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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Karl der Fünfte und die deutsche Nation.

überlieferten Einkünften aus seinen Rechten an Grund und Boden nicht mehr
auskam und doch seinen LtMäurä ok Ms nicht unter das Maß der kauf¬
männischen Aristokratie hinabgedrückt sehen wollte, setzte die Schraube da an,
wo er es allein konnte, beim Bauern, und dieser, der auch "an seidnen Kleidern
und goldnen Ketten" Gefallen fand, wollte und konnte gewiß oft auch uicht
mehr Lasten tragen; man lehnte sich ans gegen die Bethätigung einer Ge¬
sinnung, die in dem Worte gipfelte: Der Bauer ist an Ochsen Statt, nur daß
er keine Hörner hat. Auf politischem Gebiete mühten sich Kaiser und Reich
seit Jahrzehnten ub, etwas haltbares zu schaffen, eine staatliche und militärische
Ordnung zu gründen, die den Landfrieden im Innern und den Schutz der
Reichsgrenzen nach außen verbürgen sollte: es war aber nicht gelungen, etwas
andres zustande zu bringen, als Entwürfe ans dem Papier.

Aber alles dies zugegeben: das Ethos der Zeit war doch religiöser Art.
Man lechzte vor allem nach einer Verbesserung der Kirche, weniger ihrer Lehre,
die sich leidlich korrekt erhielt, als ihrer Praxis. Das Gefühl, daß es so uicht
gut stehe, wie die Dinge lagen, war allgemein, und machte sich in den wunder¬
lichsten Formen Luft. Endlos war die Zahl der Prozessionen an allen Orten,
schwunghaft der Handel mit Reliquien, deren Besitz Not und Elend des Leibes
und der Seele bannen sollte: plötzlich konnte die Leute die Sucht anwandeln,
um ihres Seelenheils willen etwa nach Monte Gargano in Apulien zum
heiligen Michael oder nach den Gnadenorten der Normandie sich aufzumachen;
1456 zogen ans Augsburg 76 Arme und 356 "Hcibige," unter ihnen zwölf
Pfaffen, "gegen die Türken." Wie oft ist das Beispiel des Kurfürsten Friedrichs
des Weisen angeführt worden, der unter andern die Bruderschaft der elftausend
Jungfrauen gründen half, deren Genossen "sich gegenseitig in den Himmel
beten" wollten! Alles dies, so sonderbar es ist, bezeugt doch die Thatsache eines
ungestillten Sehnens, eines rastlosen Suchens nach dem Heil. Und nun trat
ein Mann auf, der die verschütteten Quellen dieses Heils ausgrub, der furchtlos
der Kirche den Fehdehandschuh hinwarf, als man ihm verbieten wollte, Kritik
an deren mißbräuchlicher Praxis zu üben; ein Manu, der die Allgewalt der
Hierarchie anfocht, der sich ihr gegenüber auf das Wort Gottes, auf die Lehre
der Apostel, auf das Beispiel der alten Christen berief. Er machte ungeheuern
Eindruck überall, bei Hoch und Niedrig, bei Gelehrten und Umgekehrten, bei Edel¬
mann, Bürger und Bauer: die Nation, das bezeugen selbst die Gegner, war sein.

In dieser Lage wurden die Deutschen in die Notwendigkeit versetzt, sich
nach Maximilians Tode, der im Januar 1519 erfolgte, ein neues Haupt zu
wählen. Es ist bekannt, wie hart bestritten die Wahl war, wie sich König Franz
der Erste von Frankreich um die deutsche Krone bemühte, er, damals von:
frischen Glänze des Sieges von Marignanv umstrahlt, von dem Selbstgefühl
getragen, "daß er alle andern Fürsten in Europa soweit übertraf, als die Sonne
die andern Gestirne überstrahlt." Sein Gegner aber war der junge -- erst


Grenzboten I. 1S8S. M
Karl der Fünfte und die deutsche Nation.

