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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Der Weg nach Indien.

Sendung des britische" Geschwaders nach der Besicabai und der drohenden Hal¬
tung Englands bei dem Friedensschlüsse von San Stefano,

Und dies geschah in einer Zeit, wo Rußland durch die Besetzung Chiwas
der Nordgrenze Britisch-Jndiens bereits so nahe gerückt war, daß die Haltung
des Emirs von Afghanistan für die Sicherung des englischen Besitzstandes ent¬
scheidend wurde. Während Rußland auf jener Etappenstraße unauffällig, abxr
sicher vorwärtsrückte, glaubte Herr Layard die Existenz Indiens durch die Ko-
sakenschwärme bedroht, die sich der türkischen Hauptstadt näherten. Und dieser
Wahn wurde in England so allgemein geteilt, daß ein englisch-russischer Konflikt
fast als unabwendbar galt.

Seit jener Zeit haben wir in der englischen Presse und in den Parla¬
mentsreden von der "Schlüsseltheorie" nichts mehr gehört. Der Landweg nach
Indien führt heute so wenig wie früher über Konstantinopel; der Seeweg dort¬
hin hat selbstverständlich nie diese Richtung eingeschlagen. Thatsächlich hat sich
in der geographischen Lage wie in der politischen Konfiguration des Osmanen-
reiches seit 1L73 nichts geändert. Aber es scheint, daß auch in den Augen
der englischen Diplomaten der Seeweg jetzt definitiv durch das Rote Meer
und der Landweg über Herat führt. Für die andern politischen Kreise Europas
ist dies nichts neues.

Der Umschwung in den englischen Anschanungen ist aber seit einiger Zeit
schon peinlich von der Pforte empfunden worden. Die ägyptischen Wirren
haben ihn beschleunigt. England hat seine Rolle als strenge, aber gewissenhafte
Gouvernante des schwächlichen Sultanats aufgegeben. Die schulmeisterliche Hal¬
tung der britischen Vertreter war von Abdul Medschid und Abdul Asts oft
als lästige Fessel empfunden worden. In Augenblicken der Gefahr aber war
die Schutzmacht immer zur Stelle gewesen; auch hatte sie argwöhnisch jede
Bedrohung ihres Schützlings abzuwenden gesucht.

Wie hat sich das alles seit einigen Jahren verändert! An die Stelle eines
positiven, auf Erhaltung der Türkei gerichteten Bündnisses ist eine laue Haltung
getreten, eine Teilnahmlosigkeit, die leicht in offene Gegnerschaft umschlage"
könnte. Erst Cypern, dann Ägypten, später vielleicht ein Stückchen Kreta oder
doch wenigstens den vorzüglichen Kriegshafen dieser Insel: die Sudahnese.
Man kaun nicht sagen, daß eine solche Politik auf die Erhaltung der Integrität
des Osmanenreichcs gerichtet sei. Dein Bulgarenfrcunde und Philhellenen
Gladstone wie den Pnritanern des Unterhauses wäre wohl auch ein vollständiger
Exodus der Muhamedaner aus Europa nicht unwillkommen. Die Staats-
weisheit dieser Herren ist ja stark mit philanthropischen und religiösen An¬
schauungen versetzt. Bisher aber war doch in den politischen Kreisen Englands
die Ansicht vorherrschend, daß die Türkei ein wichtiges und unentbehrliches
Bollwerk bilde zwischen Europa und dem indischen Kvloninlgebiet. Nun wird
in dem Maße, wie sich diese Ansicht als unhaltbar erweist, auch die englische


Der Weg nach Indien.

Sendung des britische» Geschwaders nach der Besicabai und der drohenden Hal¬
tung Englands bei dem Friedensschlüsse von San Stefano,

Und dies geschah in einer Zeit, wo Rußland durch die Besetzung Chiwas
der Nordgrenze Britisch-Jndiens bereits so nahe gerückt war, daß die Haltung
des Emirs von Afghanistan für die Sicherung des englischen Besitzstandes ent¬
scheidend wurde. Während Rußland auf jener Etappenstraße unauffällig, abxr
sicher vorwärtsrückte, glaubte Herr Layard die Existenz Indiens durch die Ko-
sakenschwärme bedroht, die sich der türkischen Hauptstadt näherten. Und dieser
Wahn wurde in England so allgemein geteilt, daß ein englisch-russischer Konflikt
fast als unabwendbar galt.

Seit jener Zeit haben wir in der englischen Presse und in den Parla¬
mentsreden von der „Schlüsseltheorie" nichts mehr gehört. Der Landweg nach
Indien führt heute so wenig wie früher über Konstantinopel; der Seeweg dort¬
hin hat selbstverständlich nie diese Richtung eingeschlagen. Thatsächlich hat sich
in der geographischen Lage wie in der politischen Konfiguration des Osmanen-
reiches seit 1L73 nichts geändert. Aber es scheint, daß auch in den Augen
der englischen Diplomaten der Seeweg jetzt definitiv durch das Rote Meer
und der Landweg über Herat führt. Für die andern politischen Kreise Europas
ist dies nichts neues.

