. Da ihr eignes Gewissen sie foltert, wächst der Liebhaber selbst ihr in ihrer Überreiztheit zum Richter ihres Thuns heraus, indes er nnr seiner Mannesnatur treu bleibt, sie aufrichtig liebt, sich aber immerhin von ihren an¬ stachelnden Hilfsmitteln zeitweise verletzt fühlt. Eine wahnsinnige Eifersucht beherrscht die Unglückliche, ein grenzenloses Mißtrauen in alle seine Handlungen, in seine Treue führt die peinlichsten Szenen herbei, bis Anna durch einen Selbstmord ihrem qualvollen Dasein ein gräßliches und doch erlösendes Ende bereitet. Wie Tolstoi diese Vorgänge darstellt, ist es wohl eine der er¬ schütterndsten Tragödien, die je geschrieben worden! Und wie weit ist er hier ebenso von Sentimentalität wie von Frivolität entfernt! Wronsky. der zusehends sittlicher und edler in der Liebe zu Anna geworden, weiß nun seinem ruinirten Leben kein andres Ziel zu geben, als die Teilnahme am Freiheitskämpfe der „sla¬ vischen Brüder," der Serben gegen die Türken. Dort will er den Tod suchen. Die dritte Gruppe bildet das liebenswürdige und in seiner Liebe glückliche Paar Lewin und Kiels, das erst nach manchen aufregenden Zwischenfällen sich vereinigt. Denn, wie oben erwähnt, hatte ursprünglich das unerfahrene Mädchen, unklar über seine eignen Gefühle, Lewins Heiratsantrag in Gedanken an Wronsky ausgeschlagen. Und als sie dieser verließ, da verfiel das schöne Kind in einen besorgniserregenden Zustand, der zu einer Reise in ein deutsches Bad Anlaß gab. Hier erst, im Verkehre mit einer mannichfaltigeren Welt, reift das Kind zum Selbstbewußtsein heran und wird sich klar, daß es den absonderlichen Lewin eigentlich schon geliebt habe, als es ihm einen Korb gab. Absonderlich ist Lewiu, weil er das heuchlerische, unsittliche und thatenlose Dasein der gro߬ städtischen Gesellschaft haßt und, ein Naturschwärmer, das Leben des Land¬ wirtes jedem andern vorzieht. Mit der Naivität keuscher und gerader Cha¬ raktere benimmt er sich in den Salons der Aristokratie, und es bedürfte erst jener Läuterung, um dem von äußerem Schein leichtgcblcndeten Mädchen das Verständnis für seine Ideale zu eröffnen. Dieses glückliche Ehepaar, bei dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/586
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/586>, abgerufen am 22.05.2024.