überlieferten Einkünften aus seinen Rechten an Grund und Boden nicht mehr
auskam und doch seinen LtMäurä ok Ms nicht unter das Maß der kauf¬
männischen Aristokratie hinabgedrückt sehen wollte, setzte die Schraube da an,
wo er es allein konnte, beim Bauern, und dieser, der auch „an seidnen Kleidern
und goldnen Ketten" Gefallen fand, wollte und konnte gewiß oft auch uicht
mehr Lasten tragen; man lehnte sich ans gegen die Bethätigung einer Ge¬
sinnung, die in dem Worte gipfelte: Der Bauer ist an Ochsen Statt, nur daß
er keine Hörner hat. Auf politischem Gebiete mühten sich Kaiser und Reich
seit Jahrzehnten ub, etwas haltbares zu schaffen, eine staatliche und militärische
Ordnung zu gründen, die den Landfrieden im Innern und den Schutz der
Reichsgrenzen nach außen verbürgen sollte: es war aber nicht gelungen, etwas
andres zustande zu bringen, als Entwürfe ans dem Papier.

Aber alles dies zugegeben: das Ethos der Zeit war doch religiöser Art.
Man lechzte vor allem nach einer Verbesserung der Kirche, weniger ihrer Lehre,
die sich leidlich korrekt erhielt, als ihrer Praxis. Das Gefühl, daß es so uicht
gut stehe, wie die Dinge lagen, war allgemein, und machte sich in den wunder¬
lichsten Formen Luft. Endlos war die Zahl der Prozessionen an allen Orten,
schwunghaft der Handel mit Reliquien, deren Besitz Not und Elend des Leibes
und der Seele bannen sollte: plötzlich konnte die Leute die Sucht anwandeln,
um ihres Seelenheils willen etwa nach Monte Gargano in Apulien zum
heiligen Michael oder nach den Gnadenorten der Normandie sich aufzumachen;
1456 zogen ans Augsburg 76 Arme und 356 „Hcibige," unter ihnen zwölf
Pfaffen, „gegen die Türken." Wie oft ist das Beispiel des Kurfürsten Friedrichs
des Weisen angeführt worden, der unter andern die Bruderschaft der elftausend
Jungfrauen gründen half, deren Genossen „sich gegenseitig in den Himmel
beten" wollten! Alles dies, so sonderbar es ist, bezeugt doch die Thatsache eines
ungestillten Sehnens, eines rastlosen Suchens nach dem Heil. Und nun trat
ein Mann auf, der die verschütteten Quellen dieses Heils ausgrub, der furchtlos
der Kirche den Fehdehandschuh hinwarf, als man ihm verbieten wollte, Kritik
an deren mißbräuchlicher Praxis zu üben; ein Manu, der die Allgewalt der
Hierarchie anfocht, der sich ihr gegenüber auf das Wort Gottes, auf die Lehre
der Apostel, auf das Beispiel der alten Christen berief. Er machte ungeheuern
Eindruck überall, bei Hoch und Niedrig, bei Gelehrten und Umgekehrten, bei Edel¬
mann, Bürger und Bauer: die Nation, das bezeugen selbst die Gegner, war sein.

In dieser Lage wurden die Deutschen in die Notwendigkeit versetzt, sich
nach Maximilians Tode, der im Januar 1519 erfolgte, ein neues Haupt zu
wählen. Es ist bekannt, wie hart bestritten die Wahl war, wie sich König Franz
der Erste von Frankreich um die deutsche Krone bemühte, er, damals von:
frischen Glänze des Sieges von Marignanv umstrahlt, von dem Selbstgefühl
getragen, „daß er alle andern Fürsten in Europa soweit übertraf, als die Sonne
die andern Gestirne überstrahlt." Sein Gegner aber war der junge — erst


Grenzboten I. 1S8S. M
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/669>, abgerufen am 22.05.2024.