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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Bismarcks Geburtstag in Newyork.

überall mit Lust herausgeklaubt und breitgetreten; die Liste in Deutschland be¬
gangener Verbrechen ist nirgends erschöpfender und ausführlicher zu finden,
Alles Gebotene ist vorher gerollt in jenem Phrasenbrci, der uns nun schon
seit Jahrzehnten Übelkeiten verursacht: vou der Polizeiwirtschaft und der Ty¬
rannenwillkür, der geknebelten Presse und der geknechtete!? öffentlichen Meinung,
von dem preußischen Lcmdratc, der den fleißigen Arbeiter am Erwerb von
Grundeigentum verhindert, von der Regierung, die lähmend auf die "Verhält¬
nisse" wirkt, und weiß Gott was! Nachrichten wie die, daß ein armer Land¬
wehrmann, der sich behufs Dispensirung von der Kontrolversammlung in einem
Jmmediatgesuch an den Kaiser gewendet, "schon wieder" (der Ärmste!) zu neun
Jahren Zuchthaus verurteilt worden, werden mit dreister Stirne aufgetischt und
verursachen bei allen Wohlgesinnten eine Gänsehaut.

Wer die "Newyorker Staatszeitung" kritiklos liest, und ohne es vielleicht zu
wollen und zu merken, die hier gebotenen Anschauungen in sich aufnimmt, ist
in wenigen Jahren der Überzeugung, daß Deutschland ein überaus unglückliches
Land sei, das nnter dem Druck unerhörter Steuern beinahe erliegend, nach
Freiheit schmachtend und für ewig von willkürlichen und eigennützigen Macht¬
habern in Fesseln geschlagen, ein wahrer Orkus für unabhängige Münnerscelcn
sei; daß jeder Unterthan gewohnheitsmäßig mehrere Stunden des Tages an
der Kette liege; daß niemand laut zu denken wage; daß die sogenannten Volks¬
vertreter mit Ausnahme der Deutsch-Freisinnigen ein niedriges Gesindel seien,
welches sich gelegentlich unter einander prügle; daß in keinem Lande der Welt
die Moral tieferstehe, die Unsicherheit des Individuums größer, die Verbrechen
häufiger seien.

Zum Belege, mit welcher Gewissenhaftigkeit die "Staatszeitung" ihre 60- bis
70000 Abonnenten über die Zustünde in der Heimat zu belehren sucht, kommen
häufige Korrespondenzen aus Berlin, die, augenscheinlich im Zentralbürean einer
gewissen Partei auf Bestellung angefertigt, alles Gift und alle Galle verspritzen,
die man daheim hat zurückhalten müssen, weil das Publikum nicht mehr so
willig wie früher diese Kost schlucken will. Aus diesen Berichten geht zur
Evidenz hervor, daß unsre Kolvuialunteruehmungen ein frevelhaftes und ge¬
wissenloses Spiel mit den besten Interessen unsers Volkes sind, daß die ganze
Zollgesetzgebung nur dazu geschaffen ist, um ein Paar Großgrundbesitzer zu be¬
reichern, daß die soziale Frage niemals von einer Monarchie gelöst werden
kann, daß die Weltanschauung des Herrn Eugen Richter um mehrere Türme
höher steht als die des Reichskanzlers, und daß die Politik des letztem im
großen Ganzen überaus stümperhaft ist.

Es wäre nun fehlgegriffen, wollte man annehmen, daß diesen so heftigen
Ausfällen des erwähnten Blattes irgend etwas zu gründe lüge, was man ent¬
fernt eine nationale Gesinnung nennen könnte. Der Wind weht hier aus einer
ganz andern Richtung. Obwohl freudig winselnd bei einem gelegentlichen herab-


Grcnzbotcn II. 183S. 8?
Bismarcks Geburtstag in Newyork.

überall mit Lust herausgeklaubt und breitgetreten; die Liste in Deutschland be¬
gangener Verbrechen ist nirgends erschöpfender und ausführlicher zu finden,
Alles Gebotene ist vorher gerollt in jenem Phrasenbrci, der uns nun schon
seit Jahrzehnten Übelkeiten verursacht: vou der Polizeiwirtschaft und der Ty¬
rannenwillkür, der geknebelten Presse und der geknechtete!? öffentlichen Meinung,
von dem preußischen Lcmdratc, der den fleißigen Arbeiter am Erwerb von
Grundeigentum verhindert, von der Regierung, die lähmend auf die „Verhält¬
nisse" wirkt, und weiß Gott was! Nachrichten wie die, daß ein armer Land¬
wehrmann, der sich behufs Dispensirung von der Kontrolversammlung in einem
Jmmediatgesuch an den Kaiser gewendet, „schon wieder" (der Ärmste!) zu neun
Jahren Zuchthaus verurteilt worden, werden mit dreister Stirne aufgetischt und
verursachen bei allen Wohlgesinnten eine Gänsehaut.

Wer die „Newyorker Staatszeitung" kritiklos liest, und ohne es vielleicht zu
wollen und zu merken, die hier gebotenen Anschauungen in sich aufnimmt, ist
in wenigen Jahren der Überzeugung, daß Deutschland ein überaus unglückliches
Land sei, das nnter dem Druck unerhörter Steuern beinahe erliegend, nach
Freiheit schmachtend und für ewig von willkürlichen und eigennützigen Macht¬
habern in Fesseln geschlagen, ein wahrer Orkus für unabhängige Münnerscelcn
sei; daß jeder Unterthan gewohnheitsmäßig mehrere Stunden des Tages an
der Kette liege; daß niemand laut zu denken wage; daß die sogenannten Volks¬
vertreter mit Ausnahme der Deutsch-Freisinnigen ein niedriges Gesindel seien,
welches sich gelegentlich unter einander prügle; daß in keinem Lande der Welt
die Moral tieferstehe, die Unsicherheit des Individuums größer, die Verbrechen
häufiger seien.

