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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Karl Gottlieb Svarez.

"Prinzip" des Prozesses eine übertriebene und unwahre Anwendung erhalten
hatte.

Betrachtet man das Landrecht, sieht man, welch ungeheurer Fleiß, welche
Fülle von geistiger Kraft und praktischem Gerechtigkeitssinne darin bethätigt
sind, so muß man die Männer, welche dieses kolossale Werk schufen, wahrhaft
liebgewinnen. Und dennoch ist dessen Schöpfung kein Glück gewesen, weder
für Preußen, noch für Deutschland. Auch hier lag, trotz allen redlichen Strebens,
ein verhängnisvoller Irrtum zu gründe. Es war der Irrtum, daß man meinte,
eine gute Rechtsprechung schaffen zu können ohne Rechtswissenschaft. Man glaubte,
das gesamte Recht ließe sich dergestalt im Gesetze verkörpern, daß der Richter
letzteres nur noch mechanisch anzuwenden brauche. So wie der Reiter das un¬
vernünftige Tier, das er reitet, bei jeder Wendung, die es machen soll, den
Zaum im Gebiß fühlen läßt, so sollte auch der Richter bei Schritt und Tritt
den Zaum des Gesetzes fühlen. Um dies zu erreichen, schrieb man zahllose
Einzelvorschriften, 19200 Paragraphen, zusammen -- die vielbesprochene "Ka¬
suistik" des Landrechts. Diese Kasuistik ist aber nicht an sich das Schädliche;
sie ist nur die äußere Erscheinungsform eines tiefern, innern Mangels, des
Mangels an Wissenschaftlichkeit. Und wenn man heute Gesetze gäbe, zwar ohne
Kasuistik, die aber auch des wissenschaftlichen Gedankens entbehrten, so würden
sie nicht besser wirken als das kasuistische Landrecht. Allerdings aber ist die
Durchführung des wissenschaftlichen Gedankens umso schwerer, je mehr der
Gesetzgeber in Einzelvorschriften sich verliert. Und es ist deshalb kein Wunder,
daß aus dem preußischen Landrecht der wissenschaftliche Gedanke nur schwer
herauszufinden ist. Deshalb hat sich auch keine gesunde Jurisprudenz daraus
entwickeln können. Es ist die geisttötende Jurisprudenz daraus entstanden,
welche stets mit dem Buchstaben der unzähligen Paragraphen zu rechnen hat.
Für das übrige Deutschland ist die Schaffung des Landrechts kein Glück ge¬
wesen, weil sich infolge davon die preußische Rechtswissenschaft von der gemeinen
deutscheu getrennt hat, und dadurch die reichen Kräfte jener für diese verloren
gegangen sind.

Man sagt, der Wert der Geschichte liege vorzugsweise darin, daß man
daraus für die Gegenwart etwas lernen könne. Man thut es nur nicht immer.
Jedes Geschlecht blickt voll Mitleid auf die Verirrungen der Vergangenheit,
und -- begeht ähnliche. Vor hundert Jahren glaubte man in dem Offizial-
prinzip des Prozesses den Stein der Weisen gefunden zu haben. Heute glaubt
man denselben in dem "Prinzip der Mündlichkeit" zu besitzen. Dieselbe Über¬
treibung, dieselbe innere Unwahrheit, dasselbe Rechnen mit Menschen, welche
nicht existiren. Ein folgendes Geschlecht wird über dieses Prinzip gerade so
urteilen, wie wir heute über das Offizialprinzip, vorausgesetzt, daß dann noch
eine Jurisprudenz vorhanden ist, welche überhaupt urteilen kann. Ob wir noch
weiter ähnliche Fehler wie vor hundert Jahren begehen werden? Vielleicht


Karl Gottlieb Svarez.

„Prinzip" des Prozesses eine übertriebene und unwahre Anwendung erhalten
hatte.

Betrachtet man das Landrecht, sieht man, welch ungeheurer Fleiß, welche
Fülle von geistiger Kraft und praktischem Gerechtigkeitssinne darin bethätigt
sind, so muß man die Männer, welche dieses kolossale Werk schufen, wahrhaft
liebgewinnen. Und dennoch ist dessen Schöpfung kein Glück gewesen, weder
für Preußen, noch für Deutschland. Auch hier lag, trotz allen redlichen Strebens,
ein verhängnisvoller Irrtum zu gründe. Es war der Irrtum, daß man meinte,
eine gute Rechtsprechung schaffen zu können ohne Rechtswissenschaft. Man glaubte,
das gesamte Recht ließe sich dergestalt im Gesetze verkörpern, daß der Richter
letzteres nur noch mechanisch anzuwenden brauche. So wie der Reiter das un¬
vernünftige Tier, das er reitet, bei jeder Wendung, die es machen soll, den
Zaum im Gebiß fühlen läßt, so sollte auch der Richter bei Schritt und Tritt
den Zaum des Gesetzes fühlen. Um dies zu erreichen, schrieb man zahllose
Einzelvorschriften, 19200 Paragraphen, zusammen — die vielbesprochene „Ka¬
suistik" des Landrechts. Diese Kasuistik ist aber nicht an sich das Schädliche;
sie ist nur die äußere Erscheinungsform eines tiefern, innern Mangels, des
Mangels an Wissenschaftlichkeit. Und wenn man heute Gesetze gäbe, zwar ohne
Kasuistik, die aber auch des wissenschaftlichen Gedankens entbehrten, so würden
sie nicht besser wirken als das kasuistische Landrecht. Allerdings aber ist die
Durchführung des wissenschaftlichen Gedankens umso schwerer, je mehr der
Gesetzgeber in Einzelvorschriften sich verliert. Und es ist deshalb kein Wunder,
daß aus dem preußischen Landrecht der wissenschaftliche Gedanke nur schwer
herauszufinden ist. Deshalb hat sich auch keine gesunde Jurisprudenz daraus
entwickeln können. Es ist die geisttötende Jurisprudenz daraus entstanden,
welche stets mit dem Buchstaben der unzähligen Paragraphen zu rechnen hat.
Für das übrige Deutschland ist die Schaffung des Landrechts kein Glück ge¬
wesen, weil sich infolge davon die preußische Rechtswissenschaft von der gemeinen
deutscheu getrennt hat, und dadurch die reichen Kräfte jener für diese verloren
gegangen sind.

