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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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politisches Kapital schlagen kann. Sie wird sich diese Gelegenheit nicht ent¬
gehen lassen.

Sachlich erscheint uns die Verfügung ganz gerechtfertigt. Wenn die Han¬
dels- und Gewerbckammern ihren Zweck wirklich erfüllen sollen, die Interessen
bestimmter Berufsklassen wahrzunehmen und bei Behandlung einschlägiger Fragen
mit ihrer speziellen Sachkenntnis und Erfahrung den Faktoren der Gesetzgebung
und der Verwaltung an die Hand zu gehen, so genügt es keineswegs, daß die
verschiednen Berufsklassen in den Wahlkörpern vertreten sind. Allerdings hat
sich der Gebrauch ausgebildet, von diesem naturgemäßen Verhältnis abzusehen.
Im Gewerbestande sind die Männer stets weniger zahlreich, welche Zeit und
Arbeitskraft der gemeinsamen Sache zur Verfügung stellen wollen und können,
auch besteht da häufiger die Scheu, im Kreise mehr redegeübter Personen un¬
befangen von der Leber weg zu sprechen, und so fallen denn die Stimmen der
Gewerbsleute sehr gewöhnlich den Bewerbern aus dem Kaufmanns- und Fa¬
brikantenstande zu. Allein das ist unzweifelhaft ein Mißbrauch, und sein Alter
macht ihn nicht ehrwürdig. Nur hätte man bei dessen Abstellung nicht zu einer
höchst künstlichen Interpretation des Gesetzes seine Zuflucht nehmen, sondern
einfach das Widersinnige darlegen sollen. Das Schlimme bei der ganzen Sache
ist jedoch, daß der angeblich vom 22. November stammende Ministerialerlaß
einen vollen Monat geheimgehalten, wenn nicht gar einseitig mitgeteilt worden
ist. Da nämlich die Tschechen in Brünn wirklich "aus" den verschiednen Ka¬
tegorien gewählt haben, ist der Verdacht entstanden, daß sie unterrichtet gewesen
seien. Und wenn auch nicht: die Thatsache, daß man die Deutschen wählen
ließ in dem Glanben, der bisherige Usus gelte noch, bleibt in ihrer ganzen Hä߬
lichkeit bestehen. Wenn jetzt die Wahlen nach der neuen Ordnung vorgenommen
werden, kann das Zahlenverhältnis möglicherweise etwas verschoben werden,
weil in dem Handwerkerstande das tschechische Element stark vertreten ist; aber
eine tschechische Mehrheit kann sich niemals ergeben, eine solche war nur auf
dem Wege der Überrumpelung zu erlangen, wie sie in etwas andrer Weise,
aber mit demselben Endresultat schon ebendort vor nicht langer Zeit bei den
Wahlen des Großgrundbesitzes versucht worden war.

Mähren hat eine gemischte Bevölkerung, aber nicht bloß der Mittelstand
ist dort wie in Böhmen deutsch, die Deutschen haben auch der Bevölkerungs¬
ziffer nach das absolute Übergewicht, obgleich seit zwanzig Jahren mit äußerster
Energie an der Tschechisirung gearbeitet wird. Deshalb ist Mähren für die
slavische Partei ein Schmerzenskind, und der jetzige Statthalter Graf Schön¬
born, der Abkömmling eines alten rheinischen Geschlechtes, von welchem erst vor
ungefähr hundertundfunfzig Jahren ein Zweig nach Österreich verpflanzt worden
ist, scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, den Herzenswunsch der Grafen
Clam-Martinitz, Belcredi u. s. w. zu stillen. Dabei übersieht er augenscheinlich,
daß er nicht bloß die Partei, welche in Opposition zur Negierung steht, sondern


Aus Ksterreich.

politisches Kapital schlagen kann. Sie wird sich diese Gelegenheit nicht ent¬
gehen lassen.

Sachlich erscheint uns die Verfügung ganz gerechtfertigt. Wenn die Han¬
dels- und Gewerbckammern ihren Zweck wirklich erfüllen sollen, die Interessen
bestimmter Berufsklassen wahrzunehmen und bei Behandlung einschlägiger Fragen
mit ihrer speziellen Sachkenntnis und Erfahrung den Faktoren der Gesetzgebung
und der Verwaltung an die Hand zu gehen, so genügt es keineswegs, daß die
verschiednen Berufsklassen in den Wahlkörpern vertreten sind. Allerdings hat
sich der Gebrauch ausgebildet, von diesem naturgemäßen Verhältnis abzusehen.
Im Gewerbestande sind die Männer stets weniger zahlreich, welche Zeit und
Arbeitskraft der gemeinsamen Sache zur Verfügung stellen wollen und können,
auch besteht da häufiger die Scheu, im Kreise mehr redegeübter Personen un¬
befangen von der Leber weg zu sprechen, und so fallen denn die Stimmen der
Gewerbsleute sehr gewöhnlich den Bewerbern aus dem Kaufmanns- und Fa¬
brikantenstande zu. Allein das ist unzweifelhaft ein Mißbrauch, und sein Alter
macht ihn nicht ehrwürdig. Nur hätte man bei dessen Abstellung nicht zu einer
höchst künstlichen Interpretation des Gesetzes seine Zuflucht nehmen, sondern
einfach das Widersinnige darlegen sollen. Das Schlimme bei der ganzen Sache
ist jedoch, daß der angeblich vom 22. November stammende Ministerialerlaß
einen vollen Monat geheimgehalten, wenn nicht gar einseitig mitgeteilt worden
ist. Da nämlich die Tschechen in Brünn wirklich „aus" den verschiednen Ka¬
tegorien gewählt haben, ist der Verdacht entstanden, daß sie unterrichtet gewesen
seien. Und wenn auch nicht: die Thatsache, daß man die Deutschen wählen
ließ in dem Glanben, der bisherige Usus gelte noch, bleibt in ihrer ganzen Hä߬
lichkeit bestehen. Wenn jetzt die Wahlen nach der neuen Ordnung vorgenommen
werden, kann das Zahlenverhältnis möglicherweise etwas verschoben werden,
weil in dem Handwerkerstande das tschechische Element stark vertreten ist; aber
eine tschechische Mehrheit kann sich niemals ergeben, eine solche war nur auf
dem Wege der Überrumpelung zu erlangen, wie sie in etwas andrer Weise,
aber mit demselben Endresultat schon ebendort vor nicht langer Zeit bei den
Wahlen des Großgrundbesitzes versucht worden war.