Zum Belege, mit welcher Gewissenhaftigkeit die „Staatszeitung" ihre 60- bis
70000 Abonnenten über die Zustünde in der Heimat zu belehren sucht, kommen
häufige Korrespondenzen aus Berlin, die, augenscheinlich im Zentralbürean einer
gewissen Partei auf Bestellung angefertigt, alles Gift und alle Galle verspritzen,
die man daheim hat zurückhalten müssen, weil das Publikum nicht mehr so
willig wie früher diese Kost schlucken will. Aus diesen Berichten geht zur
Evidenz hervor, daß unsre Kolvuialunteruehmungen ein frevelhaftes und ge¬
wissenloses Spiel mit den besten Interessen unsers Volkes sind, daß die ganze
Zollgesetzgebung nur dazu geschaffen ist, um ein Paar Großgrundbesitzer zu be¬
reichern, daß die soziale Frage niemals von einer Monarchie gelöst werden
kann, daß die Weltanschauung des Herrn Eugen Richter um mehrere Türme
höher steht als die des Reichskanzlers, und daß die Politik des letztem im
großen Ganzen überaus stümperhaft ist.

Es wäre nun fehlgegriffen, wollte man annehmen, daß diesen so heftigen
Ausfällen des erwähnten Blattes irgend etwas zu gründe lüge, was man ent¬
fernt eine nationale Gesinnung nennen könnte. Der Wind weht hier aus einer
ganz andern Richtung. Obwohl freudig winselnd bei einem gelegentlichen herab-


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[0262] Bismarcks Geburtstag in Newyork. überall mit Lust herausgeklaubt und breitgetreten; die Liste in Deutschland be¬ gangener Verbrechen ist nirgends erschöpfender und ausführlicher zu finden, Alles Gebotene ist vorher gerollt in jenem Phrasenbrci, der uns nun schon seit Jahrzehnten Übelkeiten verursacht: vou der Polizeiwirtschaft und der Ty¬ rannenwillkür, der geknebelten Presse und der geknechtete!? öffentlichen Meinung, von dem preußischen Lcmdratc, der den fleißigen Arbeiter am Erwerb von Grundeigentum verhindert, von der Regierung, die lähmend auf die „Verhält¬ nisse" wirkt, und weiß Gott was! Nachrichten wie die, daß ein armer Land¬ wehrmann, der sich behufs Dispensirung von der Kontrolversammlung in einem Jmmediatgesuch an den Kaiser gewendet, „schon wieder" (der Ärmste!) zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt worden, werden mit dreister Stirne aufgetischt und verursachen bei allen Wohlgesinnten eine Gänsehaut. Wer die „Newyorker Staatszeitung" kritiklos liest, und ohne es vielleicht zu wollen und zu merken, die hier gebotenen Anschauungen in sich aufnimmt, ist in wenigen Jahren der Überzeugung, daß Deutschland ein überaus unglückliches Land sei, das nnter dem Druck unerhörter Steuern beinahe erliegend, nach Freiheit schmachtend und für ewig von willkürlichen und eigennützigen Macht¬ habern in Fesseln geschlagen, ein wahrer Orkus für unabhängige Münnerscelcn sei; daß jeder Unterthan gewohnheitsmäßig mehrere Stunden des Tages an der Kette liege; daß niemand laut zu denken wage; daß die sogenannten Volks¬ vertreter mit Ausnahme der Deutsch-Freisinnigen ein niedriges Gesindel seien, welches sich gelegentlich unter einander prügle; daß in keinem Lande der Welt die Moral tieferstehe, die Unsicherheit des Individuums größer, die Verbrechen häufiger seien. Zum Belege, mit welcher Gewissenhaftigkeit die „Staatszeitung" ihre 60- bis 70000 Abonnenten über die Zustünde in der Heimat zu belehren sucht, kommen häufige Korrespondenzen aus Berlin, die, augenscheinlich im Zentralbürean einer gewissen Partei auf Bestellung angefertigt, alles Gift und alle Galle verspritzen, die man daheim hat zurückhalten müssen, weil das Publikum nicht mehr so willig wie früher diese Kost schlucken will. Aus diesen Berichten geht zur Evidenz hervor, daß unsre Kolvuialunteruehmungen ein frevelhaftes und ge¬ wissenloses Spiel mit den besten Interessen unsers Volkes sind, daß die ganze Zollgesetzgebung nur dazu geschaffen ist, um ein Paar Großgrundbesitzer zu be¬ reichern, daß die soziale Frage niemals von einer Monarchie gelöst werden kann, daß die Weltanschauung des Herrn Eugen Richter um mehrere Türme höher steht als die des Reichskanzlers, und daß die Politik des letztem im großen Ganzen überaus stümperhaft ist. Es wäre nun fehlgegriffen, wollte man annehmen, daß diesen so heftigen Ausfällen des erwähnten Blattes irgend etwas zu gründe lüge, was man ent¬ fernt eine nationale Gesinnung nennen könnte. Der Wind weht hier aus einer ganz andern Richtung. Obwohl freudig winselnd bei einem gelegentlichen herab- Grcnzbotcn II. 183S. 8?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/262>, abgerufen am 22.05.2024.