Man sagt, der Wert der Geschichte liege vorzugsweise darin, daß man
daraus für die Gegenwart etwas lernen könne. Man thut es nur nicht immer.
Jedes Geschlecht blickt voll Mitleid auf die Verirrungen der Vergangenheit,
und — begeht ähnliche. Vor hundert Jahren glaubte man in dem Offizial-
prinzip des Prozesses den Stein der Weisen gefunden zu haben. Heute glaubt
man denselben in dem „Prinzip der Mündlichkeit" zu besitzen. Dieselbe Über¬
treibung, dieselbe innere Unwahrheit, dasselbe Rechnen mit Menschen, welche
nicht existiren. Ein folgendes Geschlecht wird über dieses Prinzip gerade so
urteilen, wie wir heute über das Offizialprinzip, vorausgesetzt, daß dann noch
eine Jurisprudenz vorhanden ist, welche überhaupt urteilen kann. Ob wir noch
weiter ähnliche Fehler wie vor hundert Jahren begehen werden? Vielleicht


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[0681] Karl Gottlieb Svarez. „Prinzip" des Prozesses eine übertriebene und unwahre Anwendung erhalten hatte. Betrachtet man das Landrecht, sieht man, welch ungeheurer Fleiß, welche Fülle von geistiger Kraft und praktischem Gerechtigkeitssinne darin bethätigt sind, so muß man die Männer, welche dieses kolossale Werk schufen, wahrhaft liebgewinnen. Und dennoch ist dessen Schöpfung kein Glück gewesen, weder für Preußen, noch für Deutschland. Auch hier lag, trotz allen redlichen Strebens, ein verhängnisvoller Irrtum zu gründe. Es war der Irrtum, daß man meinte, eine gute Rechtsprechung schaffen zu können ohne Rechtswissenschaft. Man glaubte, das gesamte Recht ließe sich dergestalt im Gesetze verkörpern, daß der Richter letzteres nur noch mechanisch anzuwenden brauche. So wie der Reiter das un¬ vernünftige Tier, das er reitet, bei jeder Wendung, die es machen soll, den Zaum im Gebiß fühlen läßt, so sollte auch der Richter bei Schritt und Tritt den Zaum des Gesetzes fühlen. Um dies zu erreichen, schrieb man zahllose Einzelvorschriften, 19200 Paragraphen, zusammen — die vielbesprochene „Ka¬ suistik" des Landrechts. Diese Kasuistik ist aber nicht an sich das Schädliche; sie ist nur die äußere Erscheinungsform eines tiefern, innern Mangels, des Mangels an Wissenschaftlichkeit. Und wenn man heute Gesetze gäbe, zwar ohne Kasuistik, die aber auch des wissenschaftlichen Gedankens entbehrten, so würden sie nicht besser wirken als das kasuistische Landrecht. Allerdings aber ist die Durchführung des wissenschaftlichen Gedankens umso schwerer, je mehr der Gesetzgeber in Einzelvorschriften sich verliert. Und es ist deshalb kein Wunder, daß aus dem preußischen Landrecht der wissenschaftliche Gedanke nur schwer herauszufinden ist. Deshalb hat sich auch keine gesunde Jurisprudenz daraus entwickeln können. Es ist die geisttötende Jurisprudenz daraus entstanden, welche stets mit dem Buchstaben der unzähligen Paragraphen zu rechnen hat. Für das übrige Deutschland ist die Schaffung des Landrechts kein Glück ge¬ wesen, weil sich infolge davon die preußische Rechtswissenschaft von der gemeinen deutscheu getrennt hat, und dadurch die reichen Kräfte jener für diese verloren gegangen sind. Man sagt, der Wert der Geschichte liege vorzugsweise darin, daß man daraus für die Gegenwart etwas lernen könne. Man thut es nur nicht immer. Jedes Geschlecht blickt voll Mitleid auf die Verirrungen der Vergangenheit, und — begeht ähnliche. Vor hundert Jahren glaubte man in dem Offizial- prinzip des Prozesses den Stein der Weisen gefunden zu haben. Heute glaubt man denselben in dem „Prinzip der Mündlichkeit" zu besitzen. Dieselbe Über¬ treibung, dieselbe innere Unwahrheit, dasselbe Rechnen mit Menschen, welche nicht existiren. Ein folgendes Geschlecht wird über dieses Prinzip gerade so urteilen, wie wir heute über das Offizialprinzip, vorausgesetzt, daß dann noch eine Jurisprudenz vorhanden ist, welche überhaupt urteilen kann. Ob wir noch weiter ähnliche Fehler wie vor hundert Jahren begehen werden? Vielleicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/681>, abgerufen am 22.05.2024.