Der Umschwung in den englischen Anschanungen ist aber seit einiger Zeit
schon peinlich von der Pforte empfunden worden. Die ägyptischen Wirren
haben ihn beschleunigt. England hat seine Rolle als strenge, aber gewissenhafte
Gouvernante des schwächlichen Sultanats aufgegeben. Die schulmeisterliche Hal¬
tung der britischen Vertreter war von Abdul Medschid und Abdul Asts oft
als lästige Fessel empfunden worden. In Augenblicken der Gefahr aber war
die Schutzmacht immer zur Stelle gewesen; auch hatte sie argwöhnisch jede
Bedrohung ihres Schützlings abzuwenden gesucht.

Wie hat sich das alles seit einigen Jahren verändert! An die Stelle eines
positiven, auf Erhaltung der Türkei gerichteten Bündnisses ist eine laue Haltung
getreten, eine Teilnahmlosigkeit, die leicht in offene Gegnerschaft umschlage»
könnte. Erst Cypern, dann Ägypten, später vielleicht ein Stückchen Kreta oder
doch wenigstens den vorzüglichen Kriegshafen dieser Insel: die Sudahnese.
Man kaun nicht sagen, daß eine solche Politik auf die Erhaltung der Integrität
des Osmanenreichcs gerichtet sei. Dein Bulgarenfrcunde und Philhellenen
Gladstone wie den Pnritanern des Unterhauses wäre wohl auch ein vollständiger
Exodus der Muhamedaner aus Europa nicht unwillkommen. Die Staats-
weisheit dieser Herren ist ja stark mit philanthropischen und religiösen An¬
schauungen versetzt. Bisher aber war doch in den politischen Kreisen Englands
die Ansicht vorherrschend, daß die Türkei ein wichtiges und unentbehrliches
Bollwerk bilde zwischen Europa und dem indischen Kvloninlgebiet. Nun wird
in dem Maße, wie sich diese Ansicht als unhaltbar erweist, auch die englische


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[0606] Der Weg nach Indien. Sendung des britische» Geschwaders nach der Besicabai und der drohenden Hal¬ tung Englands bei dem Friedensschlüsse von San Stefano, Und dies geschah in einer Zeit, wo Rußland durch die Besetzung Chiwas der Nordgrenze Britisch-Jndiens bereits so nahe gerückt war, daß die Haltung des Emirs von Afghanistan für die Sicherung des englischen Besitzstandes ent¬ scheidend wurde. Während Rußland auf jener Etappenstraße unauffällig, abxr sicher vorwärtsrückte, glaubte Herr Layard die Existenz Indiens durch die Ko- sakenschwärme bedroht, die sich der türkischen Hauptstadt näherten. Und dieser Wahn wurde in England so allgemein geteilt, daß ein englisch-russischer Konflikt fast als unabwendbar galt. Seit jener Zeit haben wir in der englischen Presse und in den Parla¬ mentsreden von der „Schlüsseltheorie" nichts mehr gehört. Der Landweg nach Indien führt heute so wenig wie früher über Konstantinopel; der Seeweg dort¬ hin hat selbstverständlich nie diese Richtung eingeschlagen. Thatsächlich hat sich in der geographischen Lage wie in der politischen Konfiguration des Osmanen- reiches seit 1L73 nichts geändert. Aber es scheint, daß auch in den Augen der englischen Diplomaten der Seeweg jetzt definitiv durch das Rote Meer und der Landweg über Herat führt. Für die andern politischen Kreise Europas ist dies nichts neues. Der Umschwung in den englischen Anschanungen ist aber seit einiger Zeit schon peinlich von der Pforte empfunden worden. Die ägyptischen Wirren haben ihn beschleunigt. England hat seine Rolle als strenge, aber gewissenhafte Gouvernante des schwächlichen Sultanats aufgegeben. Die schulmeisterliche Hal¬ tung der britischen Vertreter war von Abdul Medschid und Abdul Asts oft als lästige Fessel empfunden worden. In Augenblicken der Gefahr aber war die Schutzmacht immer zur Stelle gewesen; auch hatte sie argwöhnisch jede Bedrohung ihres Schützlings abzuwenden gesucht. Wie hat sich das alles seit einigen Jahren verändert! An die Stelle eines positiven, auf Erhaltung der Türkei gerichteten Bündnisses ist eine laue Haltung getreten, eine Teilnahmlosigkeit, die leicht in offene Gegnerschaft umschlage» könnte. Erst Cypern, dann Ägypten, später vielleicht ein Stückchen Kreta oder doch wenigstens den vorzüglichen Kriegshafen dieser Insel: die Sudahnese. Man kaun nicht sagen, daß eine solche Politik auf die Erhaltung der Integrität des Osmanenreichcs gerichtet sei. Dein Bulgarenfrcunde und Philhellenen Gladstone wie den Pnritanern des Unterhauses wäre wohl auch ein vollständiger Exodus der Muhamedaner aus Europa nicht unwillkommen. Die Staats- weisheit dieser Herren ist ja stark mit philanthropischen und religiösen An¬ schauungen versetzt. Bisher aber war doch in den politischen Kreisen Englands die Ansicht vorherrschend, daß die Türkei ein wichtiges und unentbehrliches Bollwerk bilde zwischen Europa und dem indischen Kvloninlgebiet. Nun wird in dem Maße, wie sich diese Ansicht als unhaltbar erweist, auch die englische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/606>, abgerufen am 22.05.2024.