Mähren hat eine gemischte Bevölkerung, aber nicht bloß der Mittelstand
ist dort wie in Böhmen deutsch, die Deutschen haben auch der Bevölkerungs¬
ziffer nach das absolute Übergewicht, obgleich seit zwanzig Jahren mit äußerster
Energie an der Tschechisirung gearbeitet wird. Deshalb ist Mähren für die
slavische Partei ein Schmerzenskind, und der jetzige Statthalter Graf Schön¬
born, der Abkömmling eines alten rheinischen Geschlechtes, von welchem erst vor
ungefähr hundertundfunfzig Jahren ein Zweig nach Österreich verpflanzt worden
ist, scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, den Herzenswunsch der Grafen
Clam-Martinitz, Belcredi u. s. w. zu stillen. Dabei übersieht er augenscheinlich,
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[0070] Aus Ksterreich. politisches Kapital schlagen kann. Sie wird sich diese Gelegenheit nicht ent¬ gehen lassen. Sachlich erscheint uns die Verfügung ganz gerechtfertigt. Wenn die Han¬ dels- und Gewerbckammern ihren Zweck wirklich erfüllen sollen, die Interessen bestimmter Berufsklassen wahrzunehmen und bei Behandlung einschlägiger Fragen mit ihrer speziellen Sachkenntnis und Erfahrung den Faktoren der Gesetzgebung und der Verwaltung an die Hand zu gehen, so genügt es keineswegs, daß die verschiednen Berufsklassen in den Wahlkörpern vertreten sind. Allerdings hat sich der Gebrauch ausgebildet, von diesem naturgemäßen Verhältnis abzusehen. Im Gewerbestande sind die Männer stets weniger zahlreich, welche Zeit und Arbeitskraft der gemeinsamen Sache zur Verfügung stellen wollen und können, auch besteht da häufiger die Scheu, im Kreise mehr redegeübter Personen un¬ befangen von der Leber weg zu sprechen, und so fallen denn die Stimmen der Gewerbsleute sehr gewöhnlich den Bewerbern aus dem Kaufmanns- und Fa¬ brikantenstande zu. Allein das ist unzweifelhaft ein Mißbrauch, und sein Alter macht ihn nicht ehrwürdig. Nur hätte man bei dessen Abstellung nicht zu einer höchst künstlichen Interpretation des Gesetzes seine Zuflucht nehmen, sondern einfach das Widersinnige darlegen sollen. Das Schlimme bei der ganzen Sache ist jedoch, daß der angeblich vom 22. November stammende Ministerialerlaß einen vollen Monat geheimgehalten, wenn nicht gar einseitig mitgeteilt worden ist. Da nämlich die Tschechen in Brünn wirklich „aus" den verschiednen Ka¬ tegorien gewählt haben, ist der Verdacht entstanden, daß sie unterrichtet gewesen seien. Und wenn auch nicht: die Thatsache, daß man die Deutschen wählen ließ in dem Glanben, der bisherige Usus gelte noch, bleibt in ihrer ganzen Hä߬ lichkeit bestehen. Wenn jetzt die Wahlen nach der neuen Ordnung vorgenommen werden, kann das Zahlenverhältnis möglicherweise etwas verschoben werden, weil in dem Handwerkerstande das tschechische Element stark vertreten ist; aber eine tschechische Mehrheit kann sich niemals ergeben, eine solche war nur auf dem Wege der Überrumpelung zu erlangen, wie sie in etwas andrer Weise, aber mit demselben Endresultat schon ebendort vor nicht langer Zeit bei den Wahlen des Großgrundbesitzes versucht worden war. Mähren hat eine gemischte Bevölkerung, aber nicht bloß der Mittelstand ist dort wie in Böhmen deutsch, die Deutschen haben auch der Bevölkerungs¬ ziffer nach das absolute Übergewicht, obgleich seit zwanzig Jahren mit äußerster Energie an der Tschechisirung gearbeitet wird. Deshalb ist Mähren für die slavische Partei ein Schmerzenskind, und der jetzige Statthalter Graf Schön¬ born, der Abkömmling eines alten rheinischen Geschlechtes, von welchem erst vor ungefähr hundertundfunfzig Jahren ein Zweig nach Österreich verpflanzt worden ist, scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, den Herzenswunsch der Grafen Clam-Martinitz, Belcredi u. s. w. zu stillen. Dabei übersieht er augenscheinlich, daß er nicht bloß die Partei, welche in Opposition zur Negierung steht, sondern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/70>, abgerufen am 22.05.2024.